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"Wer ewig lebt, macht keinen Platz für andere"
Wollen wir eine Welt, in der Millionen hungern und andere steinalt werden? Gäbe es eine Pille gegen das Alter, wäre die Welt ungerechter, sagt Ethiker Peter Dabrock.
Interview: Jakob Simmank und Ulrich Bahnsen | DIE ZEIT
Das Altern aufhalten, ja sogar rückgängig machen – den Menschen verjüngen durch ein paar Medikamente? Das, was Forscher eines Biotech-Unternehmens in den USA an neun Männern geschafft haben wollen, klingt sensationell. Aber auch unheimlich. Es wird weitere Forschung brauchen, um zu belegen, ob dieser kleine Versuch das Zeug zum Jungbrunnen hat. In jedem Fall aber wirft diese Studie schon jetzt große ethische Fragen auf. Wir haben sie mit dem Ethikrat-Vorstand Peter Dabrock diskutiert.
ZEIT ONLINE: Gesetzt den Fall, die Medizin hätte tatsächlich ein verträgliches Mittel gefunden, die biologische Uhr zurückzudrehen. Das Altern also durch Medikamente zu bremsen oder gar umzukehren. Wäre es vertretbar, so eine Jungbrunnen-Arznei auf den Markt zu bringen?
Peter Dabrock: Schauen wir erst mal, ob sich die Ergebnisse aus der aktuellen Studie bewähren. Weder die Presse noch wir Ethiker sollten jetzt einem Hype aufsitzen. Sollte sich die Therapie jedoch als wirksam erweisen, halte ich es dennoch für wenig erstrebenswert und unklug, sie zu nutzen.
ZEIT ONLINE: Heißt das, Sie würden die Forschung daran oder zumindest die Zulassung so einer Arznei verbieten wollen?
Dabrock: Nur, weil man etwas nicht gutheißt, muss man es ja nicht gleich verbieten. Aber mir fallen gute Gründe ein, ein solches Mittel – selbst wenn es sicher und wirksam wäre – nicht einzuführen.
ZEIT ONLINE: Was sollte dagegensprechen, dass Menschen mit Medikamenten ihr Leben verlängern?
Dabrock: Das Problem ist, dass hier entgegenstehende ethische Ansprüche aufeinanderstoßen: Einerseits ist es geboten, Leben zu schützen, Krankheiten zu bekämpfen und vorzeitige Todesfälle zu verhindern. Manche Bioethiker wie John Harris sagen, dass auch die Lebensverlängerung eine Form der Lebensrettung ist. Zudem sollte die Autonomie von Menschen respektiert werden, die eine solche Behandlung in Anspruch nehmen wollen. Andererseits wirft jegliche Technik, die das Leben der Menschen deutlich verlängert, Fragen der sozialen und Generationengerechtigkeit auf.
ZEIT ONLINE: Welche denn?
Dabrock: Es wäre schon sehr schräg, wenn in einer Welt, in der noch immer mehr als 800 Millionen Menschen Hunger leiden und viele nicht einmal eine Lebenserwartung von 50 Jahren haben, andere plötzlich 150 oder 200 würden. Das wäre eine exorbitante Ungerechtigkeit.
ZEIT ONLINE: Das Problem, dass nicht alle Zugang dazu hätten, ist verständlich. Aber warum wäre es auch ungerecht für nachfolgende Generationen?
Dabrock: In jeder Gesellschaft geht es um Gestaltungsmacht. Schon heute gibt es – jedenfalls in Ländern mit einer demografischen Entwicklung wie in Europa – einen Streit zwischen einer, plakativ gesagt, "Politik der alten weißen Männer" und den Interessen und Forderungen der jüngeren Generation. Die einen wollen sich abschotten, die anderen kämpfen um ihre Zukunft. Würden Menschen noch älter, würden diese Spannungen zwischen Jung und Alt exponentiell wachsen.
ZEIT ONLINE: Aber die Jüngeren könnten doch dann auch länger leben, hätten also auch länger Zeit, die Welt mitzugestalten. Wo wäre das Problem?
Dabrock: Generationen müssen sich ablösen können, um die produktive Spannung in einer Gesellschaft zu erhalten. Sonst kommt es zu einem Verlust an Kreativität, gesellschaftlicher Dynamik, Lernbereitschaft und Fortschritt und letztlich zu einer statischen Gesellschaft. Wer ewig lebt, macht keinen Platz für andere. Auch ich selbst denke darüber nach: Ich bin fast acht Jahre im Vorstand des Ethikrates und seit fast vier Jahren Vorsitzender. Ich ahne, sagen zu können, warum es gut ist, dass man nicht allzu lang in bestimmten Verantwortungspositionen bleibt.
ZEIT ONLINE: Und zwar?
Dabrock: Diese Aufgaben erfordern viel Arbeit, Kraft und Zeit. Es besteht die Gefahr, dass man sich dabei abnutzt und gleichzeitig klopfen, wie wir es jetzt bei der Fridays-for-Future-Bewegung sehen, junge Menschen an die Tür und sagen: Wir wollen auch Verantwortung übernehmen. Ich finde das gerecht und gut.
ZEIT ONLINE: Die Lebensverlängerung ist ja auch eine ökologische Frage: Je mehr Menschen auf der Erde leben, desto größer der CO2-Abdruck der Menschheit.
Dabrock: Die Befürworter einer extremen Langlebigkeit sagen: Das könne man managen, indem man den Generationenwechsel verschiebt. Mithilfe von Social Freezing könnte man die Phase, in der Frauen Kinder bekommen, ausdehnen. Außerdem, sagen sie, werden sich Sexualität und Reproduktion weiter entkoppeln. Das würde die ökologischen Probleme beheben, weil die Zahl der Menschen auf der Welt nicht oder nur wenig steigen würde.
ZEIT ONLINE: Sie meinen eine rigorose Geburtenkontrolle?
Dabrock: Ja, das würde nur funktionieren, wenn man mit starken Regeln in das Leben des Einzelnen eingreift. Man erkauft sich die Lebensverlängerung mit hoher Wahrscheinlichkeit also mit einer Art überstaatlicher Gesundheitsdiktatur. Kurzum: Die deutliche Verlängerung der Lebensspanne würde wahnsinnig viele Probleme schaffen. Es wäre also klüger, sich nicht darauf einzulassen.
ZEIT ONLINE: Gleichzeitig könnte sie unsere persönliche Freiheit radikal erhöhen, oder?
Dabrock: Ob es unsere Freiheit erweitert oder ob es sie einschränkt, wenn wir künftig den Zeitpunkt des Lebensendes selbst festlegen müssen, kann man nun wirklich bezweifeln. Wenn wir das Leben der Menschen deutlich verlängern würden, gerieten wir in eine Gesellschaft, in der Ressourcen noch umkämpfter werden. Menschen müssten sich dann womöglich noch stärker für jegliche Form "beschädigten" Lebens rechtfertigen als heute. Ein Beispiel: Wäre ein Depressiver in so einer Gesellschaft noch tragbar? Ich glaube, über sein Ende oder Nicht-Ende Rechenschaft ablegen zu müssen, ist einer der größten Freiheitsverluste, die man sich vorstellen kann.
ZEIT ONLINE: Warum?
Dabrock: Weil es am Ende in einer Dialektik der Aufklärung sogar dazu führen könnte, dass man sich für das rechtfertigen muss, von dem ich glaube, das es unser Leben lebenswert macht: Dass wir alle auf die eine oder andere Weise beschädigt, vulnerabel und endlich sind. Um die Freiheit derjenigen, die bereits leben, derart drastisch zu steigern, muss eine Gesellschaft an anderer Stelle extrem reglementieren: im Hinblick darauf, wann wer Kinder kriegen darf und im Hinblick auf Suizid und Euthanasie. Das kann nicht gut sein.
ZEIT ONLINE: In Ordnung. Kommen wir noch mal darauf zurück, dass – gäbe es so eine Therapie – sie vermutlich schon aus finanziellen Gründen nur bestimmten Menschen zugänglich wäre. Könnte unsere Gesellschaft das hinnehmen? Oder wie könnte man gegensteuern?
Dabrock: Auch diese Frage ist nicht kontextfrei. Um sie zu beurteilen, müsste man erst fragen, ob die Lebensverlängerung spätere Generationen ihrer Chancen beraubt. Und man muss klären, was einem Menschen durch die Behandlung genau ermöglicht wird. Wenn man beispielsweise beobachtet, dass diejenigen, die ein ganz langes Leben erwarten können, eine viel längere Ausbildung durchlaufen und alle Eliteschulen dieser Welt besuchen, um dann erst mit 50 in eine Spitzenposition zu kommen. Wenn sie diese dann auch noch Jahre innehätten, sodass andere nicht mehr an der Gestaltung der Gesellschaft teilnehmen können, wäre das ein Gerechtigkeitsproblem, das durch die Gesellschaft behoben werden müsste.
"Irgendwann stößt das Streben, über sich hinauszugehen, an Grenzen."ZEIT ONLINE: Die natürliche Lebenserwartung betrug im Jahr 1860 weltweit ungefähr 40 Jahre. Durch medizinische Eingriffe sowie die Verbesserung der sanitären Verhältnisse und der Ernährung hat sie sich im Durchschnitt verdoppelt. Warum sehen wir das Zurückdrehen der biologischen Uhr nicht einfach als Fortsetzung dieser Entwicklung?
Dabrock: Das ist ein wichtiger Punkt – obwohl es auch im Mittelalter schon Menschen gab, die 80 Jahre alt wurden. Die menschliche Lebensspanne changiert zwischen einem soliden biologischen Rahmen und dem Versuch, sich selbst zu übersteigern und den Rahmen auszudehnen. Durch religiöse Praxis versucht der Mensch, sich in ein Jenseits hineinzutranszendieren, mit den Göttern eins zu werden oder zu ihnen heimzukommen. Vor allem seit der Neuzeit und Moderne versucht der Mensch, sein Leben aber auch auf der Erde auszuweiten, also zu verlängern. Gerade für Menschen, die für sich nicht die Hoffnung hegen, dass es nach dem Tod irgendwie weitergeht, ist das völlig legitim.
ZEIT ONLINE: Aber?
Dabrock: Gleichzeitig wird er aber merken – das hat Jürgen Habermas während der ersten Gentechnikdebatte Anfang der Zweitausender erstmals vorsichtig zur Debatte gestellt –, dass das Streben, über sich hinausgehen zu wollen, irgendwann an natürliche und gesellschaftliche Grenzen stößt. Ich glaube, dass es einen Punkt gibt, an dem die Lebensverlängerung umschlägt, und man sich eingestehen muss: Das tut weder mir noch der Gesellschaft gut. Und ich sollte mich mit meiner Endlichkeit versöhnen.
ZEIT ONLINE: Befürworterinnen und Befürworter der Lebensverlängerung sagen, dass sie dafür sorgt, dass die krankheitsbelastete Lebensphase vor dem Tod eines Menschen komprimiert wird. Das könnte unsere durch Überalterung massiv belasteten Gesundheitssysteme retten. Wie sehen Sie das?
Dabrock: Sie sprechen von einer Lebensverlängerung von vielleicht zehn Jahren, die sozial gestaltbar ist. Ich glaube, sie könnte sogar ein Impuls sein, um über Lebensgestaltung und Lebensarbeitsbiografien nachzudenken. Momentan halten wir das aus dem letzten Jahrhundert stammende Rentenmodell aufrecht, obwohl wir wissen, dass wir das eigentlich nicht mehr können. Wir müssen neue Lebensmodelle für ältere und alte Menschen finden, die soziale Arbeit, Familienarbeit und Gemeinwohlarbeit beinhalten.
ZEIT ONLINE: Der britische Philosoph Stephen Cave spricht vom Sterblichkeitsparadox: Das menschliche Gehirn sei nicht in der Lage, sich ein Weiterleben nach dem eigenen Tod vorzustellen, ohne zumindest beobachtend daran teilzunehmen. Dieses Paradox lösen wir, indem wir Religionen erfinden, die Weiterexistenzversprechungen machen. Wenn wir eines Tages das Altern nicht mehr fürchten müssen, brauchen wir dann noch Religionen?
Dabrock: Auch ohne die Erfüllung meiner religiösen Hoffnungen auf ein Jenseits kann ich mir vorstellen, dass das Leben nach meinem Tod ohne mich weitergeht. Aber Religion ist ja nicht nur eine Vertröstung auf ein Jenseits, sie ist auch eine Kontingenzbewältigungspraxis. Sie hilft, die Nicht-Notwendigkeit alles Bestehenden, mit der wir tagtäglich konfrontiert sind, zu ertragen: Hier zerbricht eine Ehe, da stirbt ein Kind, dort gibt es ein Erdbeben. Aufgabe der Religion ist es, Sinn in lauter Unsinn zu sehen und zu vermitteln: Es geht weiter, ich gehe nicht unter. Und diese Rolle kann kein dauerhaftes irdisches Leben einnehmen.
Aufgabe der Religion ist es, Sinn in lauter Unsinn zu sehen und zu vermitteln.
Peter Dabrock, Ethiker und Theologe
ZEIT ONLINE: Der männliche Körper galt in der Medizin lange Zeit als Norm, was Frauen noch heute spüren. Auch die bisherige Behandlung zur Lebensverlängerung wurde nur an Männern erprobt. Einer der zentralen Wirkstoffe wirkt im männlichen Körper anders als im weiblichen. Nehmen wir einmal an, die Behandlung würde bei Männern deutlich besser wirken. Ändert das ihre ethischen Überlegungen?
Dabrock: Die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen ist eines der großen Ungleichheitsprobleme im Gesundheitsbereich und damit ein gesellschaftliches Problem. Und wenn eine Maßnahme das noch verstärken würde, wäre es ein weiteres Indiz dafür, dass sie der Gesellschaft als Ganzes nicht guttut.
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das leben ist schön - und erst gestern hatte ich erst mal wieder geburtstag - aber ständig mit einem haufen chemie im körper herumlaufen, die abgeblich meine thymus-drüse wieder in gang setzt, möchte ich auch nicht älter werden als üblich.
meine frau arbeitet in einem altenheim, und erzählt mir, wie die dortigen senioren ab einem gewissen zeitpunkt sagen: genug ist genug - ich will nicht mehr - und manche haben scheinbar eine ganz natürliche "technik" entwickelt, dann auch "schluss zu machen" - wohlgemerkt, ich spreche nicht von "suizid", sondern sie nehmen sich das sterben als nächste oder baldige aufgabe vor - un gutt is ...
und wie oft ist jetzt auch bei den sogenannten "patientenverfügungen" der passus zu hören: "keine 'künstlichen' lebensverlängerungsmaßnahmen" in anspruch nehmen zu wollen ...
die drei medizin-substanzen, die künstlich von außen in ganz gewissen regelhaftigkeiten zugeführt werden müssen, um die thymus-drüse bei neun an sich gesunden männern [sic! - bei frauen testet man das erstaunlicherweise gar nicht erst...] wieder in gang zu setzen, sind ja auch nichts weiter, als vorgebliche "künstliche lebensverlängerungen", die dann letztlich zur vergreisung dieser abendländischen reichen gesellschaft führen werden, mit noch mehr flugreisen und kreuzschifffahrten unter mitführung eines medizinkoffers voller alters-doping-substanzen, die womöglich gar nicht überall zugelassen sind oder unter tropischen bedingungen anders wirken: hätte - hätte - fahrradkette...
psalm 90,10: unser leben währet siebzig jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es mühe und arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon ... - in diesem sinne - und chuat choan und nix für ungut ...
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