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Erna Kronshage ist nur eineinhalb Jahre jünger als Sophie Scholl, von der jetzt zum 100.Geburtstag und dem 80. Todestag die Mutmaßungen zu Leben und Schicksal und Charakter mal wieder ungebremst - links & rechts - ins Kraut schießen.
Und Erna gehört eben dieser gleichen Generation an: diese jungen Frauen, die in den "Goldenen Zwanzigern" nach dem Ersten Krieg in die Inflation hineingeboren werden - mit jazzigem Boogie-Woogie oder Be-Bop aus dem Volksempfänger-Radio oder von der Grammophonplatte - und den Fotos vielleicht von Josephine Baker in der alten ausgefransten zigmal durchblätterten Illustrierten Zeitung - die jungen heranwachsenden Frauen, die jetzt vielleicht zum ersten Mal mit einer gewissen "emanzipatorischen Selbstbewusstheit" ausgestattet ihr ureigenes Leben gestalten und in die Hand nehmen wollen.
Erna ist natürlich gegenüber Sophie in gewisser Weise nur ein unakademischer "Bauerntrampel" in der Provinz - "von's Land". Und während Sophie sich über philosophische Zeitfragen den Kopf zerbricht, muss Erna als "Haustochter" mit dem Waschbrett hinterm Bauernhaus die grobe Leinenwäsche am Ziehbrunnen scheuern und durchwwalken und wringen, um sie so mühsam zu säubern - im Haus gibt es keinen Wasserkran - und kein Badezimmer - sondern da war die Pumpe hinten auf der Deele - und die Waschschüssel mit Kernseife und das Abtrocklaken.
Und doch ahnt Erna wahrscheinlich etwas von dieser "anderen Welt", parallel - nur einen relativ kleinen Milieusprung entfernt - zur gleichen Zeit - auf der anderen Seite dieser gleichen Lebensmedaille.
Da will sie hin - dafür lässt sie sich von ihrer großen Schwester zurechtschminken und abpudern für das teure Porträt im "Atelier" beim Photographen mit der Plattenkamera in der Kreisgemeinde - wohin sie sich acht Kilometer weit mit dem Fahrrad auf den Weg macht: in dieser Ahnung, dass ihr tägliches Einerlei in der elterlichen Landwirtschaft doch nicht "das Leben" in seiner Fülle sein kann.
Erna will da raus, will mehr, "will unter intelligenten Menschen sein", wie sie das mal später in der Heilanstalt formuliert - ist auf dem Sprung ...
- Aber dann unten - da ganz unten - schlägt sie ohne jeden Halt ganz hart auf ...
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jetzt zum 100. von sophie scholl gibt es eine menge literatur & stellungnahmen:
hier ein - für mich auch in bezug auf die ambivalenz in erna kronshage - erhellender ausschnitt aus einer rezension des buches von dr. robert m. zoske: "Sophie Scholl: Es reut mich nichts: Porträt einer Widerständigen", propyläen verlag -
"Sophie Scholl ist mit zunehmender historischer Distanz zu einer glattgebügelten Figur geworden, von verschiedenen Seiten vereinnahmt. Der Theologe Robert M. Zoske hat nun eine Biografie über sie verfasst, in der er mit der Mystifizierung bricht. „Sophie Scholl: Es reut mich nichts“, heißt dieses Porträt, in dem er sie als spannende, aber auch widersprüchliche, junge Frau charakterisiert. Zoske räumt zunächst mit der Annahme auf, Scholl sei bloß bis Mitte der 1930er-Jahre beim Bund deutscher Mädel (BDM), einer Teilorganisation der Hitlerjugend, aktiv gewesen – und das auch nur aus Pflichtgefühl. Stattdessen hätte sich Scholl bereits 1939, am Ende der regulären Dienstzeit problemlos vom BDM verabschieden können. Tat sie aber nicht. Aus ihren Korrespondenzen geht hervor, dass sie sich bis 1941 nicht grundsätzlich vom Nationalsozialismus abgewandt hatte.
Viele der heute noch präsenten Erinnerungen an Sophie und ihren Bruder Hans wurden nach Kriegsende von ihrer Schwester Inge Aicher-Scholl geprägt. Sie publizierte 1952 das Buch „Die Weiße Rose“, in dem Sophie Scholl die Rolle der selbstbewussten, emanzipierten Frau zuteil wurde, an der nichts unvorteilhaft, anstößig oder widersprüchlich war. Dabei hatte die vier Jahre ältere Aicher-Scholl laut Zoske viele Erinnerungen an ihre geliebte Schwester überzeichnet und „teils regelrecht verfälschend“ dargestellt.
Es gibt zum Beispiel keine Indizien dafür, dass Sophie Scholl während der letzten Stunden vor ihrer Hinrichtung tapfer gelächelt habe und mit aufrechtem Gang zum Schafott schritt, „ohne mit der Wimper zu zucken und noch einen Gruß an den unmittelbar folgenden Bruder auf den Lippen“, wie Inge Aicher-Scholl es behauptete. Es gibt auch keine eindeutigen Hinweise darauf, dass Scholl schon als Kind durch besondere Intelligenz, „feine Eigenwilligkeit“ und einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn aufgefallen war. Stattdessen, so beschreibt es Zoske, war Scholl ein ganz normales, lebensfrohes Mädchen, das eine große Begabung für Kunst und eine enge Bindung zu Gott hatte. Die Schule verabscheute sie. In ihrer Jugend eiferte Scholl keinen weiblichen Klischees hinterher, nahm sich eher unkonventionelle Frauen zum Vorbild. Sie trug einen jungenhaften Kurzhaarschnitt mit langer Strähne, die sie auf die linke Seite flippte. Sie bewunderte die Malerin Paula Modersohn-Becker, vielleicht auch, weil ihr deren Lebensstil „zwischen einer familiären Bodenständigkeit in Worpswede und dem avantgardistischen Aufbruch in Paris“ imponierte. Trotz dieses Freiheitsdrangs beschreibt Zoske Sophie Scholl auch als in sich gekehrte, in depressiven Stimmungen verweilende, junge Frau.
Scholls tiefer Glaube und die damit einhergehende christliche Sexualmoral stürzten sie immer wieder in Konflikte. Für Sophie Scholl kam das körperliche Verlangen einer Sünde gleich. In zahlreichen Briefen an ihren Freund rang sie mit der gegenseitigen Begierde und verbot sich, dieser nachzugeben. Trotzdem hatte Sophie Scholl Sex mit Fritz Hartnagel. Sie besorgten billige Ringe und quartierten sich in einem Hotel ein. Scholl rauchte, trank Wein und fuhr Auto. Sie lebte wild und asketisch, progressiv und bieder zugleich. Von Unsicherheiten und Bedenken zerrissen, gleichzeitig mit Renitenz erfüllt. Diese Widersprüche machen sie modern und nahbar – weil man sich eben nicht mit Anfang 20 schon vornimmt, sein Leben im Widerstand zu opfern." (aus: Joana Nietfeld: Widersprüche im Widerstand . Tagesspiegel / Kultur . Sonntag, 09.05.2021)
>>> Streit um das "politische Erbe" Sophie Scholls: click here
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