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Judensonderzug Nr.76




Zeitgeschichte
Ein letzter Rest von Würde

Die DER Touristik Group hat die Geschichte des Unternehmens in der NS-Zeit untersuchen lassen – das Ergebnis aber nicht veröffentlicht. Offenbar verdiente die Reisebürokette Millionen an der Deportation von Juden in die Konzentrationslager.

Ho­lo­caust-Über­le­ben­de Grinspan 2015 mit Fo­tos vor und nach der De­por­ta­ti­on





Am 10. Fe­bru­ar 1944 ver­ließ ein mit 1500 Ju­den be­setz­ter Gü­ter­zug den Pa­ri­ser Vor­ort­bahn­hof Bo­b­i­gny Rich­tung Ausch­witz. Un­ter den De­por­tier­ten be­fand sich auch die 14-jäh­ri­ge Ida Fens­ters­z­ab. Nach Kriegs­en­de ge­hör­te sie zu den we­ni­gen Über­le­ben­den. Un­ter ih­rem ehe­li­chen Na­men Ida Grinspan be­rich­te­te sie spä­ter von der Rei­se im Gü­ter­wag­gon:

Nur ein klei­nes Git­ter ließ Ta­ges­licht in den Wa­gen. Wir konn­ten auf dem mit et­was Stroh be­leg­ten Bo­den kaum sit­zen, ge­schwei­ge denn lie­gen. Dazu ein stän­di­ger Krach, das Keu­chen der Lo­ko­mo­ti­ve, Ruß aus dem Schorn­stein und das Wim­mern der Rei­sen­den. Für je­den Pas­sa­gier nur ei­nen Brot­kan­ten. Und dann die­ser Ge­stank! Die ers­te Er­nied­ri­gung, die wir er­tra­gen muss­ten, war, dass man sich vor den Au­gen al­ler ent­lee­ren muss­te. Die Er­wach­se­nen hiel­ten Män­tel um ei­nen her­um, dass we­nigs­tens der letz­te Rest von Wür­de ge­wahrt blieb. Der da­für vor­ge­se­he­ne Be­häl­ter lief schnell über, der In­halt ver­teil­te sich auf dem Stroh. Der Ge­ruch war un­er­träg­lich.

Nach der An­kunft in Ausch­witz schick­te man Ida Fens­ters­z­ab nicht ins Gas, son­dern zur Zwangs­ar­beit. Ein Foto zeigt sie mit ge­scho­re­nen Haa­ren, ver­un­stal­tet und ver­ängs­tigt, kurz nach der Be­frei­ung in Frank­reich.

Ge­bucht hat­te den Trans­port vom 10. Fe­bru­ar ein Un­ter­neh­men, des­sen Name heu­te fast ver­ges­sen ist, das Mit­tel­eu­ro­päi­sche Rei­se­bü­ro (MER). In den Ster­be­bü­chern von Ausch­witz fin­den sich Ko­pi­en der Kor­re­spon­denz zu die­sem Zug. Die Pa­ri­ser MER-Fi­lia­le hat­te ihre Rech­nun­gen noch am Tag der Ab­rei­se an den Be­fehls­ha­ber der Si­cher­heits­po­li­zei in Pa­ris ge­schickt. Für die Fahrt bis zur deut­schen Gren­ze kal­ku­lier­te man 169 364 Franc, für die Stre­cke bis Ausch­witz 39 000 Reichs­mark. Die Do­ku­men­te soll­ten an das Reichs­si­cher­heits­haupt­amt in Ber­lin wei­ter­ge­lei­tet wer­den, an die Ter­ror­zen­tra­le des »Drit­ten Rei­ches«.

Das Un­ter­neh­men war 1917 un­ter dem Na­men Deut­sches Rei­se­bü­ro von zwei gro­ßen Ree­de­rei­en so­wie den Staats­bah­nen der deut­schen Län­der ge­grün­det wor­den, seit 1918 trug es den Na­men Mit­tel­eu­ro­päi­sches Rei­se­bü­ro. Es ver­kauf­te vor al­lem Bahn­fahr­kar­ten und spä­ter auch Grup­pen­rei­sen. Auf An­ord­nung der Al­li­ier­ten muss­te das MER 1946 wie­der den Na­men Deut­sches Rei­se­bü­ro an­neh­men.
Ge­denk­stät­te Ausch­witz

Im Jahr 2000 über­nahm der Rewe-Kon­zern das Deut­sche Rei­se­bü­ro und mach­te es zu ei­nem Teil sei­ner Rei­se­spar­te, die heu­te un­ter dem Na­men DER Tou­ris­tik Group mit mehr als 10 000 Mit­ar­bei­tern ei­nen Jah­res­um­satz von 6,7 Mil­li­ar­den Euro er­zielt. In den Selbst­dar­stel­lun­gen des Un­ter­neh­mens taucht das dunk­le Ka­pi­tel aus der NS-Zeit frei­lich nir­gends auf, noch 2002 hieß es in ei­ner Pres­se­mit­tei­lung zum 85. Ge­burts­tag: »Mit Be­ginn des Zwei­ten Welt­krie­ges ver­siegt der or­ga­ni­sier­te Rei­se­ver­kehr.«

Dass das nicht stimm­te, war nur Ex­per­ten klar. Der Ber­li­ner His­to­ri­ker Bernd Sam­ba­le etwa ver­öf­fent­lich­te im Ja­nu­ar 2013 ei­nen gründ­lich re­cher­chier­ten Ar­ti­kel in der »Ber­li­ner Zei­tung« über die Rol­le des MER im Na­tio­nal­so­zia­lis­mus; we­nig spä­ter stell­te der Ham­bur­ger Au­tor Pe­ter Wutt­ke das Fak­si­mi­le ei­nes Te­le­gramms auf die Wi­ki­pe­dia-Sei­te des Deut­schen Rei­se­bü­ros, mit dem die Ber­li­ner Reichs­bahn­zen­tra­le 1942 alle Reichs­bahn­di­rek­tio­nen an­ge­wie­sen hat­te, die »Ab­fer­ti­gung« der »Ju­den-Son­der­zü­ge« grund­sätz­lich dem MER zu über­las­sen.

Un­ter den Mit­ar­bei­tern der DER Tou­ris­tik lös­ten sol­che Ver­öf­fent­li­chun­gen ver­ständ­li­cher­wei­se Ir­ri­ta­tio­nen aus. Und so ent­schloss sich das Un­ter­neh­men, zum 100. Fir­men­ju­bi­lä­um 2017 eine his­to­ri­sche Stu­die an­fer­ti­gen zu las­sen, die auch die Ver­stri­ckung des MER in die NS-Ver­bre­chen auf­klä­ren soll­te. Das Köl­ner Ge­schichts­bü­ro Re­der, Roese­ling & Prü­fer, eine pri­va­te, von His­to­ri­kern ge­führ­te Agen­tur, über­nahm den Auf­trag und leg­te eine um­fas­sen­de Un­ter­su­chung vor.

Ver­öf­fent­licht wur­de die Stu­die al­ler­dings bis heu­te nicht. »Trotz in­ten­si­ver Re­cher­chen«, so er­klärt die DER Tou­ris­tik auf An­fra­ge, »sah das Ge­schichts­bü­ro die Quel­len­la­ge zur Rol­le des MER bei den De­por­ta­tio­nen als sehr schmal an.« Es sei des­we­gen un­mög­lich ge­we­sen, eine »kon­kre­te Be­tei­li­gung zu un­ter­su­chen«. Eine Ver­öf­fent­li­chung habe man nie ge­plant. Die Stu­die habe nur der »Selbst­ver­ge­wis­se­rung« des Un­ter­neh­mens ge­dient.

Die DER Tou­ris­tik ist nicht das ers­te Un­ter­neh­men, das sei­ne Un­ter­neh­mens­ge­schich­te in der NS-Zeit un­ter­su­chen lässt. Daim­ler-Benz hat das schon in den Acht­zi­ger­jah­ren ge­macht; auch die Deut­sche Bank, Volks­wa­gen, die Deut­sche Bahn und vie­le an­de­re Fir­men ha­ben His­to­ri­ker mit ähn­li­chen Stu­di­en be­auf­tragt und die­se dann ver­öf­fent­licht. Dass eine sol­che Un­ter­su­chung am Ende im Safe ver­schwin­det, kommt eher sel­ten vor.

Mindestens acht Passagiere
hatten sich vor der Abfahrt nach
Theresienstadt selbst getötet.

Da­bei dür­fen Ma­na­ger, die of­fen mit den Sün­den ih­rer Vor­vor­gän­ger um­ge­hen, heu­te so­gar mit ei­nem ge­wis­sen Re­pu­ta­ti­ons­ge­winn rech­nen, sie scha­den dem An­se­hen ih­rer Fir­men kei­nes­wegs. Bald 75 Jah­re nach Kriegs­en­de trägt nie­mand mehr eine per­sön­li­che Ver­ant­wor­tung für das, was da­mals ge­schah.

Im Köl­ner Ge­schichts­bü­ro scheint man denn auch nicht glück­lich mit dem Pro­ze­de­re der DER Tou­ris­tik zu sein. »Wir ha­ben kei­nen Ein­fluss dar­auf, was der Kun­de mit un­se­rer Ar­beit macht«, sagt Tho­mas Prü­fer, ei­ner der drei Ge­schäfts­füh­rer. Man sei nur ein »pri­va­ter Dienst­leis­ter«. Auf die Fra­ge, ob ein so re­strik­ti­ver Um­gang mit der Wahr­heit mit sei­nem Be­rufs­ethos als His­to­ri­ker ver­ein­bar sei, räumt er je­doch ein: »Wenn ich jetzt an der Uni wäre, hät­te ich ein Pro­blem.«

Die DER Tou­ris­tik wie­der­um muss sich fra­gen las­sen, ob eine sol­che Stu­die wirk­lich als Pri­vat­be­sitz ei­nes Un­ter­neh­mens gel­ten kann – ju­ris­tisch wohl schon, aber auch po­li­tisch-mo­ra­lisch? Hat die Öffent­lich­keit kein Recht dar­auf zu er­fah­ren, wie ein Un­ter­neh­men an der Ver­nich­tungs­ma­schi­ne­rie der NS-Zeit be­tei­ligt war?

War­um die DER Tou­ris­tik die Quel­len­la­ge als »schmal« qua­li­fi­ziert, lässt sich oh­ne­hin nicht nach­voll­zie­hen. Das Sün­den­re­gis­ter des MER könn­te di­cke Bü­cher fül­len. Nach der Macht­er­grei­fung der Na­zis mel­de­te man be­reits im Sep­tem­ber 1933 das Aus­schei­den al­ler »nich­ta­ri­schen An­ge­stell­ten«, schon bald durf­te man auch »Kraft durch Freu­de«-Rei­sen für ver­dien­te Volks­ge­nos­sen or­ga­ni­sie­ren. Das Un­ter­neh­men ex­pan­dier­te und zähl­te Mit­te der Drei­ßi­ger­jah­re mehr als 1100 Ver­kaufs­stel­len im In- und Aus­land. 1936 wur­de Frank Hen­sel zum Per­so­nal­chef des MER er­nannt, ein so­ge­nann­ter »al­ter Kämp­fer« der NS­DAP und von 1938 an auch An­ge­hö­ri­ger der SS.

Rich­tig gut ins Ge­schäft kam man dann dank der Er­obe­rungs­po­li­tik der Na­zis. Im Früh­jahr 1939 war das MER am Trans­port von 7900 Zwangs­ar­bei­tern aus dem so­ge­nann­ten Pro­tek­to­rat Böh­men und Mäh­ren be­tei­ligt, wie der His­to­ri­ker Sam­ba­le her­aus­fand. 1940 rech­ne­te das MER al­lein 645 Son­der­zü­ge mit ins­ge­samt 320 000 pol­ni­schen Land­ar­bei­tern ab, die zum Ar­beits­ein­satz ins Deut­sche Reich ver­frach­tet wor­den wa­ren.
MER-Do­ku­ment »Sehr schma­le Quel­len­la­ge«?

Ver­dient hat das MER auch an der Ver­trei­bung der Ju­den aus Eu­ro­pa. 1940 un­ter­brei­te­te das Un­ter­neh­men dem Lei­ter der Reichs­zen­tra­le für jü­di­sche Aus­wan­de­rung und spä­te­ren Ho­lo­caust-Or­ga­ni­sa­tor Adolf Eich­mann den Vor­schlag, Emi­gran­ten mit Son­der­zü­gen nach Lis­sa­bon zu schi­cken. Von dort aus ging es per Schiff nach Ame­ri­ka. Der Vor­schlag wur­de an­ge­nom­men, ein »sehr er­trag­rei­ches« Pro­jekt, wie man im MER bald fest­stell­te.

An­de­re Flücht­lin­ge fuh­ren mit der Trans­si­bi­ri­schen Ei­sen­bahn nach Fern­ost. Und wie­der be­sorg­te das MER die nö­ti­gen Ti­ckets. Der Würz­bur­ger Kauf­mann Ja­kob Ro­sen­feld zum Bei­spiel muss­te 1940 zu­sam­men mit sei­ner Ehe­frau Ber­tha sei­ne Hei­mat ver­las­sen. Das MER stellt Ja­kob Ro­sen­feld Fahr­kar­ten bis Yo­ko­ha­ma aus, von dort reis­te man dann wei­ter in die USA. Das Ge­schäft mit den jü­di­schen Emi­gran­ten, so bi­lan­zier­te ein MER-Auf­sichts­rat 1941, habe zu ei­nem »er­heb­li­chen Ge­winn« ge­führt.

Zwangs­ar­bei­ter, Sai­son­ar­bei­ter, Emi­gran­ten – sie alle wa­ren, häu­fig un­frei­wil­lig und ohne es zu wis­sen, Pas­sa­gie­re des MER. Aus Sicht der NS-Re­gie­rung hat­te sich das Un­ter­neh­men da­mit ge­nug Ex­per­ti­se an­ge­eig­net, um es auch an der De­por­ta­ti­on eu­ro­päi­scher Ju­den in die Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger zu be­tei­li­gen.

Wer Clau­de Lanz­manns Do­ku­men­tar­film »Shoah« ge­se­hen hat, wird sich an die Sze­ne er­in­nern, in der der His­to­ri­ker Raul Hil­berg über den Ab­lauf der Trans­por­te in die Ver­nich­tungs­la­ger be­rich­tet. Hil­berg er­klärt ge­nau die Ta­ri­fe, nach de­nen die Züge ab­ge­rech­net wur­den, und bei­läu­fig nennt er auch das da­für ver­ant­wort­li­che Mit­tel­eu­ro­päi­sche Rei­se­bü­ro. »Es be­för­der­te Men­schen in Gas­kam­mern und Ur­lau­ber an ihre be­vor­zug­ten Fe­ri­en­or­te«, sagt Hil­berg mit dem ihm ei­ge­nen Sar­kas­mus.

Am 25. Juli 1942 bei­spiels­wei­se ließ die Ge­sta­po 14 Wag­gons von Düs­sel­dorf nach The­re­si­en­stadt fah­ren. Auf eine ent­spre­chen­de An­fra­ge der MER-Fi­lia­le in Köln hat­te die Ge­sta­po am Tag zu­vor ge­mel­det, dass 700 Ju­den so­wie 16 Wach­leu­te auf den Trans­port ge­hen wür­den. Das MER be­rech­ne­te dar­auf­hin den Preis der 827 Ki­lo­me­ter lan­gen Rei­se auf 16,60 Reichs­mark pro Per­son. Be­zahlt wur­den die Fahrt­kos­ten von der Ab­tei­lung für »Ju­den­an­ge­le­gen­hei­ten« der Düs­sel­dor­fer Ge­sta­po. Tat­säch­lich aber stamm­te das Geld aus kon­fis­zier­ten jü­di­schen Ver­mö­gen.

Nach Ab­zug ei­ner Ver­mitt­lungs­ge­bühr – in der Re­gel etwa fünf Pro­zent – lei­te­te das MER die aus dem Rei­se­ver­kauf er­lös­te Sum­me an die Reichs­bahn wei­ter, die den Zug ge­stellt hat­te. Da der Zug an sechs Wag­gons mit etwa 280 jü­di­schen Pas­sa­gie­ren aus Aa­chen an­ge­kop­pelt wur­de, er­reich­ten am 26. Juli knapp 1000 De­por­tier­te den Bahn­hof The­re­si­en­stadt. Ei­gent­lich soll­te die Zahl so­gar noch hö­her sein, doch min­des­tens 8 Pas­sa­gie­re hat­ten sich vor der Ab­rei­se selbst ge­tö­tet. Ins­ge­samt über­leb­ten nur 61 Men­schen aus die­sem Zug den Ho­lo­caust.

Die Kriegs­jah­re er­wie­sen sich als die bis da­hin bes­ten über­haupt in der Ge­schich­te des MER. Der Um­satz war schon zwi­schen 1932 und 1939 von 140 Mil­lio­nen auf 240 Mil­lio­nen Reichs­mark ge­wach­sen, 1943 aber lag er bei 343 Mil­lio­nen.

Im his­to­ri­schen Rück­blick auf der In­ter­net­sei­te der DER Tou­ris­tik fehlt die NS-Zeit den­noch kom­plett. Auch in den äl­te­ren Selbst­dar­stel­lun­gen des Deut­schen Rei­se­bü­ros wird nur die Zer­stö­rung der MER-Zen­tra­le durch al­li­ier­te Bom­ber im Jahr 1943 er­wähnt.

Ein An­ge­bot des Ber­li­ner His­to­ri­kers Sam­ba­le aus dem Jahr 2006, die Ge­schich­te des MER un­ter dem Na­tio­nal­so­zia­lis­mus auf­zu­ar­bei­ten, wur­de von dem Un­ter­neh­men denn auch ab­ge­lehnt. Die »Auf­ar­bei­tung die­ser Zeit« sei ei­gent­lich Sa­che der Bahn, ant­wor­te­te man da­mals dem His­to­ri­ker, schließ­lich sei die Reichs­bahn einst »Haupt­ge­sell­schaf­ter des MER« ge­we­sen.

Das Deut­sche Rei­se­bü­ro be­tei­lig­te sich auch nicht an der zwi­schen 2001 und 2007 von der deut­schen Wirt­schaft fi­nan­zier­ten Zwangs­ar­bei­ter­stif­tung »Er­in­ne­rung, Ver­ant­wor­tung und Zu­kunft«. Und das, ob­wohl das MER einst Tau­sen­de Zwangs­ar­bei­ter quer durch Eu­ro­pa ver­schickt hat­te. Das Geld üb­ri­gens hät­te die 500 Mil­lio­nen Euro schwe­re »MER-Pen­si­ons­kas­se« spen­die­ren kön­nen; die gibt es un­ter die­sem Na­men noch heu­te.

2018 un­ter­nahm die DER Tou­ris­tik den Ver­such, die un­ter­schied­li­chen Wi­ki­pe­dia-Ein­trä­ge, die über das Deut­sche Rei­se­bü­ro und die DER Tou­ris­tik exis­tie­ren, in ei­ner ge­mein­sa­men Ver­si­on zu­sam­men­zu­fas­sen. Klar war al­len Be­tei­lig­ten, dass man die oh­ne­hin schon sehr kur­ze Pas­sa­ge zur NS-Ge­schich­te nicht lö­schen durf­te und in die ge­mein­sa­me Sei­te über­neh­men muss­te.

Doch in der Wi­ki­pe­dia-Com­mu­ni­ty habe sich schnell Miss­trau­en ge­gen­über den Mo­ti­ven des Un­ter­neh­mens ge­regt, be­rich­tet der Wiki-Au­tor Wutt­ke. Im­mer neue Ver­sio­nen sei­en von di­ver­sen Au­to­ren for­mu­liert wor­den. Am Ende blieb die Sei­te des Deut­schen Rei­se­bü­ros be­ste­hen, mit ei­nem knap­pen Hin­weis auf das Ka­pi­tel von 1933 bis 1945.

Auf der Wi­ki­pe­dia-Sei­te der DER Tou­ris­tik hin­ge­gen ist da­von kei­ne Rede. Die Un­ter­neh­mens­ge­schich­te be­ginnt dort zwar kor­rekt im Jahr 1917. Aber zwi­schen der Grün­dung der ers­ten Toch­ter­ge­sell­schaft in den USA im Jahr 1926 und der an­ge­kün­dig­ten Über­nah­me des Un­ter­neh­mens durch die Rewe-Group 1999 klafft nun eine rie­si­ge Lü­cke.

Martin Doerry - aus: SPIEGEL 50-2019

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das erlebe und beobachte ich in den letzten jahren immer öfter, dass große firmen und auch "staatliche" (nachfolge-)institutionen sich von der "last der verantwortung" über das tun und verhalten ihrer damaligen vorläuferorganisationen oft mit einem kurzen öffentlichen schulterzuckendem bedauern und eisernem "vertuschen" befreien wollen, und mit einer gedenktafel mit weißem lilienstrauß vielleicht oder gar einer gedenkkapelle dann endgültig meinen, nun sei es doch nach 80 jahren "auch mal gut" - und vielleicht noch den totensonntag oder den 9. november oder den 27. januar mit einer rituellen gedenkfeier als wiederkehrende pflichtveranstaltung "feierlich" begehen.

auch scheint es im großen und ganzen unfein zu sein, die altvorderen direktoren oder chefärzte etc. in solchen staatlichen oder halbstaatlichen institutionen zu jener zeit mit ihrem tun oder lassen oder mit ihrer nsdap-mitgliedschaft etwa namentlich zu desavouieren - man meint dann wohl, "nestbeschmutzer" zu sein - und "das gehöre sich nicht" - "ich will ja nichts gesagt haben, aber..." - und das, obwohl die vielleicht "schützenswerten" details wegen der nächsten angehörigen oder auch verwandter namensträger längst vom zahn der zeit zerbröselt sind. 

da werden diese "würdenträger" immer noch oft in hohen ehren gehalten (namensgebungen von straßen und einrichtungen oder abteilungen, bildergalerien im jubiläumsbuch des unternehmens etc.), aber das wirken und die denunziationen, die preisgabe und die kooperationen in jener zeit mit und gegenüber den ns-organisationen wird einfach abgespalten und verschwiegen - und da achten sogar noch streng die jetzigen (amts-)inhaber in der zweiten nachfolge-generation auf eine angeblich "weiße weste", obwohl die bei genauem hinsehen viele flecken und fehlstellen hätte.  

und trotzdem klopft man sich gerade in deutschland ja auch als "weltmeister" in sachen gedenk- und erinnerungskultur gern selbst auf die schulter - aber immer im "großen & ganzen", weniger im vielleicht zu nahe kommenden "detail" - und das gilt für unternehmen, institutionen und familien gleichermaßen. 

und tatsächlich - so las ich neulich - meint man sogar in israel, dass einige verwicklungen mit dem holocaust in deutschland akribischer aufgearbeitet sind, als vielleicht von historischen fakultäten in israel - und auch andere staaten zollen deutschland darin ja ihren respekt. und so hat man diesen kollektiven "mit-täter"-aspekt "im volk" dann "schluss-endlich" nach eigenem bekunden auch sowas von "bereut" und um "verzeihung" gebeten...

aber dieser nimbus bröckelt zur zeit rapide durch das allmähliche aufflammen antsemitischer ressentiments in letzter zeit - und durch das aufkommen offensichtlich rechter und rechtsradikaler tendenzen im alltag der bundesrepublik.

bei genauem hinsehen muss man feststellen, dass viele große firmen und institutionen die mitarbeit und ausbeutung z.b. von zwangsarbeitern kaum aufgearbeitet haben oder sich vielleicht mit einem relativ geringen "sühnebeitrag" in irgendeine "wiedergutmachende stiftung" quasi "freikaufen" - und damit aber nun wirklich endgültig "vergessen" wollen.

und doch sagt just heute dazu die bundeskanzlerin in auschwitz u.a.:
"An die Verbrechen zu erinnern, die Täter zu nennen und den Opfern ein würdiges Gedenken zu bewahren ‑ das ist eine Verantwortung, die nicht endet. Sie ist nicht verhandelbar; und sie gehört untrennbar zu unserem Land. Uns dieser Verantwortung bewusst zu sein, ist fester Teil unserer nationalen Identität, unseres Selbstverständnisses als aufgeklärte und freiheitliche Gesellschaft, als Demokratie und Rechtsstaat."
aus eigener anschauung in der über 30-jährigen forschungsarbeit zum "euthanasie"-ermordungsgeschehen um meine tante erna kronshage stelle ich fest, 
  • dass immer noch oder hier und da schon wieder in den archiven gern "gemauert" wird und die eigene "politische" institutionsposition augenscheinlich nicht damit mehr belastet werden soll - weil man inzwischen "nach vorne blickt - und nicht mehr zurück".... - und dass man die öffentlich finanzierten fakten und quellen in einem archiv immer noch gern wie das "privateigentum" aus dem "allerheiligsten" behandelt - angeblich wegen der "datenschutz"-bestimmungen;
  • dass historiker nach meinen beobachtungen oft "freischaffend" mit einem - ich nehme mal an - honorierten forschungsauftrag von institutionen angeheuert werden für die veröffentlichung einer "abschließenden" (jubiläums- oder aufarbeitungs-)arbeit - die sich aber auch vom alten proleten-spruch "wess brot ich ess - dess lied ich pfeif" nicht ganz freisprechen können - und dann kommt es eben zu den oben angesprochenen entsprechenden "wikipedia"-schönungsbeiträgen... - von der sogenannten "freiheit der wissenschaft" ganz zu schweigen - denn wenn ein "gut"achten nicht ganz so "passend" ausfällt, bestellt man sich seitens der institution eben noch ein "gegen-'gut'achten";
  • andere freischaffende historiker beugen gern die erforschten fakten so, dass man vielleicht "spektakulär" mit hinguck-schlagzeilen in den feuilletons und den fachaufsätzen sein nächstes werk zum thema für eine gute verkaufsauflage anpreisen kann - koste es, was es wolle....;
  • und die von institutionen fest angestellten historiker oder auch die archivare werden natürlich nicht die politischen verstrickungen vor 80 jahren in der vorläuferorganisation "über alle maßen" bloßstellen und sich selbst beschädigen: das hemd sitzt da ja näher als die jacke (= "loyalitäts-gebot!") ...
also - es wird durchaus in der geschichtsaufarbeitung auch taktiert - und auf alle fälle hat man es nicht sehr eilig damit - 80 jahre danach - und die tatsächlichen zeitzeugen können einem ja bald nicht mehr an die karre pullern...

frau merkel hat eine solche praxis der aufarbeitung mit ihrem satz: "das ist eine Verantwortung, die nicht endet. Sie ist nicht verhandelbar; und sie gehört untrennbar zu unserem Land" sicherlich nicht gemeint.

Doku: Merkel-Rede in Auschwitz

foto: tagesschau



Rede von Bundeskanzlerin Merkel zum zehnjährigen Bestehen der Stiftung Auschwitz-Birkenau am 6. Dezember 2019 in Auschwitz

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
sehr geehrter Herr Direktor,
Exzellenzen,
vor allem: sehr geehrte Zeitzeuginnen und Zeitzeugen,
sehr geehrte Damen und Herren,

heute hier zu stehen und als deutsche Bundeskanzlerin zu Ihnen zu sprechen, fällt mir alles andere als leicht. Ich empfinde tiefe Scham angesichts der barbarischen Verbrechen, die hier von Deutschen verübt wurden ‑ Verbrechen, die die Grenzen alles Fassbaren überschreiten. Vor Entsetzen über das, was Frauen, Männern und Kindern an diesem Ort angetan wurde, muss man eigentlich verstummen. Denn welche Worte könnten der Trauer gerecht werden ‑ der Trauer um all die vielen Menschen, die hier gedemütigt, gequält und ermordet wurden? Und dennoch: So schwer es an diesem Ort, der wie kein anderer für das größte Menschheitsverbrechen steht, auch fällt: Schweigen darf nicht unsere einzige Antwort sein. Dieser Ort verpflichtet uns, die Erinnerung wachzuhalten. Wir müssen uns an die Verbrechen erinnern, die hier begangen wurden, und sie klar benennen.

Auschwitz ‑ dieser Name steht für den millionenfachen Mord an den Jüdinnen und Juden Europas, für den Zivilisationsbruch der Shoa, dem sämtliche menschlichen Werte zum Opfer fielen. Auschwitz steht auch für den Völkermord an den Sinti und Roma Europas, für das Leid und die Ermordung von politischen Gefangenen und Vertretern der Intelligenz in Polen, von Widerstandskämpfern, von Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion und anderen Ländern, von Homosexuellen, von Menschen mit Behinderungen sowie unzähligen anderen Menschen aus ganz Europa. Das Leiden der Menschen in Auschwitz, ihr Tod in den Gaskammern, Hunger, Kälte, Seuchen, qualvolle pseudomedizinische Versuche, Zwangsarbeit bis zur völligen Erschöpfung ‑ was hier geschah, lässt sich mit Menschenverstand nicht erfassen.

Allein im Lagerkomplex Auschwitz wurden mindestens 1,1 Millionen Menschen, die meisten von ihnen Juden, planvoll und mit kalter Systematik ermordet. Jeder dieser Menschen hatte einen Namen, eine unveräußerliche Würde, eine Herkunft, eine Geschichte. Schon die Deportation hierher, eingepfercht in Viehwaggons, die Prozedur bei der Ankunft und die sogenannte Selektion an der Rampe zielten darauf, diese Menschen zu entmenschlichen, sie ihrer Würde und Individualität zu berauben.

Offiziell trägt dieser Ort als Teil des UNESCO-Welterbes heute den Namen „Auschwitz-Birkenau ‑ deutsches nationalsozialistisches Konzentrations- und Vernichtungslager (1940–1945)“. Dieser Name als voller Name ist wichtig. Oświęcim liegt in Polen, aber im Oktober 1939 wurde Auschwitz als Teil des Deutschen Reichs annektiert. Auschwitz war ein deutsches, von Deutschen betriebenes Vernichtungslager. Es ist mir wichtig, diese Tatsache zu betonen. Es ist wichtig, die Täter deutlich zu benennen. Das sind wir Deutschen den Opfern schuldig und uns selbst.

An die Verbrechen zu erinnern, die Täter zu nennen und den Opfern ein würdiges Gedenken zu bewahren ‑ das ist eine Verantwortung, die nicht endet. Sie ist nicht verhandelbar; und sie gehört untrennbar zu unserem Land. Uns dieser Verantwortung bewusst zu sein, ist fester Teil unserer nationalen Identität, unseres Selbstverständnisses als aufgeklärte und freiheitliche Gesellschaft, als Demokratie und Rechtsstaat.

Heute haben wir in Deutschland wieder ein blühendes jüdisches Leben. Mit Israel verbinden uns vielfältige und freundschaftliche Beziehungen. Das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Das ist ein großes Geschenk. Es gleicht gar einem Wunder. Aber es kann Geschehenes nicht ungeschehen machen. Es kann die ermordeten Jüdinnen und Juden nicht zurückbringen. In unserer Gesellschaft wird immer eine Lücke klaffen.

Vor 70 Jahren trat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Darin flossen die Lehren aus den Schrecken der Vergangenheit ein. Aber wir wissen auch: Die unantastbare Würde des Menschen, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ‑ so kostbar diese Werte auch sind, so verletzlich sind sie auch. Deshalb müssen wir diese grundlegenden Werte immer wieder aufs Neue festigen und verbessern, schützen und verteidigen ‑ im täglichen Zusammenleben ebenso wie im staatlichen Wirken und politischen Diskurs.

In diesen Tagen ist das keine Rhetorik. In diesen Tagen ist es nötig, das deutlich zu sagen. Denn wir erleben einen besorgniserregenden Rassismus, eine zunehmende Intoleranz, eine Welle von Hassdelikten. Wir erleben einen Angriff auf die Grundwerte der liberalen Demokratie und einen gefährlichen Geschichtsrevisionismus im Dienste einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Besonders richten wir unser Augenmerk auf den Antisemitismus, der jüdisches Leben in Deutschland, in Europa und darüber hinaus bedroht.

Umso klarer und deutlicher müssen wir bekunden: Wir dulden keinen Antisemitismus. Alle Menschen müssen sich bei uns in Deutschland, in Europa, sicher und zu Hause fühlen. Gerade Auschwitz mahnt und verpflichtet jeden Einzelnen von uns, täglich wachsam zu sein, Menschlichkeit zu bewahren und die Würde unseres Nächsten zu schützen.

Denn es ist so, wie es Primo Levi, der vor 100 Jahren in Turin geboren wurde und der Auschwitz als Zwangsarbeiter in Monowitz überlebte, später schrieb: „Es ist geschehen. Folglich kann es wieder geschehen.“ Daher dürfen wir unsere Augen und Ohren nicht verschließen, wenn Menschen angepöbelt, erniedrigt oder ausgegrenzt werden. Wir müssen denen widersprechen, die gegen Menschen anderen Glaubens oder anderer Herkunft Vorurteile und Hass schüren.

Wir alle tragen Verantwortung. Und zu dieser Verantwortung gehört auch das Gedenken. Wir dürfen niemals vergessen. Einen Schlussstrich kann es nicht geben ‑ und auch keine Relativierung.

Oder um es mit Worten des Auschwitz-Überlebenden und ehemaligen Präsidenten des Internationalen Auschwitz Komitees Noach Flug auszudrücken: „Die Erinnerung […] ist wie das Wasser. Sie ist lebensnotwendig und sie sucht sich ihre eigenen Wege in neue Räume und zu anderen Menschen. […] Sie hat kein Verfallsdatum und sie ist nicht per Beschluss für bearbeitet oder für beendet zu erklären.“

Dass sich diese lebensnotwendige Erinnerung Wege sucht, wie Noach Flug sagte, und auch findet, das haben wir in besonderer Weise vielen Zeitzeugen zu verdanken. Es freut mich deshalb sehr, hier einige von ihnen begrüßen zu dürfen. Sie haben in den vergangenen Jahren wieder und wieder und auch für uns heute aus ihrer Leidenszeit berichtet. Wer kann sich vorstellen, wie viel Kraft es kostet, sich diese schmerzhaften Erfahrungen immer wieder vor Augen zu führen oder gar wieder an diesen Ort zurückzukehren? Sie teilen ihre Geschichte, damit jüngere Menschen daraus lernen. Sie bringen den Mut und die Kraft zur Versöhnung auf. Sie zeigen wahrhaft menschliche Größe. Ich bin sehr dankbar, dass wir von ihnen hören und lernen dürfen.

Es ist bald 75 Jahre her, dass Auschwitz befreit wurde. Immer weniger Menschen können ihre Geschichte aus dieser Zeit erzählen. Dies veranlasste den Schriftsteller Navid Kermani, sehr zutreffend festzuhalten: „[…] Damit sich überhaupt eine Erinnerung ins Herz brennt, auf die sich die Mahnmale, Stolpersteine, Gedenkrituale beziehen, wird es für künftige Generationen noch wichtiger sein, mit eigenen Augen die Orte zu sehen, an denen Deutschland die Würde des Menschen zermalmte, jene Länder zu bereisen, die es in Blut ertränkte.“

An vielen Orten hatten die Täter versucht, ihre Spuren zu verwischen ‑ sei es in Vernichtungslagern wie Bełżec, Sobibór und Treblinka, sei es an Orten wie Malyj Trostenez, Babyn Jar oder an den Tausenden anderen Orten in Europa, an denen Juden, Sinti und Roma, viele andere Menschen und sogar ganze Dorfgemeinschaften ermordet wurden.

Hier in Auschwitz hingegen haben es die SS und ihre Schergen nicht geschafft, ihre Spuren zu verwischen. Dieser Ort legt Zeugnis ab. Und dieses Zeugnis gilt es zu erhalten. Wer nach Auschwitz kommt und die Wachtürme und den Stacheldraht, die Baracken und die Gefängniszellen, die Reste der Gaskammern und Krematorien sieht, den wird die Erinnerung nicht mehr loslassen. Sie wird sich, wie Kermani schreibt, „ins Herz brennen“.

Vor zehn Jahren hatte der frühere polnische Außenminister Władysław Bartoszewski, der selbst politischer Häftling in Auschwitz war, die Gründung der Stiftung Auschwitz-Birkenau angestoßen.

Lieber Herr Cywínski, Ihnen und allen, die sich in der Stiftung den Erhalt dieser Gedenkstätte als Mahnmal und Dokumentationszentrum zur Aufgabe gemacht haben, danke ich von Herzen. Ich danke auch allen Beteiligten an den Restaurierungs- und Konservierungsprojekten. Mit großem Engagement wurde und wird dafür gesorgt, dass dieser Ort weiter Zeugnis ablegt. Ziegelsteinbaracken wurden dauerhaft gesichert, Ausgrabungen durchgeführt, Stützmauern errichtet, Schutzzelte aufgebaut, die geraubten Kleider und Habseligkeiten der Opfer restauriert und konserviert.

Die Konservierungspläne erfordern für die nächsten 25 Jahre eine deutlich höhere Summe für das Stiftungskapital. Deutschland wird sich wesentlich an diesen Mitteln beteiligen. Das haben wir gestern gemeinsam mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer beschlossen.

Dank der Stiftung sowie der vielen internationalen Fremdenführer ist diese Gedenkstätte ein Ort des Lernens, des Innehaltens und des Bewusstwerdens ‑ ein Ort, der die Botschaft des „Nie wieder“ so eindrucksvoll ausspricht. Dafür bin ich sehr dankbar.

Doch nichts kann die Menschen, die hier ermordet wurden, zurückbringen. Nichts kann diese präzedenzlosen Verbrechen ungeschehen machen. Diese Verbrechen sind und bleiben Teil der deutschen Geschichte. Diese Geschichte muss erzählt werden, immer und immer wieder, damit wir aufmerksam bleiben, damit sich solche Verbrechen auch nicht in Ansätzen wiederholen können, damit wir gegen Rassismus und Antisemitismus in all ihren widerwärtigen Erscheinungen entschlossen vorgehen. Diese Geschichte muss erzählt werden, damit wir heute und morgen die Würde eines jeden Menschen bewahren ‑ und damit wir den Opfern ein ehrendes Andenken bewahren.

Wir erinnern an die Menschen, die aus den verschiedenen Ländern ganz Europas nach Auschwitz deportiert wurden. Wir erinnern an diesem Ort insbesondere an die vielen polnischen Opfer ‑ auch politische Gefangene ‑, für die das KZ Auschwitz zunächst errichtet worden war. Wir erinnern an die sechs Millionen ermordeten Juden und hier vor allem an die etwa eine Million Juden, die in Auschwitz-Birkenau ermordet wurden. Wir erinnern an die Sinti und Roma, die deportiert, gequält und ermordet wurden. Wir erinnern an die Opfer des Massenmords durch Erschießungen. Wir erinnern an jene, die in Ghettos deportiert wurden, sich in Todesangst versteckt hielten, und an die, die aus ihrer Heimat fliehen mussten. Wir erinnern an alle, die alles verloren hatten: ihre Familien und Freunde, ihre Heimat und ihr Zuhause, ihre Hoffnungen und Pläne, ihr Vertrauen und ihre Lebensfreude ‑ und ihre Würde. Wir erinnern an diejenigen, die auch nach dem Krieg noch jahrelang umherirrten ‑ an die, die in Lagern für „displaced persons“ ausharren mussten.


Wer überlebt hatte, war von den widerfahrenen Schrecken schwer gezeichnet. Margot Friedländer schrieb in ihren Erinnerungen über sie: „Sie mussten erst wieder lernen, dass sie Menschen waren. Menschen, die einen Namen hatten.“

Viele fragten sich, warum gerade sie überlebt hatten. Warum nicht die kleine Schwester? Warum nicht der beste Freund? Warum nicht die eigene Mutter oder der Ehemann? Viele fanden lange nicht oder auch nie heraus, wie und wo ihre nächsten Angehörigen ermordet worden waren. Diese Wunden heilen nie.

Umso mehr danke ich jedem, der es schafft, darüber zu sprechen, um Schmerz und Erinnerung zu teilen und um Versöhnung zu stiften. Ich verneige mich tief vor jedem dieser Menschen. Ich verneige mich vor den Opfern der Shoa. Ich verneige mich vor ihren Familien.

Vielen Dank, dass ich heute hier dabei sein darf.

Freitag, 06. Dezember 2019

Quelle: click


wie oben - so unten

Obdachlose erzählen ihre Geschichten 

„Verlust ist mein Lebenselixier“

Von Sebastian Lörscher | Tagesspiegel

Es ist leicht wegzuschauen. Sebastian Lörscher, ein Berliner Zeichner und Autor hat hingeschaut – und Berliner Wohnungslosen zugehört. Sechs Protokolle gegen die Achtlosigkeit.

Sebastian Lörscher, Jahrgang 1985, ist Zeichner und Autor. Vier Monate recherchierte er dort, wo Wohnungslose Schutz suchen: am U-Bahnhof Lichtenberg, im Wärmezelt an der Frankfurter Allee. Diese Menschen hat er getroffen:


Wilfried

„Verlust ist mein Lebenselixier. Gestern hat man mir mein Handy geklaut, beim Schlafen aus der Hand heraus. Dafür hab ich heute einen Tennisball gefunden. Was war ich froh! Was man mit einem Tennisball alles machen kann! Und vor allem: was man darin alles sehen kann. Das Gesicht von Ronald Reagan, die Krallen eines Habichts, das Zepter Ludwigs des XVI ...

Zu Ostzeiten war ich Bildhauer und habe aus meinen Holzklötzen all die Dinge geschnitzt, die ich darin gesehen habe. Dieses Leben habe ich verloren, trotzdem versuche ich, die positiven Seiten zu sehen. Ich bin einigermaßen gesund, habe gute Leute um mich herum und erfreue mich an den wenigen Dingen, die mir der Alltag so anspült. Auch wenn sie am nächsten Tag oft wieder weg sind.

Jaja, der eine sitzt in seinem Reichtum am Wannsee, der andere sitzt mit einem Tennisball in Lichtenberg am U-Bahnhof. Heißt aber nicht, dass der am Wannsee mehr Freude empfinden kann.“

***

Thommi

“Ich war 20 Jahre bei der Bundeswehr. Ein Jahr im Kosovo, drei Jahre in Afghanistan. Gegen die Terroristen haben wir gekämpft! Denn bevor die uns abknallen, knallen wir die doch lieber ab, oder nicht?! Eines Tages haben wir eine Bombe kassiert. Drei Kameraden waren sofort tot, einige andere schwer verletzt. Bei mir war ein Finger ab, ein Splitter im Bein. Danach habe ich noch ein bisschen auf Intellektuellen gemacht und in Hannover an der Bundeswehruni unterrichtet, das war aber nicht mein Ding.

Dann ist meine Frau gestorben, nach 24 Jahren Ehe. Und ich habe mir gedacht, was mach ich noch hier? In der leeren Wohnung, ohne Olle, ohne Kameraden ... Da habe ich entschieden: Auszeit! Time Off! Raus hier, ab nach Berlin.

Den Sommer über hatte ich ein Zelt am Wannsee, jetzt im Winter bin ich hier. Es war meine freie Entscheidung, dieses Leben zu leben.

Ich könnte genauso gut in ein Hostel gehen, aber das will ich nicht. Weißt du, je weiter man in der Gesellschaft nach unten geht, desto mehr halten die Menschen zusammen. Und das ist das, was mir gefällt.“

***
Jensen

„Ich gehe arbeiten wie jeder andere auch. Schnorren halt. Ist mein Traumberuf! Seit 28 Jahren mache ich das nun und ich könnte mir nichts Besseres vorstellen. Ich hatte ein Haus, eine Frau, einen Job. Aber als nach der Wende mein Malermeister-Abschluss nicht mehr das gleiche wert war und ich nochmal von vorne hätte anfangen müssen, da hatte ich die Schnauze voll. Also bin ich raus aus dem System.

Auf der Tasche liege ich damit auch keinem. Hartz IV habe ich nicht beantragt, wegen der ganzen Auflagen. Das ist nichts für mich. Ich will frei sein! Und mein Leben genießen. Ich schlafe, solange ich will, wache morgens auf und mache, wonach mir ist. Wenn ich wegfahren will, setze ich mich in den Bus und fahre nach Paris, nach Barcelona, nach Hamburg ... ich war schon überall, in jeder großen Stadt kenne ich Leute.

Eigentlich bin ich Berliner, aber lieber sage ich: Ich bin Erdenbürger. Wenn du freundlich bist, kommst du ganz schön weit auf dieser Erde.“

***


Kerstin

„Ich war auf Alkohol-Entzug und habe im Betreuten Wohnen gelebt. Nebenbei habe ich ein unbezahltes Praktikum in einer Klinik gemacht und mich um demente Menschen gekümmert. Bei mir haben sich die Alten wohlgefühlt, mir haben sie ihre Lebensgeschichten anvertraut. Eine Frau, die nie einen Ton gesagt hat, konnte auf einmal wieder sprechen. Schauen Sie, ein Regenbogen!, hat sie gesagt.

Da war wirklich einer! Zwei Abteilungen habe ich quasi alleine geleitet. Meine Kollegen haben nichts anderes gemacht als rauchend im Mitarbeiterzimmer zu sitzen und gemein zu mir zu sein. An einem Tag ist mir alles zu viel geworden. Die Arbeit, die Kollegen, die vielen Termine, die ich wegen der Therapie hatte ... Ich bin in den Supermarkt gegangen und habe mir eine kleine Flasche Rotwein gekauft. Von da an ging alles bergab. Kurze Zeit später bin ich aus dem Betreuten Wohnen geflogen.

Jetzt bin ich hier, zwischen all den Leuten, die ständig am Rad drehen. Ich verstehe mich mit allen und wir sorgen füreinander. Aber ich will einfach mal wieder sein, wo es sich normal anfühlt. Bei meiner Tochter, tanzend auf einer Party ... Ich will den Regebogen wiedersehen.“

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Maggy

„Die Außerirdischen haben meine Kinder geklont. Die echten haben sie in der Badewanne zersägt. Die schwirren jetzt umher, als Teufelchen und Engelchen. Und die Geklonten laufen draußen herum. Ich habe mich sogar mit denen unterhalten! Ich habe das bei der Polizei gemeldet, aber die haben gemeint, ich sei psychisch krank und haben mich in die Klapse geschickt.
Die stecken natürlich unter einer Decke, die Polizei und die Außerirdischen. ,Bockwurstgesicht! Du Bockwurstgesicht!', haben sie zu mir gesagt, die Polizisten. Aber warum? Ich sehe doch cool aus. Wie Arnold Schwarzenegger sehe ich aus, sagt mein Mann. Der ist Filmproduzent und macht Action-Filme, glaub ich. Der hat schon mit richtigen Stars zusammengearbeitet.

Mit Til Schweiger und Tony Montana zum Beispiel. Den würde ich gern mal richtig kennenlernen, obwohl der auch Außerirdischer ist.“

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Stefan

„Eine Arbeit haben und trotzdem obdachlos sein? Gibt es nicht, habe ich gedacht. Bis es mir selbst passiert ist. Ich arbeite als Reinigungskraft in einem Kaufhaus und habe die letzten Jahre in einer WG gelebt. Im Sommer hat der Vermieter Eigenbedarf angemeldet. Und nachdem ich eine Zeitlang vergeblich nach einem neuen WG-Zimmer gesucht hab - es suchen ja alle entweder einen Studenten oder ein hübsches Mädchen, keinen 52-jährigen Mann! -, da bin ich auf die Straße gezogen.

Zuerst habe ich nachts kaum geschlafen. Oft war es nur Sekundenschlaf, weil ich immer aufpassen musste, dass man mir meine Sachen nicht klaut. Aber der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Im Sommer bin ich nach der Arbeit immer in einen Park gegangen und hab mich ein bisschen langgelegt. Dann habe ich mich in ein Internetcafé gesetzt und habe die ganze Nacht über Dokus oder Rockkonzerte geschaut. Den gesamten Eichmann-Prozess von 1961 in Jerusalem habe ich gesehen. Alle 140 Prozesstage!“

(Illustrationen: Sebastian Lörscher)

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das sind die ehrlichen augenblicks-nachrichten aus einer anderen welt. in der dortigen welt herrschen andere gesetze - oder eben auch gar keine - zumindest keine "rechtsordnung". sie kriegen sich in die wolle, provozieren sich (nee - zimperlich ist man dort nicht...) - und vertragen sich wieder: "sa ma wieder guatt" - un gutt is...


ich finde dann - es ist vom inneren habitus her wie so oft, wenn ganz unten und ganz oben fast verwechselbar aufeinandertreffen - als kreislauf in sich selbst begegnen: da wird krakeelt - was aber oft nur das "pfeifen im wald" ist - vor lauter muffe... da wird getönt und da werden geschichten erfunden zum herzzerreißen, und in wirklichkeit war es doch oft nur genug eine ziemlich seelenlose einöde. 

kurz und gut: in den strukturen gleichen sich die erzählten storys nach meinem empfinden oft derjenigen dieses ewig twitternden us-präsidenten, dem es ja jetzt auch nur scheinbar um irgendetwas geht, was gleich wieder verschwunden ist: "watt juckt misch mine jeschwätz von jestern" - und "wieder mal die sau durch's dorf gejagt" = sein immer mal wieder neues und ewig altes getöse unterscheidet sich so sehr nicht von diesen 6 storys hier von ganz unten. wobei letztere in sich oftmals stabiler sind als die präsidialen verlautbarungen.

diese zur schau gestellte restwürde, von der sie erzählen und mit der sie prahlen und strahlen, auch wenn sie ihre überzeugungen und gesinnungen mehrmals am tag ändern wie das chamäleon seine hautfarben. 

viel lametta und meistens wenig dahinter - und oft auch nur pech gehabt - und den allerwertesten nicht hoch bekommen wegen der kopfschmerzen vom kater von gestern - und in der schule "einfach nicht aufgepasst" - c'est la vie... 


Stolpersteine für die Hotze's


Symbolfoto: Stolpersteine
Stolpersteine für die Retter vom Schauspieler Michael Degen. 

Von Ingo Salmen | Tagesspiegel

Zwei Angehörige des kommunistischen Widerstands gegen das Nazi-Regime bekommen Stolpersteine an ihrem ehemaligen Wohnhaus im Berliner Kiez Kaulsdorf-Süd: Marie-Luise und Carl Hotze lebten einst in einem Haus mit der Adresse An der Wuhle 41. Ihr altes Zuhause steht nicht mehr, doch die Adresse gibt es noch – und die Eheleute sollen nicht vergessen werden. Denn ihr Verdienst ist es, andere Genossen, die von Verfolgung durch den NS-Staat bedroht waren, und im Jahr 1943 auch die jüdische Witwe Anna Degen und ihren elfjährigen Sohn bei sich aufzunehmen und ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben vor dem Zugriff des Staates zu schützen. Der kleine Junge wurde später in ganz Deutschland bekannt: als der Schauspieler Michael Degen. Das Schicksal der Hotzes war es, dass die Nazis sie festnahmen und in Konzentrationslager verschleppten.

Viel ist nicht bekannt über die Eheleute. Carl Hotze stammte aus Niedersachswerfen im Südharz in Thüringen. Er wurde am 16. September 1890 geboren. Von Beruf war er Kaufmann und Gärtner. Er führte einen eigenen Betrieb, zog Obst und Gemüse, hinter dem Haus in Kaulsdorf befand sich ein großer Garten. Marie-Luise Hotze war zweieinhalb Jahre jünger als ihr Mann, geboren am 15. Mai 1893. Ab 1930 gehörte sie wie ihr Mann der KPD an, nach 1933 war sie für den illegalen KPD-Unterbezirk Lichtenberg im Widerstand tätig. Auch Carl Hotze trat gegen die Nazis ein. Wegen „Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“ wurde er 1936 zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Das hielt ihn später nicht davon ab, sich weiter gegen das Regime zu engagieren: Ab 1940 gehörte er den Widerstandskreisen um Robert Uhrig an, ab 1942 der Saefkow-Jacob-Bästlein-Organisation.

Im September 1943 nahmen die Nazis die Eheleute fest. Marie-Luise Hotze kam ins KZ Ravensbrück, wo sie am 6. November 1944 ermordet wurde. Carl Hotze wurde zunächst nach Sachsenhausen gebracht, später nach Mauthausen. Er überlebte die Haft, nach der Befreiung machte er sich zu Fuß auf den Weg von Österreich nach Hause, um dort zu erfahren, dass seine Frau umgekommen ist. Nach dem Krieg arbeitete er beim Magistrat von Berlin, wohnte in Prenzlauer Berg. In den frühen 50-er Jahren versuchte er noch, über die Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes eine Entschädigung zu erlangen. Danach verliert sich seine Spur in den Akten.

Initiiert hat die Verlegung der Stolpersteine Cindy Wewerka aus Biesdorf. „Meine Freundinnen haben mir den Stolperstein letztes Jahr zum 33. Geburtstag geschenkt“, erzählt sie und bezeichnet sich als „jüdisch-affin“. Das rührt von einem Erlebnis in der Kindheit her. „Als ‚Schindlers Liste‘ rauskam, haben meine Eltern das geschaut“, erinnert sie sich. Sie war selbst noch zu jung, aber hat heimlich zugesehen, als der Film im Fernsehen lief. „Da fing’s dann an, dass ich mir sämtliche Bücher zu dem Thema bestellt und gelesen habe.“ Eigentlich wollte sie auch einen Stein für ein jüdisches Opfer verlegen. Doch im Gespräch mit Dorothee Ifland, der Leiterin des Bezirksmuseums, stieß sie auf die Eheleute Hotze – und war von ihrem Werdegang beeindruckt. „Die beiden hatten ja die Wahl“, sagt Wewerka. Sie hätten sich anpassen können, aber entschieden sich dafür, für ihre Überzeugungen einzustehen – und versteckten am Ende auch Juden.

Mehrere Monate lang versuchte Wewerka zusammen mit ihrer Schwiegermutter Angelika, mehr über
 Degens Autobiografie
die Hotzes in Erfahrung zu bringen. Sie schrieben die Gedenkstätten in Ravensbrück und Mauthausen an, die Gedenkstätte Deutscher Widerstand und das Bundesarchiv. „Es war sehr langwierig“, sagt Wewerka. Die Archive erhielten bis heute viele Anfragen, eine Beantwortung dauere eine Weile – und fiel manches Mal negativ aus. Informationen bekamen die Frauen letztlich nur vom Bundesarchiv, wo auch Fotos der Gestapo vorhanden sind, und aus Degens Autobiografie. Darin erfuhren sie, wie der kleine Michael und seine Mutter immer mit krummem Rücken unter den Fenstern herschleichen mussten und nur mal nachts ins Wohnzimmer durften – aus Angst, entdeckt und verraten zu werden.

„Was waren das für Menschen!“, sagt Wewerka, die sich selbst auch politisch links verortet, über die Hotzes. Wie waren sie denn? „Sie war eine Person, die in politischen Diskussionen aufgeblüht ist“, berichtet die Stolperstein-Stifterin über Marie-Luise Hotze. Auch das hat sie aus Degens Buch erfahren. „Er war ein Schlitzohr, der sich nichts hat anmerken lassen, mit allen Wassern gewaschen, aber er stand zu seiner Meinung – und hat jedem geholfen, ob Genosse oder Jude“, sagt Wewerka über Carl Hotze. „Wer würde in der heutigen Zeit so was machen? Das hat mich so beeindruckt.“

An diesem Donnerstag, 5. Dezember, wird der Künstler Gunter Demnig gegen 13 Uhr vor dem Haus An der Wuhle 41 die beiden Stolpersteine in den Gehweg einlassen. Cindy Wewerka hatte auch versucht, den heute 87-jährigen Michael Degen einzuladen. Dem Linken-Fraktionschef in der BVV, Björn Tielebein, gelang schließlich noch eine Kontaktaufnahme. „Er freut sich sehr darüber, dass die beiden Hotzes nun auch ein in Stein verlegtes Gedenken erhalten werden“, antwortete Degens Frau Susanne Sturm am vergangenen Freitag. „Aber vor allem freut ihn, dass eine der beiden Initiatorinnen eine junge Dame ist, denn gerade für die jüngeren Generationen hat er ja vor 20 Jahren ‚Nicht alle waren Mörder geschrieben.“ Gern wäre ihr Mann zur Verlegung des Stolpersteins gekommen, schrieb Sturm, auch um Demnig für seine „unermüdliche Initiative“ ein „großes Dankeschön“ zu sagen. Doch so kurzfristig könne das Paar, das in Hamburg lebt, eine Reise nach Berlin leider nicht einrichten.


Die fesselnde verfilmte Autobiografie:


Nicht alle waren Moerder (90 min) from Gunnar Fuss on Vimeo.



Click here zu einem einstündigen "Zeitzeugen-Interview" zum Thema im BR


also - ich bin jedesmal berührt, wenn ich die gelegenheit finde, die geschichten und verwicklungen und die dramen zu recherchieren, die einem stolperstein quasi untergelegt sind, die ihm "fütterung" verleihen.

hier ist es nun relativ klar, weil auch der hauptsächliche zeitzeuge michael degen recht prominent ist und noch lebt, und verschiedene medien existieren, die zumindest einen teil der geschichte von marie-luise und carl hotze nacherzählen.

aber so "stolpert" man nicht nur über den stein, sondern er wird regelrecht lebendig, wenn man die geschichte erfährt, die ihn begründet.

um die 75.000 steine hat der künstler gunter demnig bereits in europa gelegt, unter denen sich jeweils sicherlich solche und ähnlich spannende schicksalsbiografien verbergen.

wir müssen versuchen, diesen schatz möglichst vollständig zu heben und in würde zu (be)hüten...









advent - mal so und mal so rum

graphic|bearbeitung und modifikation: sinedi - textquelle: unsere kirche, nr.51, 16.12.2018. S.16 - iris macke

adventlicher plastik - sinedi-art

erde zu erde - asche zu asche - staub zu staub (update: inzwischen "bedauert" das zps die aktion)))

Die Stele ist erstmal nur bis Samstag genehmigt. © SOPHIE KRATZER | Tagesspiegel




Holocaust-Asche vor dem Reichstag 

Das Mahnmal des Zentrums für Politische Schönheit ist drastisch - und notwendig

Von Patrick Wildermann | Tagesspiegel



Winston Churchill hat seinem Sohn mal eine ziemlich bedenkenswerte Lektion mitgegeben: „Lerne, so viel du kannst, aus der Geschichte – denn wie sonst könntest du wissen, was in der Zukunft passiert?“

Für das Zentrum für politische Schönheit (ZPS) war dieser Satz schon immer die Schlüssel-Maxime im Guerilla-Handbuch für den engagierten Aktionskünstler.

Aus gutem Grund. Wer würde bestreiten wollen, dass das Lernen aus der Vergangenheit eine neue Dringlichkeit besitzt in Zeiten, in denen ehemalige Geschichtslehrer wie Björn Höcke angetreten sind, um genau das zu verhindern?

Die Gruppe um Philipp Ruch hat jetzt eine neue Aktion gestartet. Sie hat sich auf die Spuren der Opfer Hitlerdeutschlands begeben und dabei einen über 75 Jahre alten Auftrag verwirklicht.
„Teurer Finder, suche überall, auf jedem Zollbreit Erde. Suchet in der Asche. Die haben wir verstreut, damit die Welt sachliche Beweisstücke von Millionen von Menschen finden kann“. So wird der in Auschwitz ermordete Salmen Gradowski zitiert.

An 23 Orten in Deutschland, Polen und der Ukraine wurden über 200 Proben entnommen, erklärt das ZPS in seiner Pressemitteilung, und Knochenreste in „allen erdenklichen Körnungsgrößen“ gefunden. Sie wurden zusammengetragen und nun zum Mahnmal im Regierungsviertel gebracht, einer Gedenkstätte auf dem Gelände der ehemaligen Krolloper.

Dort also, wo mit dem Ermächtigungsgesetz der Zusammenbruch der Demokratie besiegelt wurde – gegen die Stimmen der SPD, die von Hitler als „wehleidig“ verhöhnt wurde, aber mit Unterstützung der bürgerlichen Parteien.

Mit dem neuen Mahnmal (offiziell nur bis zum kommenden Samstag genehmigt) will das ZPS an eben diesen Verrat, dieses fatale Steigbügel-Halten erinnern.

„Feste Besuchstermine für alle Abgeordneten der Union im Bundestag sind festgelegt“, heißt es.

Wie bei jeder Aktion des ZPS – sei es der Bau eines Holocaust-Mahnmals vor Björn Höckes Haus oder die Errichtung einer römischen Arena für Tiger und Geflüchtete vor dem Gorki Theater – werden Bedenkenträger sich getriggert fühlen, werden auf den Nebenschauplätzen die kopfschüttelnden Chöre aufmarschieren und ihre alten „Darf man das?“- und „Ist das echt?“-Lieder singen.

Eins der Prinzipien des ZPS ist es ja, mit Wirklichkeit zu verstören, wo alle Fiktion erwarten. Die Beisetzung von Mittelmeer-Toten im Herzen von Berlin zum Beispiel – kann das mehr sein als ein theatraler Akt?

Diese Erregungsstürme an den Peripherien des Eigentlichen sind natürlich gewollt, das Spektakel ist Teil einer Inszenierung, die Scheinwerfer auf reale Verhältnisse richtet. Und dennoch sollte man beim ZPS nicht den gleichen Fehler wie etwa bei Schlingensief begehen – nur auf die Pose zu schauen, um sich mit dem Inhalt nicht auseinandersetzen zu müssen.

Der Sorge, dass es zu einer neuen Handreichung zwischen Konservativen und äußersten Rechten kommen könnte, hat Philipp Ruch unlängst schon in seinem Buch „Schluss mit der Geduld“ Ausdruck verliehen.

Da wagt er das Gedankenexperiment einer Haselnuss-Koalition, schwarz-braun also, in der die völkische AfD-Fraktion unter CDU-Führung ein Superministerium aus Innerem und Verteidigung übernimmt. Hoffentlich nur Fiktion.

In Thüringen gab es ja bekanntlich erste CDU-Stimmen, die sich ein Zusammenmarschieren gut hätten vorstellen können.

Die „Widerstandssäule“ des ZPS im Regierungsviertel, der Aufruf, dort am kommenden Samstag (7.12., 15 Uhr) einen „zivilgesellschaftlichen Zapfenstreich gegen die AfD“ zu veranstalten, sind vor diesem Hintergrund einmal mehr Einladungen, Kunst als Wirkmacht zu begreifen.

Sie kann in einem Klima helfen, in dem die politischen Talkshows versagen und sich ein seltsamer Mehltau über die Debatte gelegt hat, wie ein Zusammenleben als Zivilgesellschaft künftig ausschauen könnte.





Zur Aktion „Sucht nach uns“ (www.sucht-uns.de) gibt das ZPS auch ein Buch heraus, „An die Nachtwelt“ betitelt. Es versammelt die letzten Botschaften von Ermordeten, außerdem einen wissenschaftlichen Aufsatz über die „Wege der Asche“. Traurig, aber wahr: wo verschüttet werden soll, ist das Lernen aus der Geschichte eine Aufgabe für Archäologen geworden.


Das ZPS hat eine Stele mit vermeintlicher Asche von NS-Opfern vor den Reichstag gestellt. Foto: Christophe Gateau | Tagesspiegel


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da haben wir uns ja in mehreren der letzten beiträge hier im blog gedanken gemacht, wie heutzutage zeitgemäß ein gedenken und erinnern an die ns-mordopfer aussehen könnte, ohne in die nähe von "verkitschungen" zu kommen oder von seelenlosen "reflexritualen" an irgendwelchen vom kalender vorgegebenen terminen - wo dann ein streichquartett traurige ernste weisen intoniert und die sprecher mit tremolo in der stimme und tränen im auge mit blick auf die tv-kameras "eindringlich" immer und immer wieder "gedenken".

diese rituale sind für das seelenheil eines täter- und gleichzeitig auch opfervolkes sicherlich zur orientierung der emotionalen befindlichkeit unabdingbar, auch um einfach in dieser schnelllebigen zeit in erinnerung zu behalten für ganz jung bis ganz alt: "da war doch was"... - und von dem, was da war, waren ganze generationen der vorfahren mit betroffen - eben als täter - und eben auch als opfer - und das manchmal sogar innerhalb der gleichen familie. 

und "rechts"-politisch rumort es hier ja bereits erneut im grunde - und da wird wieder von "umvolkung" gesprochen - und das nazi-regime von einem gewählten bundestags-abgeordneten als vogelschiss in der geschichte deutschlands bezeichnet: ein vogelschiss also - der soviel unvorstellbares leid und millionenfache morde der schwachen und der "andersartigen" landsleute mit sich gebracht hat.

da kommt ja diese irgendwie "eigenwillige" und "unorthodoxe" aktion des "zentrums für politische schönheit" vielleicht gerade zur rechten zeit, mit dieser beispiellosen aktionskunst auch ein neues aufmerksammachen in den etwas abgeschliffenen ausgelatschten erinnerungs- und gedenkpfaden.

da geht das "zps" mit seinen aktionen ja schon früher immer in die vollen: betonstelen als minigedenkfeld auf dem nachbargrundstück von herrn höcke - die beisetzung von flüchtlings-mittelmeeropfern vor dem reichstag - und jetzt also die ausgebohrten und ausgebuddelten längst verrotteten überreste von holocaust-opfern aus 23 verschiedenen vernichtungslagern.

ja - da wird vor lauter "pietät" nicht lange herumgefackelt, sondern da werden ideen entwickelt, die wirklich ins gemüt gehen und auch provozieren sollen und das "eigentliche" neu in den focus nimmt, so wie das ja auch die unsägliche lea rosh empfindet.

und wie in dem beitrag zur "verkitschung" der gedenkkultur schon angesprochen, tanzt das "zps" da tatsächlich mit solchen aktionen auf dem ganz schmalen grat zwischen einer echten bezeugten verneigung vor den opfern - und auf der anderen seite einer sensations- und publicityheischenden unbotmäßigen "leichenfledderei"-show. mir wird dabei die ernsthafte trennung zwischen echtem anliegen und den fast immer einhergehenden etwas makaberen anteilen an "spaß-faktor" bei aller "künstlerischer freiheit" nicht immer klar. aber da empfindet die "kunst" der jüngeren zps-initiatoren vielleicht emotional anders als ich.

ich weiß aber auch nicht, inwieweit so etwas mit den geboten der jüdischen totenruhe in einklang zu bringen ist. ich weiß aber, dass eben die prominente fürsprecherin des großen stelenfeldes, lea rosh, einmal einen gefundenen backenzahn vom gelände des vernichtungslagers sobibor nachträglich bestatten ließ, weil es da massive kritik an ihrem umgang mit diesem relikt von seiten der jüdischen gemeinde gegeben hat. frau rosh wollte damals nämlich den zahn einer der betonstelen feierlich beigeben. aber ein solch christlicher reliquienkult sieht das judentum nicht vor. und ich finde, da ist die jetzige zps-stele mit knochenstaub ja nicht von diesem damaligen ansinnen der frau rosh ganz weit entfernt. 

und das alles hat die zps auch noch verbunden mit dem aufruf zur "weihnachts"-spende, um diese neue stele vor dem reichstag mit der vermeintlichen asche von den ns-opfern, nach der man wie die archäologie regelrecht mit schwerem gerät fahndete nach der derzeitigen probeaufstellung dann auch fest für immer zu installieren. 

also - ganz ehrlich - obwohl ich ja für neue wege des erinnerns und gedenkens immer offen sein möchte: fällt es mir verdammt schwer, meine empfindungsfrequenz vom "gängigen" ns-opfergedenken mit dem mir eingepflanzten ritualerwarten hier jetzt ganz neu auf eine themenbezogene aktionskunst-performance zu kalibrieren, die gedenken auslöst, indem sie  - nach meinem empfinden - das vielleicht zu sehr zudeckende und abschottende stelenfeld nebenan neben dem brandenburger tor nun quasi mit dieser gläsernen stele "nach außen" krempelt.

"künstlerisch" mag das ja "herausragend" und "phänomenal" sein - und vielleicht werde ich auch nur alt - aber es löst in mir wenigstens kein opfer-mitempfinden und keine nachtrauer aus - nur sensationsgier - ja - und dann abscheu - es ist für mich einfach ein zu sehr gezirkelter "klamauk".

und die richtungen, die eine zeitgemäße und durchaus auch überraschende gedenk- und erinnerungskultur beinhalten kann, sind für mich beispielsweise die stummen längen im "shoah"-dokumentar- und interview-film von claude lanzmann damals. oder auch das hallende eisentürklappen im "felix-nussbaum-haus" in osnabrück und die dortigen nackten betonwände: ein asymmetrisches, dramatisches ensemble, ganz nachempfunden der biografie des künstlers nussbaum, der in auschwitz ermordet wurde. auf den gängen und rampen dieses museumsbaus geht es beschwerlich aufwärts oder unausweichlich bergab. schmale schlitze lassen tageslicht zwar hinein, doch hinausblicken kann man nicht - und wenn, dann ist auch dieser blick blockiert. ausweglose empfindungen, die der architekt daniel libeskind bewusst mit "eingebaut" hat.

oder in einem beitrag las ich davon, dass der polnische historiker robert traba als beispiel gegen eine "verkitschung" des holocaust-gedenkens eine tonaufnahme aus dem vernichtungslager kulmhof/chelmno abspielt: nichts ist da zu hören als der wind, der über die weite, öde fläche der gedenkstätte weht...

aber auch die theater-sequenzen zu einzelnen opfer-schicksalen in schüler- und jugendtheatern und ihre dokumentarischen und emotionalen photo-/video-/audio-workshops im aufspüren der deportationswege bis in die vernichtungslager sind hervorragende erinnerungs- und gedenkanstöße, wobei durch "mittun" das ganze geschehen auch tatsächlich durch den körper geht - und nicht nur im kopf verbleibt, der rasch wieder vergisst und vielleicht im moment unkonzentriert oder abgelenkt ist.

ja - aber jeder mensch soll gedenken dürfen "nach seiner facon": der eine so - der andere so...
u p d a t e vom 4.12.2019:

  • inzwischen rudert das zps zurück: stellungnahme click here