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Lebensfunken. Bei Michelangelo steht der sanfte Körperkontakt am Beginn der Schöpfungsgeschichte. Die Politik kann sich daran ein Beispiel nehmen. Foto: John Parrot/Stocktrek Images | Tagesspiegel

Was uns berührt


Nationalistisch-unnahbar oder pluralistisch-zugewandt: Welche Form des Miteinanders wird in der Coronakrise geboren?

Von Armin Lehmann | Tagesspiegel

Von Geburt an, in der Not oder vor dem Tod ist körperliche Berührung, wenn sie freiwillig und zugewandt geschieht, immer eine existenzielle Gemeinschaftserfahrung. Babys brauchen Körperkontakt, um zu überleben, Menschen in Panik beruhigt es, wenn sie gehalten werden, sterbenden Menschen vermittelt die aufgelegte Hand Geborgenheit.

Denken wir das Somatische und das Soziale am Berühren zusammen, können wir sehen, wie resilient eine Gesellschaft ist. Dann führt der Begriff zudem geradewegs hinein in das Dilemma unserer polarisierten Zeit: Werden Gesellschaften nationalistisch-unnahbar oder bleiben sie pluralistisch-zugewandt?

Die Bedeutung des leiblichen Berührens geht weit über eine erotische Stimulation hinaus. Die Natur hat dem Menschen dazu besondere Nervenzellen geschenkt: Die sogenannten C-taktilen Nervenzellen, die langsamer als andere Nervenzellen Informationen weiterleiten und dabei quasi aus der mechanischen Berührung ein Gefühl machen. Diese Zellen vermitteln soziale Nähe.

Doch jetzt, in Zeiten der Coronakrise, sind viele Menschen wie in Isolationshaft. Ausgerechnet Beziehungsentzug gilt als sozial, körperliche Abgewandtheit rettet Leben. Großeltern dürfen ihre Enkel nicht küssen, nicht sehen; erwachsene Kinder stellen Einkaufstüten vor die Türen ihrer Eltern anstatt sie zu umarmen. Auf Intensivstationen sterben Menschen ohne tröstendes Flüstern eines Angehörigen.

Gerade aufgrund des Verbotes von Körperkontakt - in Indien beispielsweise werden die Menschen bei Missachtung des Verbots von der Polizei verprügelt -, wird uns bewusst, wie wichtig er ist. Das erscheint uns jetzt selbstverständlich, war es aber schon vor der Corona-Pandemie nicht mehr: Die berührungslose, einsame Gesellschaft war in weiten Teilen der Bevölkerung Realität. Sie hat zur Polarisierung der politischen Situation beigetragen.

41 Prozent aller Haushalte werden von Singles bewohnt, in der Pflege von älteren Menschen, in Krankenhäusern oder Kitas herrscht Effizienzdruck und Personalmangel, Gewalt gegen Alte und Kinder, auch häusliche Gewalt ist ein wachsendes Phänomen.

Gleichzeitig können wir uns die Dinge und Kontakte in einem Maße aneignen, sie konsumieren, wie keine Gesellschaft vor uns. Wir kommunizieren über die sozialen Medien mit vielen Menschen gleichzeitig - allerdings ohne tatsächliche Gegenwart. Und so ist Entfremdung, einhergehend mit dem Gefühl des Nichtgeborgenseins, oft unsere Realität.

Trotz sozialer, politischer und auch psychologischer Unterschiede sind wir letztlich alle in einer Krise der Berührung - die schon vor Corona begonnen hat.

Wir sind in dieser Krise, weil wir die Welt, wie sie sich uns heute darstellt, in unterschiedlicher Form, bewusst oder unbewusst, als Bedrohung wahrnehmen. Die einen fürchten den sozialen Druck oder die Konkurrenz in der Bildung, auf der Arbeit, sie fühlen sich überfordert, weil sie glauben, in ihrer Leistung nicht mithalten zu können. Die anderen fühlen sich bedroht von Arbeitslosigkeit, Einsamkeit in abgehängten Gegenden auf dem Lande oder von einem Nicht-mehr- Gesehenwerden in der analogen Welt. Sie wollen Beziehungen, haben aber verlernt oder nie gelernt, sie zu führen.

Zuletzt hat uns der Soziologe Hartmut Rosa eine Beziehungsstörung gegenüber uns selbst und der Welt attestiert. Wir sind sehr gut in der Lage, unsere individuellen Bedürfnisse und Rechte einzufordern. Wir sind freier denn je. Und doch nehmen Burn-out und Depressionen zu - trotz Work-Life-Balance-Ratgeber, Yoga- Retreats oder dem Versprechen der Wellnessindustrie, dass unsere Körper formbar und schön bleiben.

Thomas Fuchs, Professor für philosophische Grundlagen der Psychiatrie in Heidelberg, sagt: „Die westliche Kultur kennt keinen Stillstand, keine Handlungshemmung, kein Verweilen.“ Dabei haben wir im Moment ein dringendes Bedürfnis danach, gerade weil unsere Fokussierung auf Wachstum, Wohlstand und Selbstoptimierung uns immer weniger Zeit für Berührungen lässt.

Die Zeit, erklärt Fuchs, erscheine uns wie ein Pfeil, der rasant vorwärtsstrebt. Unsere Bio-Zeit dagegen, der Schlaf-Wach-Rhythmus etwa oder der Stoffwechsel, kommt dem Pfeil nicht hinterher. Wir leben schon lange in einem System, das auf wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Beschleunigung basiert - und die leibliche Gegenwart reduziert. Mit sozialen Folgen: In den USA haben Langzeitstudien ergeben, dass College- Studenten seit 2000, seit dem Siegeszug des Smartphones, weniger empathiefähig, weniger beziehungsfähig sind.

Jetzt sind wir „radikal aus der Beschleunigung herausgefallen“, wie Fuchs konstatiert. Und im Hinblick auf Berührung leiden wir wie der Süchtige auf Entzug. Zwar haben alle Menschen, das liegt in unserer Natur, offene oder unterdrückte Sehnsüchte nach Berührungen, handeln konträr.

Manche suchen den Kontakt, wollen helfen, sie spielen für andere Musik in den sozialen Netzwerken, applaudieren von Balkonen oder machen trotz der Gefahr für die eigene Gesundheit Überstunden als Pfleger oder Ärzte. Es ist ein empathisches, berührendes Verhalten, das wir erleben. Andere jedoch igeln sich ein oder leugnen, geben der Regierung oder China die Schuld und schotten sich vor ihren eigenen Ängsten ab. Auch das menschlich verständlich.

Sehnsucht und Bedürfnis nach Berührbarkeit sind in uns allen verankert. Mit oder ohne Corona. Unsere Elternbeziehung von klein auf, unsere sozialen Kontakte und gesellschaftlichen Prägungen haben einen Einfluss auf das Maß unserer aktuellen Bedürfnisse und unseres individuellen Leidensdrucks. Vereinfacht gesagt gibt es nur zwei Varianten, wie wir in persönlichen wie gesellschaftlichen Krisen handeln: Aktivität oder Rückzug. Helfen oder abschotten. Das gilt übrigens für Regierte wie Regierende.

Persönliche Prägungen können einhergehen mit politischen Überzeugungen. Klimaleugner ebenso wie die Neue Rechte, zu der Teile der AfD gehören, haben verhaltenspsychologisch ähnliche Reflexe und Strategien. Abschottung, Rückzug und den Wunsch nach Wehrhaftigkeit. Je pathologischer Angst und Sehnsucht nach Berührung sind, desto heftiger können auch die eigenen Ansichten ausfallen. Beim Retten (Klima), wie beim Verteufeln (Geflüchtete). In neurechten und rassistischen Zirkeln ist beispielsweise die Sehnsucht nach Wehrhaftigkeit durch Gewalt groß.

Der amerikanische Neurechte und Rassist Jack Donovan sieht in der Gewalt das „vorherrschende Prinzip von Männlichkeit“. Jedes neue Zeitalter der Menschheit sei durch „schöpferische Gewalt“ bestimmt. Krisen, die uns berühren und Angst machen, erhöhen die Abschottungsreaktionen und die Erwartungen an „die da oben“. Björn Höcke twitterte gerade, es zeige sich nun, „dass der Nationalstaat die letzte Schutzmacht für seine Bürger ist“.

Doch wie wir jetzt in der Coronakrise spüren und sehen, liegt der Schutz nicht in erster Linie im Autoritären, wie Höcke glauben machen will, sondern mindestens ebenso in Differenziertheit, Anteilnahme, Teamwork. Die Fähigkeit der Berührung meint nicht nur die somatische, sondern auch die Kompetenz, Krisen konstruktiv miteinander zu lösen. Das hat auch US-Präsident Donald Trump lange nicht verstanden. Er ist soziologisch gesehen Dezisionist, begründet also keine Entscheidungen; Angela Merkel wäre dagegen differenzversiert, sie versucht, Macht auszutarieren und über Beziehungen und Diskurse Kompromisse zu finden.

Thomas Fuchs, auch Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, meint, dass Deutschland diesen Krisenspagat aus Handeln und Beziehungspflege (zum eigenen Volk) bisher ganz gut hinbekommen habe. Es seien nicht wie in China von oben herab autoritär Befehle erteilt, sondern mit den Worten der Kanzlerin Dringlichkeit und Empathie zugleich vermittelt worden. Die deutsche Politik habe verständnisvoll und mit Hilfe von Experten, Virologen, Ärzten, Psychologen, also im Team, die Dinge mühsam und geduldig erklärt. „Das hat die Politik glaubwürdig gemacht“, sagt Fuchs.

Bliebe die Mehrheitsgesellschaft gerade durch das Bedürfnis nach Berührung solidarisch - könnte diese Krise eine große Chance sein. Lassen wir nach Corona dauerhaft wieder mehr Nähe im Alltag zu? Gute Gesellschaften entstehen durch gute Beziehungen, in denen wir einander berühren und voneinander berührt werden. Dann sind sie, sagt Fuchs, „die größte Friedensdividende“.

© CLAUDIO FURLAN/LAPRESSE/AP/DPA | Tagesspiegel


"das hat mich aber jetzt echt berührt", sagt man ja, wenn man "angerührt" ist von einer situation, einer szene, die einem "nahe kommt".

also ich bin der meinung, der mensch ist sensorisch so gut ausgestattet, dass er auch in der sozialen abstinenz nicht vereinsamt und sogar in gewisser weise kommuniziert - nur anders.

dafür gibt es keine allgemeingültige und globalkulturelle norm. da ist der eine so gestrickt - und die andere so.

das sind ganz individuelle empfindungen, die auch wieder viel mit c.g.jung's "archetypen" und seinem "kollektiven unbewussten" zu tun haben - und auch mit den "spiegelneuronen" im kopf, die automatisch bereits eine besondere mimik der bezugsperson oder eine bestimmte wahrnehmung in der vorstellung bereits aktiv mit durchführt und vollendet, als sei man selbst involviert - wenn man also im nu weiß, was gemeint ist und mit "durchlebt" - wie man automatisch subjektive anzeichen deutet, "be-deutung" verleiht - und meistens damit ja sogar richtig liegt...

in bruchteilen von einer sekunde entscheidet sich, wie man bei einer begegnung mit einem menschen, den anderen "einschätzt", be- oder verurteilt, sympathisch findet oder eben für sich einfach nur "abhakt".

mich hat ein kurzer teilaspekt aus dem obigen text beispielsweise besonders "angesprochen": "Die Fähigkeit der Berührung meint nicht nur die somatische ..."  

bei "be-rührung" ist immer etwas anderes mit im spiel, nämlich eine vielleicht nur imaginäre "be-gegnung": man will jemanden oder etwas an- und berühren oder man erwartet oder ist überrascht von einer be-rührung. 

und eine be-rührung beinhaltet zumeist eine entschlüsselung und eine einordnung in die eigene automatische aktions- und reaktionsempathie einem anderen mit-lebewesen "gegen-über".

es gibt also nicht nur das somatische 
"(er-)spüren" der haut, der stimme, des atems des anderen - und da ist auch nicht nur die somatische berührung: da gibt es eben auch noch, gerade auch in der #corona-"einsamkeit" und sozial-abstinenz, ein anderes quasi "nonverbales" berührtwerden.

wenn nämlich ein ganz bestimmtes "profil" einen "eindruck" erweckt - und auch hinterlässt: und das kann auch über die medien geschehen: mit dem schreibstil in einer kolumne -  mit der mimik der sprecherin in der "aktuellen stunde" im tv, mit dem tonfall aus dem audiogerät, mit den geräuschen, die die mitbewohner machen, durch alle wände hindurch:

der über mir hat wieder getrunken - und der stellt dann seine unsägliche hackrhythmus-musik auf "volle pulle", oder der nachbar nebenan, dessen bewegung an der wand mit einem kurzen "wisch" wahrnehmbar übertragen wird - und unter uns, der hoffentlich seinen deckenventilator auch bei 23° noch ausgestellt lässt, denn der macht dröhn- und wuppgeräusche unter dem holzfußboden im wohnzimmer.

ja - auch "die wüste lebt" ...

und der olle eduard mörike hat ja schon vor fast 200 jahren sein frühlingsgedicht "er ist's" mit einem ahnen und erfühlen und erwachen beschrieben - ohne jede tatsächliche menschliche begegnung - und trotzdem voller wahrnehmung und erspüren, bei der man auch in der #corona-abschottungszeit regelrecht mit- und nachfühlen kann - auch ganz allein in seiner kemenate:


∼ Er ist's ∼



Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
– Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist's!
Dich hab ich vernommen!

Eduard Mörike (1804 – 1875)




blickst du's noch?

Nehmen wir nun anders wahr?

Was sein Familienporträt der Queen und das Foto einer New Yorker Straße voll dreckigem Schnee miteinander zu tun haben: Ein Gespräch mit Thomas Struth.

Thomas Struths „Crosby Street, Soho, New York“, aufgenommen 1978 Thomas Struth (stern)


Sie haben jahrzehntelang menschenleere Städte fotografiert, nun sehen wir täglich Bilder leerer Straßen und Plätze. Wer Ihr Werk kennt, denkt unweigerlich an die Verlassenheit in Ihren „Unconscious Places“.
Die gegenwärtige Situation hat allerdings mit meiner damaligen Motivation nichts zu tun. Jemand hat in meinen Bildern Ende der achtziger Jahre einmal so etwas wie „die Welt nach der Neutronenbombe“ gesehen. Schrecklich.

Das mag neben der Spur liegen, sieht aber doch die enorme Intensität, die von Ihren Bildern ausgeht.
Ja, das stimmt. Rückblickend wird man später vielleicht fragen können, ob jemand die Architektur, die wir gebaut haben, unter den jetzigen Bedingungen anders wahrgenommen hat als sonst. Mich hat schon immer interessiert, Architektur als Antlitz zu verstehen, abgesehen von der Zuweisung der üblichen Verdächtigen – Bauherren, Architekten, Planer, Baufirmen. Mir ging es darum, das kollektive Unbewusste des städtischen Raums darzustellen. Das wird in den Bildern nur sichtbar durch die Abwesenheit von Menschen. Sie sind ja durch die Ausstrahlung der Architektur unvermeidbar mit eingebettet. Ich würde im Hinblick auf die heutige Situation eher eine Parallele sehen zu der Stille in meinen Bildern. Nach der Überhitzung und Zuspitzung im privaten und globalen Leben, wovon vieles doch Ablenkungsmanöver ist, kann ich als Idealist das jetzt erzwungene Innehalten willkommen heißen, als eine Möglichkeit, Dinge anders wahrzunehmen.


Der deutsche Fotokünstler Thomas Struth
steht vor einem seiner Tierbilder im Guggenheim-Museum -
Foto DPA
Sie waren 1978 in New York, dort ist eine Ihrer bekanntesten Arbeiten entstanden: „Crosby Street“, eine düstere Straßenschlucht mit dreckigem Schnee, könnte ein Still aus einem Gangsterfilm sein. Das Bild ist eher untypisch für Ihre „Unconscious Places“, oder? Stört es Sie eigentlich, dass gerade dieses Foto so prominent geworden ist?
Nein, das ist so ähnlich wie mit meinem Bild vom Pantheon. Ich finde, es gibt komplexere Bilder von mir, aber wenn sich Leute einmal auf bestimmte Werke geeinigt haben, folgen alle dem Sog. Das gibt es auf allen Gebieten der Kunst. Bei „Crosby Street“ war es ein Glücksfall, dass ein Fleetwood Continental, glaube ich, vielleicht war es auch ein Buick, an der nächsten Kreuzung stand, ein klassisches Gangsterauto jedenfalls, und etwas weiter ein gewöhnliches Postauto, das genaue Gegenteil, und hinter den schmutzigen Schneehaufen der einzige Bau von Louis Sullivan in Manhattan, was ich damals nicht wusste. Es war an einem Sonntagmorgen gegen neun. Ich lebte dort für einige Wochen im Loft von Bernd und Hilla Becher und habe auf ihren Sohn aufgepasst.

Alfred Döblin hat in Bezug auf August Sander von „Soziologie ohne Text“ gesprochen. Können Sie damit in Bezug auf Ihr Werk etwas anfangen?
Schon, aber wenn man die vier Bereiche Politik, Psychologie, Soziologie und Philosophie nimmt, dann finde ich Soziologie wegen ihrer großen Nähe zur Statistik am wenigsten aufschlussreich für mich. Ein Bewusstsein für psychologische Zusammenhänge zu entwickeln halte ich für wichtig, um das eigene Sein und das Verhalten von Gruppen zu verstehen. Das Unbewusste unserer Generationen wurde in der Nachkriegszeit ja sehr stark geprägt von den Taten, Konsequenzen, den Erfahrungen und Verdrängungen unserer Elterngeneration. Psychologie spielt aber auch in der heutigen Politik eine große Rolle. Den Titel „Unbewusste Orte“ für die Architekturbilder habe ich gewählt, um Missverständnissen vorzubeugen und klarzustellen, dass es mir nicht per se um Städtebau oder Baustile geht.

Thema Psychologie – Sie fotografieren seit langem auch Familien. Auch ein Thema, das in Zeiten von Social Distancing plötzlich auf eigene Weise aktuell ist. Was bedeutet Familie im Moment für Sie persönlich?
Dass wir hier jetzt zu dritt, meine Frau, unser Sohn und ich, zusammen sind unter den jetzigen Herausforderungen der räumlichen und sozialen Einschränkungen, morgens spazieren gehen, dann Frühstück, Homeschooling, Kochen und so weiter.

Was reizt Sie am Familienporträt?
Die Möglichkeit, mich an einer epischen Geschichte, die ja jeder Familiengeschichte innewohnt, in einer vorübergehenden Momentaufnahme zu versuchen. Ich fotografiere ja keine berühmten Leute, unter deren Bild sich gleich Assoziationen mit dem Werk mischen, wie bei Cartier-Bresson . . .

. . . aber Gerhard Richter . . .
. . . ja, oder die Queen, aber das sind Ausnahmen. Was mich an Familie interessiert, sind Beziehungen. Ich mache die Bilder nach bestimmten einfachen Regeln. Wir verabreden uns, ich baue da auf, wo genügend Licht in der häuslichen Umgebung ist und es für die Beteiligten nach Absprache passt. Die Familienmitglieder können sich danach aufstellen, wie sie möchten. Dadurch passiert in der Regel etwas, was stimmt, etwas Unvermeidbares. Es gibt drei Dinge, die sich niemand aussuchen kann: wo man geboren wird, von wem und wann. Das verbindet uns alle. Wenn die Betrachter sich meine Porträts anderer Familien ansehen, bringen sie ja ihre eigene Familie sozusagen unweigerlich mit.

Der Konflikt ist darin interessanter als Harmonie?
Ja, schon. Meine erste Wahrnehmung von Fotografie kam von den Fotoalben, die es von unserer Familie zu Hause gab. Darunter gab es ein schwarzledernes Kriegsalbum mit einem silbern geprägten Stahlhelm auf dem Deckel, mit schwarzen, kartonartigen Blättern und lauter eingeklebten Schwarzweißfotos unseres Vaters im Krieg. Erschöpft an der Front in Frankreich irgendwo auf dem Feld liegend, mit Fahrrädern und Gewehren oder im Fronturlaub im Fotostudio in Kleve. Das war unheimlich, seltsam und traurig. Es passte eben nicht alles auf den Bildern zu dem, was unser Vater erzählt hat. Da drängten sich Fragen auf, an unsere Eltern, aber auch, wie es kommt, dass Fotografien Wahrheit beinhalten können.

Welche Fragen?
Über das Verhältnis zwischen Tatsachen, Deutungen und Emotionen. Fragen nach den Ursachen von Einsamkeit. Wie Familie eigentlich funktioniert. Ob man sich vorstellen kann, eine eigene Familie zu haben. Ich habe in den Achtzigern den Psychoanalytiker Ingo Hartmann kennengelernt, der Familienfotos neuer Patienten für ein besseres Verständnis ihres Familienlebens zu Rate zog. Er wollte diese Bilder ausstellen. Dabei habe ich ihm geholfen, was für mich eine sehr aufschlussreiche Erfahrung war in Bezug darauf, was Fotografie darzustellen vermag.

So kamen Sie zu Ihren Familienporträts?
Nicht gleich und bewusst. Aber wenige Jahre später war ich kurz hintereinander bei einer japanischen und einer schottischen Familie zu Gast. Zum Dank machte ich von beiden Familien ein Porträt. Die Bilder der beiden Familien in ihrer Gegenüberstellung zu sehen war sehr spannend. Mir war sofort klar, dass das verwandt war mit dem, was mich dazu bewegt hatte, Straßen zu fotografieren.

Die „Unbewussten Orte“ sind ja seit längerem abgeschlossen.
Eigentlich schon. Die letzten Bilder habe ich 2005 in St. Petersburg und 2009 in Hebron gemacht. Aber meine Frau sagt immer, wir sollten eine Rundreise durch Osteuropa, zum Beispiel Bulgarien oder Rumänien, machen, weil sie neugierig auf diese Länder ist und ich dort Straßen fotografieren könnte, aber irgendwie zieht es mich künstlerisch woanders hin, ich weiß es selbst noch nicht. Mich selbst nachzumachen kommt für mich nicht in Frage. Mit meinen Familienporträts ist es schwieriger geworden, seitdem sie mehr Öffentlichkeit genießen und die Beteiligten sich weniger einfach in der Aufnahmesituation fallenlassen. Aber ich versuche es trotzdem immer wieder.

Das Gespräch führte Georg Imdahl.
Text: F.A.Z. Feuilleton


ja - nun wird alles und jedes einmal abgeklopft, ob und ab wann und wie die #corona-internierung uns und unsere psyche und unsere betrachtungsweisen, unsere "wahr"nehmung verändert - und ob die zufällig vorgefundene foto-komposition von thomas struth: straßenschlucht, schmutzige schneereste, mit straßenkreuzer und postauto in schwarz-weiß wohl immer noch mit "gangsterkintopp" assoziiert werden wird.

wobei dreckige schneereste ja hierzulande in diesen zeiten sich schon sehr rar gemacht haben - und von daher dieses berühmte foto von der "crosby street" auch eine urkundliche und historische komponente hat, neben dem "unbewusst" aufgenommenen haus von louis sullivan im background.

äußerst erträglich ist die feststellung, dass fotos oft die "tatsächlich" wiedergegebene erzählung oder zeugenaussage ohne weiteres korrigieren können - zumindest aber zurechtstutzen - nämlich wenn der gezeigte "unbewusste" gesichtsausdruck etwas anderes beinhaltet als die vielleicht heldenhafte erzählung, wie bei struth die erzählungen des vaters vom krieg in frankreich.

mit den gestellten und auspaloverten selfies 
oder den gestelzten "konstruktionen" der mode- und schmuck-influencer von instagram und youtube hat "echte" gekonnte und doch auch meistens immer noch spontane photographie nun nicht allzuviel gemein - und der "knips" erfolgt ja oft aus einem gewissen impuls heraus, aus einem tiefsitzenden wohl oft auch evolutionär vorgeburtlichen "zurück"er-innern von bestimmten "eingelagerten" szenen und "stimmungen" - und die interpretation geschieht dann mit dem uns innewohnenden seismographen, der dann die emotionen und auch die winzigsten haltungsbeben im habitus misst und ausschlägt und anzeigt und festhält.

ein spiegel kann immer nur seitenverkehrt das jeweilige gebaren zurückgeben - die photographie hält den augenblick fest - wenn auch nur ausschnitthaft.

von einem ausgiebigen corona-photoshop-frühlingsspaziergang durch unser wohnzimmer habe ich dir diese blumen mitgebracht


gedenktag an ein ss-kriegsverbrechen: vor 75 jahren wurde walter barking hinterrücks hingerichtet

75 jahre nach 1945: da gibt es vielerorts jetzt anlässe des gedenkens an das ende des krieges und der befreiung von kz's, gefangenenlagern und vieles mehr.

ein besonders perfides stück kriegsgeschichte geschah vor 75 jahren - hier fast direkt vor der haustür, zumindest aber damals vor der deelentür meiner oma - die ja ein jahr zuvor ihre tochter erna kronshage beerdigen musste als ein mordopfer der ns-krankenmorde - und die auch 4 monate später ihren mann verlor, der an seinem asthma starb, was sich seit diesem tod seiner 21-jährigen tochter verstärkt hatte. 

also direkt vor erna kronshages geburtshaus, dem pachtgehöft der kronshages - nähe bahnhof kracks - an der heutigen beschrankten kreuzung verler straße / sender straße / krackser straße, geschah so kurz vor kriegsende (am 4.april 1945) hier im raum bielefeld eine solche fatale und provinziell-verrückte kurzschluss-handlung:


Der schließlich ausgebrannte Königstigerpanzer als Kriegs-Mahnmal in Senne I


Ein fataler Fehlschuss

Bielefeld, das ist für Walter Barking nicht mehr als eine Zwischenstation. Der 25-jährige stammt aus Bocholt, seine Frau wohnt in Sende bei Schloß Holte, und genau dahin zieht es den Soldaten nach seiner Entlassung aus dem Bethel-Lazarett Eckerdsberg. Wo sich seine Einheit befindet, weiß Barking nicht, er ist ein Versprengter, der Anschluss sucht, wie so viele in jenen Tagen. Am Krackser Bahnhof begegnen ihm SS-Männer, die ihn zunächst für einen Deserteur halten. Nach Überprüfung seiner Papiere drücken sie ihm eine Panzerfaust in die Hand und geben ihm den Auftrag, sie auf einen feindlichen Panzer abzufeuern. Walter Barking bezieht Stellung auf dem Anwesen des Kaufmanns Karl Freitag. Dieser hatte schon in der Frühe einen amerikanischen Panzerspähwagen gesehen. Gegen 8 Uhr rollt tatsächlich ein Panzer aus Schloß Holte kommend heran. Barking nimmt Deckung hinter einem Kaninchenstall, zielt und drückt ab. Das Geschoss streift den Turm des Panzers, zwei Männer, die auf dem Panzer sitzen, sterben.

Barking erkennt sogleich seinen Irrtum. Er hat auf einen deutschen Königstiger geschossen, 70 Tonnen schwer, zehn Meter lang. Und die Besatzung merkt sogleich: Das war kein amerikanisches Panzergeschoss, sondern eine Panzerfaust, die nur die Deutschen benutzen. Barking ergreift die Flucht, wird jedoch wenig später aufgespürt und zunächst verprügelt. Dann führt man ihn in ein nahe gelegenes Waldstück. Der 14-jährige Sohn der Familie Freitag beobachtet, wie Barking stürzt und dann hinterrücks erschossen wird. Ein ganzes Magazin feuert ein SS-Mann auf den Soldaten ab.
[einschub sinedi: dieser damals 14-jährige sohn der familie freitag - inzwischen hochbetagt - hat mir vor einiger zeit als zeitzeuge bei einem besuch erzählt, dass seine nachbarin erna kronshage ihm beim lesenüben und beim üben von diktaten geholfen habe - und dass er auch ende februar 1944 den güterwagen auf dem bahn-abstellgleis hat stehen sehen, in dem der sarg mit ernas leiche aus gniezno/gnesen zur beisetzung direkt bis quasi vor den bauernhof der kronshages, ernas geburtshaus, rangiert worden ist...]
Map-Ausschnitt beschrankte Kreuzung Senne II: am roten Punkt hat
Walter Barking mit der SS-Panzerfaust gestanden -
oben halb links der "Mühlenkamp", Erna's Geburtshaus 
Etwa eine Stunde braucht die Panzerbesatzung, um den Königstiger wieder flott zu bekommen, dann fahren sie in Richtung Elbrechter Hof. Dort gerät der Königstiger unter amerikanischen Beschuss und in Brand, ohne auch nur einen Schuss abgegeben zu haben. Bis auf einen Mann, der sich verletzt retten kann, kommt die Besatzung ums Leben. Erst Tage später werden die verkohlten Leichen geborgen, der zerstörte Königstiger steht noch lange zwischen dem Bahnhof Kracks und Windelsbleiche, bis er zerlegt und fortgeschafft wird.

Quelle: WESTFALEN-BLATT vom 01.04.2020 - S.11 - Sonderseite zum Einmarsch der Amerikaner in Bielefeld vor 75 Jahren - Autor: Heinz Stelte WB - Infos auch auf Seiten des Bielefelder Stadtarchivs


Befreiung des Stalag 326 - Stukenbrock

DAS AMERIKANISCHE PRESSEFOTO ZEIGT DEN TAG DER BEFREIUNG DES STALAG 326 IN STUKENBROCK-SENNE AM 2. APRIL 1945 DURCH DIE US-AMERIKANER. 2015 HAT BUNDESPRÄSIDENT JOACHIM GAUCK DEN AUFTRAG ERTEILT, DAS SCHICKSAL DER MENSCHEN AUS DEM ERINNERUNGSSCHATTEN ZU HOLEN. FOTO: ARCHIV DER GEDENKSTÄTTE STALAG 326 (VI K) SENNE



Das Ende des Grauens

Befreiung des Stalag 326 jährt sich zum 75. Mal

Von Monika Schönfeld | WB

Schloß Holte-Stukenbrock. Sie sahen aus wie von den Toten auferstanden: verwahrloste Männer, abgemagert, krank, schmutzig, gehalten wie Tiere. Was die Soldaten der zweiten US-amerikanischen Panzerdivision am 2. April 1945 am Rande des Truppenübungsplatzes in Stukenbrock vorfanden, ließ ihnen den Atem stocken. An diesem Tag wurde das größte Lager der Wehrmacht für sowjetische Kriegsgefangene und Verschleppte im Gebiet des damaligen Deutschen Reiches befreit.




In der Zeit zwischen 1941 und 1945 durchliefen etwa 300.000 Gefangene das „Stalag 326“ zur Musterung von Zwangsarbeit im Ruhrbergbau, auf Höfen und in Fabriken. Schätzungen zufolge starben bis zu 65.000 aufgrund der katastrophalen Lagerbedingungen, in dem nah gelegenen Lazarett Staumühle (Hövelhof, Kreis Paderborn) und den Arbeitskommandos. Die Toten wurden in Massengräbern einen Kilometer entfernt verscharrt – auf dem heutigen Sowjetischen Ehrenfriedhof.

Nach den Juden waren sowjetische Kriegsgefangene mit mehr als drei Millionen Toten die zweitgrößte Opfergruppe der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg. Diese „vergessene Gruppe“ aus dem Erinnerungsschatten zu holen, ist der Auftrag, den vor fünf Jahren der damalige Bundespräsident Joachim Gauck erteilt hat. Er war zum 70. Jahrestag des Kriegsendes zur Gedenkveranstaltung in Stukenbrock und hat die erste der Stelen enthüllt, die die Namen der bisher knapp 16.000 identifizierten Toten tragen.

„Es gab einige Projektteams, die bereits in den 1990er-Jahren zu den sowjetischen Kriegsgefangenen geforscht haben. Im Expo-Jahr 2000 haben wir versucht, den Bekanntheitsgrad des Stammlagers aufzuwerten“, sagt Oliver Nickel, Geschäftsführer der Gedenkstätte Stalag. Während die Gräueltaten in Konzentrationslagern bekannt sind, weiß kaum jemand etwas über die Kriegsgefangenenlager. »Die Bedingungen in dem Lager haben sich eigentlich nicht sehr von denen in einem KZ unterschieden«, sagt Oliver Nickel. Auf dem Papier war das Stalag 326 (VI K) ein Kriegsgefangenenlager. Es unterstand nicht der SS, wie die Konzentrationslager, sondern der Wehrmacht. Es war auch kein Vernichtungslager, wie zum Beispiel Auschwitz, wo die Juden in die Gaskammern geschickt wurden. „Ich habe aber mit ehemaligen Gefangenen gesprochen, die sagten: ‚Was für die Juden Auschwitz war, war für uns Stukenbrock‘“, erzählt Nickel.

Seit 1996 gibt es die Dokumentationsstätte Stalag 326 im Arrestgebäude des ehemaligen Lagers, am Original-Schauplatz. Denn das Gelände des Stalag war nach dem Krieg zwei Jahre lang Internierungslager für Wehrmachtsoffiziere, von 1948 bis 1970 wurden die alten Baracken weiter genutzt, um hier Vertriebene aus den deutschen Ostgebieten aufzunehmen, später DDR-Flüchtlinge und Spätaussiedler. Das „Sozialwerk Stukenbrock“ wurde von verschiedenen Organisationen getragen, hatte Kinder- und Altenheime, Theater, Geschäfte und war damit eine Stadt innerhalb der Stadt. 1970 ist die Bereitschaftspolizei eingezogen, heute ist das Gelände „Polizeischule“ – der offizieller Name lautet Landesamt für Aus- und Fortbildung der Polizei und Personalangelegenheiten NRW. Die Hoheit der Polizei auf dem Gelände schützt die Gedenkstätte, macht sie aber auch schwer zugänglich.

Um die Gedenkstätte Stalag 326 zu einem internationalen Bildungs- und Begegnungsort zu entwickeln, hat sich nach dem Gauck-Besuch ein Lenkungskreis unter der Leitung des Landtagspräsidenten André Kuper gebildet. Das Land Nordrhein-Westfalen, die Landeszentrale für politische Bildung und der Landschaftsverband Westfalen-Lippe als obere Denkmalbehörde und Museumsträger wollen die kleine und bisher überwiegend ehrenamtlich geführte Gedenkstätte ausbauen. Der Förderverein der Gedenkstätte hat gemeinsam mit der Polizei und Privatleuten einen Fundus von Gegenständen wie Strohkörbchen und geschnitzten Holzlöffeln gesammelt, die die Kriegsgefangenen angefertigt haben, um sie gegen Brot zu tauschen. Es gibt Filmmaterial, Fotos, die der Lagerarzt gemacht hat, aber auch bei Bauarbeiten im Aushub gefundene Schuhe, Blechnäpfe, Löffel. Diese Fundstücke aus Ausgrabungen haben Archäologen des Landschaftsverbandes vergangenes Jahr dokumentiert.

Angelaufen ist die wissenschaftliche Aufarbeitung mit ei­nem Symposium und dem inzwischen dritten Workshop. Parallel ist eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben worden. Die Technische Hochschule OWL hat eine Synopse geliefert, Masterstudenten haben 2019 Ideen für ein Besucherzentrum auf dem Gelände vorgestellt. Das soll die denkmalgeschützten Gebäude (Arrestgebäude, Entlausung, Lagerkirche, Lagerstraße und Sozialwerksbaracken) und das historische Umfeld mit dem Bahnhof Hövelhof, dem Lazarett Staumühle, dem Russenpatt, der Waschstelle an der Ems mit dem Ehrenfriedhof sowjetischer Kriegstoter einbeziehen.

Bis zum 31. Juli soll der Antrag auf eine Anschubfinanzierung des Bundes gestellt sein. Bis Ende des Jahres geht es um eine neue Trägerstruktur, an der sich Stadt, Kreis, Land und Bund beteiligen, in der der Förderverein der Gedenkstätte aber einen festen Platz behalten wird.


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Text aus: WESTFALEN-BLATT, 01.04.2020, Seite 3

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auch im studien- und memorialblog für erna kronshage habe ich im abschnitt 7: "bomben auf senne II" (7-4) vom lager stukenbrock berichtet, weil ja im bahnhof kracks, direkt vis-á-vis dem bauernhof, auf dem erna kronshage lebte und arbeitete bis zu ihrer einweisung nach gütersloh, die russischen gefangenen manchmal mit den transportzügen ankamen - und dann zum lager marschieren mussten (ca. 15 kilometer) bzw. von dort zu ihren einsatzorten abfuhren oder ankamen - oder auch in der nachbarschaft auf höfen als zwangsarbeiter eingesetzt waren:
Ab dem 10.07.1941 bis zum Kriegsende wurde das Lager STALAG 326 (VI K) Senne in Schloß Holte-Stukenbrock mit vielen Tausend russischen Kriegsgefangenen belegt, die auch teilweise in der Landwirtschaft verstreut in der Senne und wahrscheinlich in der nahegelegenen Eisen- und Stahlgießerei Tweer am Krackser Bahnhof eingesetzt wurden. Fast täglich fuhren also Gefangenentransporte in Güterwagen der Reichsbahn auf den Gleisen des Bahnhofs Kracks in unmittelbarer Sichtweise am Mühlenkamp vorbei. 
Jedenfalls berichteten Zeitzeugen aus Senne II immer wieder von den "Marschkolonnen" der Gefangenen, von einzelnen Leichen, die am Rand der Schienen abgelegt wurden auf der Strecke der Sennebahn bis Hövelhof - und von verzweifelten Lebensmittelerbettelungen dieser zerlumpt und ausgemergelt daherkommenden jungen Männer, die zunächst dort im Lager in Erdhöhlen "hausen" mussten unter den unmöglichsten hygienischen Bedingungen die Seuchen und Verlausungen auslösten - fern jeder Bestimmungen der "Genfer Kriegskonvention".  
Ca. 65.000 tote Kriegsgefangene wurden von 1941-1945 auf dem Lagerfriedhof in Stukenbrock begraben - zum Teil in Massengräbern (Stichwort: "Blumen für Stukenbrock")...  
aus: erna-k-gedenkblog, Abschnitt 7 (7-4) (Bildquelle: ARCHIV DER GEDENKSTÄTTE STALAG 326 (VI K) SENNE)
"Für die Bevölkerung der Senne gehörten die Kriegsgefangenenzüge sehr bald zum Alltag und wurden kaum mehr registriert, da sie mit ihren Sorgen genug zu schaffen hatten. In der Erinnerung haftengeblieben sind nur noch die über das 'normale' Elend hinausgehenden Transporte der Jahre 1941/42 ..." (aus: Karl Hüser/Reinhard Otto | Das Stammlager 326 (VI K) Senne 1941-1945, Verlag für Regionalgeschichte Bielefeld, 1992 - S. 48). 
Der Anblick dieser gezeichneten jungen Männer hat in Erna Kronshage bestimmt nachgewirkt und ihr die Schrecken des Krieges zusätzlich traumatisch vor Augen geführt. Gleichzeitig stieg mit diesen Bildern auch die Angst um ihre Brüder, die als Soldaten an der Ostfront ihren Dienst versehen mussten...

Wenn in China ein malaiisches Schuppentier ...

Das bedrohte und in China begehrte Schuppentier könnte nach chinesischen Angaben Überträger des neuartigen Coronavirus sein. Die Untersuchung von mehr als tausend Proben von Wildtieren habe ergeben, dass die Genomsequenz von Viren aus dem Schuppentier zu 99 Prozent mit der des neuen Coronavirus 2019-nCoV übereinstimme, berichtete die South China Agricultural University in Guangzhou. Allerdings gibt es bisher keine wissenschaftliche Veröffentlichung mit aussagekräftigen Daten, die belegen könnten, dass es sich bei dem Schuppentier-Virus tatsächlich um die Quelle für den Ausbruch der 2019-nCoV-Seuche handeln könnte. 
Einer anderen, unlängst veröffentlichten Studie zufolge stimmen die Gensequenzen des Virus mit den in Fledermäusen kursierenden Coronaviren zu 96 Prozent überein. Die Fledermäuse sind das Reservoir für sogenannte Betacoronaviren, zu denen auch das neue Coronavirus und das Sars-Coronavirus zählt. Als sehr wahrscheinlich gilt wegen der molekularen Eigenschaften der Viren-Oberfläche, dass nicht die Fledermäuse selbst das Virus auf den Menschen übertragen haben, sondern andere Tiere, die als Zwischenwirte möglicherweise auf einem der Tiermärkte wie dem in Wuhan verkauft wurden. Ein wichtiger Übertragungsweg sind Kot und Urin der Fledermäuse, das auf den Tieren landet. (F.A.Z.)
Malaiisches Schuppentier (nach einem DPA-Foto)

Ausgerechnet ein Tier, das wir fast ausgerottet haben, könnte der Überbringer der Corona-Seuche sein. Das ist grausame Ironie - und ein Lehrstück über Ursache und Wirkung.
Textbausteine aus "Ist der Mensch lernfähig?", einem Gastbeitrag von Judith Schalansky in der SZ vom 01.04.2020

"In China ist ein Sack Reis umgefallen" ist ein geläufiger Ausdruck für ein unwichtiges Ereignis. In der kurzgeschlossenen Welt gilt er nicht länger. Ob in britischen Ställen BSE auslösendes Fleischmehl an Rinder verfüttert wird oder auf einem fernöstlichen Markt eine Kobra oder eine Fledermaus geschlachtet wird, ist sehr wohl für die Menschheit der ganzen Welt von Bedeutung. Letztere Tiere galten als die ersten Verdächtigen für den Ursprung des aus dem Tierreich stammenden Virus, zumal Fledermäuse eine ganze Reihe von Coronaviren beherbergen, ohne dass dies ihre Gesundheit beeinträchtigen würde. Mittlerweile vermutet man, dass ausgerechnet ein Malaiisches Schuppentier jener Zwischenwirt gewesen ist, der das zu SARS-CoV-2 mutierte Coronavirus auf Menschen übertragen haben muss. 

Es stammt ... aus den südostasiatischen Regenwäldern, wo es niemals hätte gefangen genommen werden, so wie es auf keinem Markt der Welt hätte feilgeboten werden dürfen, da jeglicher Handel mit diesen Tieren oder deren Körperteilen verboten ist. Denn die einzelgängerisch und nachtaktiv lebenden Insektenfresser sind vom Menschen so stark bejagt, dass viele Populationen zusammengebrochen sind, und niemand weiß, wie viele Individuen der acht vom Aussterben bedrohten Unterarten überhaupt noch existieren. Schuppentiere sind die am häufigsten illegal gehandelten Säugetiere weltweit. Allein im Jahr 2018 wurden 62 Tonnen geschmuggelte Schuppen sichergestellt. Dementsprechend hoch sind die Schwarzmarktpreise, da ihr Fleisch als Delikatesse und ihre Schuppen in der traditionellen chinesischen Medizin als Wundermittel gelten.

Es bedarf keiner ausgeprägten Neigung zum schwarzen Humor, um die grausame Ironie wahrzunehmen, die darin liegt, dass ausgerechnet ein scheues, wehrloses Säugetier, das durch menschliche Bejagung kurz vor seiner Auslöschung steht, Überbringer einer Seuche sein soll, die allein bisher Zehntausende von Toten gefordert hat und etwa ein Viertel der Weltbevölkerung in die eigenen vier Wände verbannt.

Es ist lebensnotwendig, die ganze Welt als Organismus zu begreifen

Es erinnert uns daran, dass auch wir verwundbar sind, [der Mensch,] ein Säugetier, das mit seinen acht Milliarden Exemplaren für ein Virus nichts anderes ist als ein weiterer, idealer Wirt. Bei drohender Gefahr rollt sich das Schuppentier ein. Nichts anderes tun wir gerade. In diesen Wochen wird klar, dass die größere Herausforderung des Lebens darin besteht, die Welt nicht zu erobern, sondern verdammt nochmal zu Hause zu bleiben, vorausgesetzt natürlich man hat eins.
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Ein Virus, das alle Menschen heimsuchen kann, lehrt uns einmal mehr, wie unerlässlich, ja lebensnotwendig es ist, die Welt als einen Organismus zu begreifen.

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ja - so ist das: weil in china ein malaiisches schuppentier mit dem blut oder kot einer fledermaus auf einem illegalen tiermarkt bespritzt wurde, kann ich hier in deutschland nächste woche nicht meinen urlaub an der nordsee antreten ... 

okay - diese floskel: "in china ist ein sack reis umgefallen", habe ich in einem meiner beiträge hier zum #coronavirus dieser tage schon einmal gebracht - und bei google kursiert auch meine variante: "wenn in china ein sack reis umfällt oder am amazonas ein schmetterling mit den flügeln schlägt, dann kann das in norddeutschland einen wirbelsturm auslösen" – denn so erklärt man gerne die "chaostheorie".

diese chaostheorie war "zufällig" von dem amerikanischen meteorologen edward n. lorenz (1917-2008) 1963 entdeckt und entwickelt worden bei einer computerberechnung, wo er eine minimal fehlerhafte zahlenreihe eingegeben hatte, und dieser winzige abweichungsfehler potenzierte und exponenzierte sich dann zu einem komplexhaft anderen ergebnis, als es zu erwarten gewesen wäre. daraus leitete sich dann diese "chaostheorie" ab, die auch mit dem begriff "schmetterlingseffekt" beschrieben wurde: denn wenn man die berechnungsketten des mr. lorenz zugrundelegte, konnte man - rein theoretisch und völlig übertrieben - auch beispielhaft "ausrechnen" und "folgerichtig nachweisen", dass "der flügelschlag eines schmetterlings einen tsunami am anderen ende der welt auslösen kann" - so eine ebenfalls gängige erklärungsmetapher dazu, die dann auch im laufe der "vertelleken" und beispielsammlungen diesen "nichtigen" umfallenden sack reis aus china mit einbezog, als ein anfangs zu vernachlässigendes ereignis, was dann aber am ende in ein "verrücktes" ergebnis münden kann. 
  
vor dieser "chaostheorie" galt, dass in der makroskopischen welt alle künftigen entwicklungen prinzipiell vorausberechnet werden können, wenn man nur über genügend rechenkapazität verfüge. aber mit den erkenntnissen von mr. lorenz war nun mit einem mal klar geworden, dass langfristige aussagen über die zukunft praktisch nirgendwo möglich sind. beim phänomen "wetter" hätte man das vielleicht auch schon vorher geglaubt ("wo es denn so her zieht"...), doch erst mit der "chaostheorie" wurde beispielsweise erkannt, dass auch die umläufe der planeten und monde in unserem sonnensystem nicht für alle zeiten im voraus berechnet werden können: kleinste ungenauigkeiten in den anfangsbedingungen können auch hier langfristig zu großen abweichungen führen.

und wir alle erleben ja am eigenen leib mit der #corona-krise jetzt weltweit, wie sich plötzlich und unerwartet "in real life" diese theoretische "chaostheorie" bzw. dieser "schmetterlingseffekt" niederschlägt und zur anwendung kommt - in allergrößtem respekt durch die wissenschaft, der virologen, die entsprechende empfehlungen und warnungen und maßnahmen für das tun und lassen der politik ablassen, die dann in erlassen und verordnungen maßgebend werden - zum schutz vor dieser sich "chaotisch" exponentiell ausbreitenden virusinfektion.

hier können auch die rechenkapazitäten keines rechenzentrums der welt dieses ereignis und die infektionsherde exakt voraussagen - und deshalb ist gerdezu paradox diese unvorhersehbarkeit plötzlich sogar "wissenschaftlich" exakt.

also: die erklärungsmetapher vom "sack reis in china", der durch sein umfallen einen "wirbelsturm in norddeutschland" auslösen kann, trifft in der ausbreitung des #coronavirus tatsächlich plötzlich zu - eine beispielerzählung wird tatsächliche realität...