Beim Ansteigen der Corona-Infektionszahlen geht es ja auch wieder los mit den "Entscheidungen" um Leben & Tod - um Daumen hoch oder Daumen runter - bei den Entscheidungen vor Ort: wer hat Anspruch auf eine intensivmedizinische Betreuung und Beatmung in den Kliniken bei knapper werdenden Betten-Ressourcen - und wer wird der "Palliativ"-Abteilung zugeschoben - den Stationen zur "liebevollen Sterbebegleitung" und den Hospiz-Einrichtungen.
Die Entscheidungen, die dabei getroffen werden müssen nennt man inzwischen ganz technisch "Triage"-Entscheidungen - ein Begriff von den Schlachtfeldern des Militärs: bei wem lohnt sich noch ein ärztliches Eingreifen - und wem gibt man den "Gnadenschuss/Gnadenstoß".
Auch bei den akuten Unfallopfer-Versorgungen auf Deutschlands-Straßen werden ja implizit ähnliche Entscheidungen tagtäglich getroffen: z.B. wenn bei 6 schwerstverletzten Menschen nur ein Unfallarzt vor Ort ist: wem wendet er sich am ehesten und intensivsten in welcher Reihenfolge zu - oder auch bei einem Vollbrand in einem Altenheim: Wo "lohnt" sich ein Löschen und was muss man "aufgeben" und ausbrennen lassen...
Und bei diesen ethisch-moralischen Entscheidungen oft genug in minutenschnelle kommt man den inzwischen 80 Jahre alten Gedankengängen um die NS-Euthanasie recht nahe - als ganz bewusst und überlegt eine menschliche Auslese betrieben wurde, der "Brauchbaren" und der "Unbrauchbaren" - vom Wem oder Was hat die Gesellschaft noch etwas - und Wer "ist dabei über" ???
Beim Begriff "Gnadenschuss" auf dem Schlachtfeld fällt mir zumindest Hitlers "Befehl" zum "Gnadentod/Gnadenstoß", zum Beginn der verschiedenen Euthanasie-Phasen zwischen 1939 und 1945 ein - und es erschreckt mich die Erkenntnis, dass "versteckt" und "implizit" auch heutzutage solche von Menschen unentscheidbaren "Urteile" über Leben & Tod - Daumen hoch oder runter - immer wieder neu getroffen werden - ohne dass immer ein unbedingtes "Muss" aus dem Nu heraus dahinterliegt ...
Der SPIEGEL schreibt in seiner neuesten Ausgabe von der schwedischen Corona-Auslesepolitik, die hierzulande so oft als "vorbildhaft" hingestellt wird. Da wir mir als Diabetiker Typ II und als Hypertoniker mit 73 ganz anders ...
_________________________________________
Senioren im schwedischen ÖstersundDie grausamen Hintergründe von Schwedens "vorbildlicher" Corona-Politik
Senizid: Triage-Entscheidungen mit unfreiwilliger Corona-Euthanasie gegen die Alten
Der eingeladene Tod
Schweden Warum das Corona-Desaster in den Pflegeheimen eine Vorschau auf die deutsche Zukunft sein könnte.
Von Dietmar Pieper | aus: DER SPIEGEL Nr. 42 v. 10.10.2020
Wenige Staaten geben sich so viel Mühe wie Schweden, ihre Bürger jederzeit und überall vor Gefahren zu schützen. Bald soll es dort keine tödlichen Verkehrsunfälle mehr geben (»Vision Zero«). Alkohol darf nur in den staatlichen Systembolaget-Läden verkauft werden, mit Ausnahme von Leichtbier.
Als die Corona-Pandemie das Land erreichte, fühlten sich die meisten Bewohner wie üblich gut aufgehoben. Sie hielten den schwedischen Sonderweg, ohne Lockdown durch die Krise zu manövrieren, für sicher und vernünftig. Staatsepidemiologe Anders Tegnell und die Regierung betonten, dass die Risikogruppen, vor allem die Alten, umfassend geschützt würden.
Dann aber drang das Virus in die Alten- und Pflegeheime ein und verbreitete sich in einigen Einrichtungen nahezu unkontrolliert. Die Corona-Todesrate liegt vor allem deshalb in Schweden rund zehnmal höher als in den Nachbarländern Finnland und Norwegen. Für ihn, sagte Tegnell in einem Interview, seien die vielen Toten »wirklich eine Überraschung« gewesen.
Bei genauem Hinsehen ist allerdings vor allem die Überraschung erstaunlich. Der Umgang mit den Alten ist ein eigenes, zu wenig beleuchtetes Kapitel der fortdauernden Coronakrise. Außerhalb des Familienkreises wird nur selten darüber gesprochen, welche Fehler Ärzte, Pfleger und andere Verantwortliche gemacht haben, wo medizinische Ressourcen fehlten und welchen Härten die Kranken und ihre Angehörigen ausgesetzt waren. Doch ihre Geschichten verraten viel über den inneren Zustand und die Werte einer Gesellschaft.
Beim Blick nach Schweden schauen die Deutschen auf ein anderes Land, aber immer auch ein bisschen auf sich selbst. Ikea, Abba, Pippi Langstrumpf – was von den Skandinaviern zu uns kommt, scheint leicht heimisch werden zu können.
Auf Kundgebungen gegen die Corona-Restriktionen hat sich in Deutschland die blau-gelbe Schwedenfahne hinzugesellt, als eine Art Symbol der Freiheit. Die Fahnenschwenker sind sich sicher, dass in Stockholm klügere Entscheidungen getroffen wurden als in Berlin.
In Schweden sind die Opfer des Virus, wie anderswo auch, vor allem die Alten. Tegnell spricht immer wieder von den »älteren Alten«. Was genau meint er damit?
Die naheliegende Antwort führt in eine dunkle Zone der Gesellschaft. Was sich dort abspielt, ist nicht schön. Berichte von Angehörigen und Recherchen zeigen, dass zahlreiche schwedische Covid-19-Opfer noch leben könnten.
»Man hat nicht versucht, ihr Leben zu retten«, sagt Anders Vahlne, emeritierter Professor für Virologie am Karolinska-Institut bei Stockholm. Eine leitende Krankenschwester warnte in einem Bericht an die Sozialbehörde zu Beginn der Pandemie, es könne zu Fällen »aktiver Sterbehilfe« kommen.
Nur mit Mühe gelang es dem Stockholmer Arzt Bengt Hildebrand, seinen 78-jährigen Vater zu retten, der sich im Pflegeheim mit Covid-19 angesteckt hatte: »Sie haben ihm Morphium verschrieben. Er wäre still gestorben.« Sein Vater kam dann doch ins Krankenhaus, er überlebte.
Die 78-jährige Rita Hemsén aus Gävle erhielt im Wohnheim Morphium und starb, weil angeblich kein Krankenhausbett frei war. Nach Recherchen eines TV-Senders war diese Auskunft gegenüber den Angehörigen falsch, es habe mehrere freie Betten in Gävle gegeben.
Der 72-jährige Moses Ntanda starb in einem Pflegeheim nahe Stockholm an Covid-19. »Der Arzt sagte, sie würden den Richtlinien für die Behandlung älterer Patienten folgen«, berichtet seine Nichte, »er sei kein Fall fürs Krankenhaus.«
Dass es sich nicht um Einzelschicksale handelte, legen auch offizielle Angaben nahe. Selbst auf dem Höhepunkt der Pandemie habe es genügend freie Intensivbetten in den Kliniken des Landes gegeben, sagte die schwedische Sozialministerin Lena Hallengren. Sie verkündete dies als Erfolgsmeldung, als Beweis für kluges Gesundheitsmanagement.
Völlig abwegig ist ihre Sichtweise nicht. »Flatten the curve« war im Frühjahr das globale Mantra der Virus-Bekämpfung. Um jeden Preis wollten Politiker und Ärzte verhindern, dass bei steil ansteigenden Infektionszahlen die Krankenhäuser überlastet würden. Wer stets freie Intensivbetten vorweisen konnte, hatte wenigstens diesen Kampf gewonnen.
Triage
Gleichzeitig gehörte es zur Vorsorge im Corona-Ausnahmezustand, für die mögliche Überlastung des Systems einen Plan zu fassen. Wer wird zuerst behandelt, wer danach, wer gar nicht mehr? Aus der Militärmedizin hat sich dafür der Begriff Triage eingebürgert. In den schwedischen Richtlinien für die »Priorisierung« sind mehrere Gruppen definiert, die keine Intensivbehandlung erhalten sollen, falls das Gesundheitssystem seine Belastungsgrenze erreicht. Ein Kriterium ist das geschätzte »biologische Alter«, ein zweites sind Vorerkrankungen.
»Wir leben in einer Peter-Pan-Kultur, in der die Jugend verherrlicht wird.«
Wer nach Ansicht der Ärzte biologisch zwischen 60 und 70 Jahre alt ist und zwei Organschwächen aufweist, etwa an Herz und Nieren – keine Priorität. Wer biologisch zwischen 70 und 80 ist sowie ein Organleiden hat – keine Priorität. Wer zwar keine gravierenden Leiden hat, aber biologisch über 80 ist – keine Priorität.
Da die schwedischen Kliniken nie überlastet waren, hätte diese Anweisung in der Schublade bleiben können. Doch so war es anscheinend nicht.
Krankenhausärzte berichten, sie hätten manche der eingelieferten Covid-Patienten nicht angemessen behandeln dürfen. Einer sagte der Zeitung »Dagens Nyheter«: »Wir wurden gezwungen, Menschen vor unseren Augen sterben zu lassen, obwohl wir wussten, dass sie bei Intensivbehandlung eine gute Überlebenschance hatten.« Ein anderer Arzt bestätigte: »Dies passierte mehrmals täglich.« Die Verantwortlichen wiesen die Vorwürfe zurück. Eine Untersuchung wurde eingeleitet, die Ergebnisse stehen noch aus.
Schon jetzt zeichnet sich ab: Der Tod wurde in Schweden geradezu eingeladen. Es begann mit den gravierenden Mängeln in den Alten- und Pflegeheimen. Dann fiel dort oft die Entscheidung, palliative Sterbebegleitung zu verordnen, statt Kranke in die Klinik zu schicken. Und selbst im Krankenhaus mussten Ärzte offenbar aussichtsreiche Behandlungen verweigern.
Womöglich ist Schweden Ländern wie Deutschland nur einige Schritte voraus. Die Lebenserwartung hat dort bereits 85 Jahre für Frauen und 81 Jahre für Männer erreicht (in Deutschland sind es 83,6 und 78,9 Jahre). 60 Prozent der Schweden, die zwischen 65 und 84 Jahre alt sind, fühlen sich bei guter Gesundheit, 2002 lag dieser Anteil erst bei 53 Prozent.
Es gäbe viele Gründe, sich darüber zu freuen. Doch das alte Bild von den siechen Alten dominiert in der Öffentlichkeit. Der Stockholmer Autor Marcus Priftis, der ein Buch über »Supersenioren« geschrieben hat, sagt: »Wir leben in einer Peter-Pan-Kultur, in der die Jugend verherrlicht wird und das Altwerden als eine Verschlechterung mit wachsender Demenz gilt.«
Laut dem World Values Survey, einer internationalen sozialwissenschaftlichen Befragung, zählt Schweden zu den Ländern, in denen ältere Menschen eher geringgeschätzt werden. Danach betrachten kaum mehr als 20 Prozent im Land die über Siebzigjährigen mit Respekt, weniger als in den meisten anderen untersuchten Nationen. Zu diesem Befund passt die in Schweden bekannte Geschichte über die Klippen, an denen sich ein blutiges Ritual abgespielt haben soll.
Für nutzlos befundene Alte stürzten sich danach zur Wikingerzeit von hoch aufragenden Felsen hinunter, oder sie wurden gestoßen. Auch wenn es inzwischen als unwahrscheinlich gilt, dass die Ättestupa-Legende auf einem historischen Kern beruht, wird sie gern erzählt.
Senizid - die freiwillige oder unfreiwillige Euthanasie der Alten
Geschichten über den Senizid, die gesellschaftlich veranlasste Altentötung, gehören auch anderswo zum kulturellen Erbe, etwa in Russland oder Japan. Ihr Wahrheitsgehalt wird heute zwar überwiegend von Forschern in Zweifel gezogen, galt jedoch lange als hoch. Ethnologen lasen die Legenden als volkstümliche Geschichtsschreibung: In verschiedenen Weltgegenden sei es früher üblich gewesen, die Gemeinschaft durch sozial akzeptierten Mord von einer Last zu befreien.
Das Grausigste daran dürfte sein: In den Vorstellungen vom Senizid schlummert das Potenzial, wie eine menschliche Konstante zu erscheinen, die Länder und Zeiten miteinander verbindet. Der Senizid ist auf archaische Weise brutal – und gleichzeitig technokratisch rational.
Auch in Deutschland gibt es nun Diskussionen darüber, dass man sich – wie in Schweden – darauf konzentrieren sollte, die Freiheit der Jüngeren zu bewahren und die Älteren nach Möglichkeit zu schützen. Auch da schwingt mit: Wenn es nicht gelingt, sollen sie eben sterben.
Die Frage, wie lange Alte leben dürfen und wann sie besser sterben sollen, steht aber nicht nur während der Corona-Pandemie im Raum. Sie wird sich in Zukunft noch vermehrt stellen. Die gesundheitsökonomischen Modelle, mit denen die Kapazitäten des Gesundheitswesens berechnet werden, handeln letztlich von nichts anderem: Wem werden medizinische Ressourcen zugeteilt? Und wem nicht?
Um davon nicht überrascht zu werden, lohnt sich ein Blick auf den schwedischen Umgang mit den Alten im Corona-Jahr 2020. Die meisten dürften darin ein abschreckendes Beispiel sehen, eine Verirrung. Wer die nordische Kälte dieser Tage hingegen für zukunftsweisend hält, sollte sich fragen, warum.
Dieses und weitere Beispiele hierzu liest Du hier ...
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen