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der mensch ist mehr als die summe seiner teile




Die #App weiß, wann du stirbst

Wir tragen sie ums Handgelenk und in der Hosentasche: Smarte Geräte von Google und Co. machen aus dem Körper Datenpakete

Von Anna-Verena Nosthoff, Felix Maschewski | NZZ

Die Großkonzerne aus dem Silicon Valley arbeiten bekanntermaßen daran, unsere Welt wie eine Karte lesbar zu machen. Jedes geschriebene Wort soll gescannt, jede Strasse und jedes Haus erfasst, jede soziale Regung gesammelt, abrufbar, zugänglich gemacht werden. Man will nicht nur viel, man will alles wissen. Damit sich die Menschheit weniger irrt und verwirrt, besser durch die Gegenwartsgischt navigiert – damit sie datenbasiert an sich selbst gesunde.

So nimmt es nicht wunder, dass GAFA (Google, Apple, Facebook, Amazon) und Co., während sie bereits die Kommunikationssphäre dominieren, den Sektor Gesundheit wie eine Terra incognita vor sich liegen sehen. Die neuen Horizonte bestimmen dabei keine ferne Utopie, sondern ein Land der unendlich profitablen Möglichkeiten, einen Sehnsuchtsort für Weltvermesser.

Krankheit als Geschäft

In dieser Optik scheint der jüngste Vorstoß Tim Cooks nur folgerichtig: Wenn man einst, so die Prophezeiung des Apple-CEO Anfang Januar, nach dem «grössten Beitrag Apples für die Menschheit» frage, werde es nur eine Antwort geben: «Die Gesundheit.» In der «Bereicherung des menschlichen Lebens» erkannte die Firma immer schon ihre Mission. Um diese zu erfüllen, spielt die neue Apple Watch, die jeden Schritt und Pulsschlag erfasst, die entscheidende Rolle – «this is a huge deal».

Das Silicon Valley hat die Krankheit als Marktpotenzial, unser Sein zum Tode als Innovationstreiber erkannt. So drängen die Konzerne zielstrebig in einen Markt, der allein in den Vereinigten Staaten ein Volumen jenseits der drei Billionen erreicht.

Amazon gründete unlängst eine Krankenversicherung, baut gerade Kliniken – probeweise – für die eigene Belegschaft und hat sich die Internetapotheke Pillpack einverleibt. Facebook verhandelte bis zum Datenskandal um Cambridge Analytica mit Krankenhäusern über anonymisierte Gesundheitsdaten, um sie mit denen seiner Nutzer abzugleichen. Und zuletzt entwickelte das soziale Netzwerk einen Algorithmus, der die Aussagen amerikanischer User auf die Gefahr eines Suizids scannt.

Der avancierteste Player im Rennen um unsere Gesundheit ist derzeit jedoch Alphabet. Das Mutterschiff von Google entwickelte zuletzt KI-basierte Software-Lösungen, um Krankheitsverläufe und gar den Todeszeitraum von Patienten in Spitälern genauer zu bestimmen. Mit dem Subunternehmen Verily, vormals bekannt als Google Life Sciences, forschte man bereits an einer Kontaktlinse, die mittels Tränenflüssigkeit die Glukosekonzentration misst.

Doch mit dem ehrgeizigen «Project Baseline» geht Alphabet noch aussichtsreichere Wege, wagt sich mit der «Landmark Study» immer tiefer in unkartiertes Feld: Bis zu 10 000 Probanden sollen, wissenschaftlich von der Duke und der Stanford University begleitet, ihre Gesundheits-, besser: Lebensdaten mit eigens von Verily entwickelten Wearables über vier Jahre lang messen.

Wie der biologische ist auch der Datenkörper immer «work in progress»: So werden nicht nur die Schlafqualität oder die körperliche Aktivität aufgezeichnet, sondern auch Langzeit-EKG durchgeführt, Genome sequenziert, Labor-Scans, Tests auf Herz und Nieren oder zur mentalen Verfassung unternommen. Krankheiten und ihre Entwicklung sollen – in einer Art Live-Ticker – genauer analysiert werden und damit immer besser vorhersagbar werden. Von den Bakterien im Darm bis zur Karies im Zahn, in alle Gebiete des Lebens und Sterbens erhält das Unternehmen nun Einsicht, vermisst sie transparent und setzt alles in einen grösseren, biopolitischen Zusammenhang. Der Begriff des gläsernen Patienten, den man in den Plänen einer elektronischen Gesundheitskarte wie in Deutschland heraufziehen sieht, mutet im Vergleich geradezu brav an. Denn wer bei «Baseline» mitmacht, stellt nicht nur seine alltäglichen Gewohnheiten, den Body-Mass-Index oder die Stimmung unter ständige Beobachtung. Er wird vielmehr, so versichert das Imagevideo des Projekts, zum Teil eines «Movements», einer «Community», die den «Kurs der Menschheit» zu verändern hilft: «Sharing is Caring» lautet das Motto – nun auch bei Google.

Kollektives Empowerment

Im grossen Gesundheitsdatenrausch hat sich also die Tonlage gewandelt. Es geht hier nicht mehr um die fast biedere Transparenz, aseptische Kurven oder gelangweilte Standardfragen. Es geht um kollektives Empowerment. Man könnte hier fast von einer Revolution sprechen, so emphatisch wird die «unglaublich tiefe und detaillierte» Vermessung der Welt in einer Sphäre aufgeladen, die sich sonst lediglich zum «quantified self» durchringt.

Dabei verzichtet diese Umwälzung auf Barrikaden und dreckige Hände, wirkt beinahe unpolitisch – weil sie den Einzelnen lustvoll bis sinnstiftend motiviert, ganz sanft das Leben punktiert: «We’ve mapped the world. Now let’s map human health.» Dass dieses kollektivistische «Wir» nicht ganz so reibungslos funktioniert wie verlautbart, dass hier tektonische Verschiebungen in ganz anderen Dimensionen vor sich gehen, lässt sich erahnen, wenn man Apps und Startups anschaut, die im Umfeld des Grossprojekts wie Pilze aus dem kalifornischen Boden schiessen. So haben Entrepreneure aus dem Valley erkannt, dass das Erfassen mentaler Dissonanzen über Fragebögen nicht ganz verlässlich ist, die Selbstbekenntnisse häufig von verzerrenden Meinungen und lästigen Empfindungen kontaminiert sind.

Man entwickelt daher mit Hochdruck Methoden, die das Innere der Blackbox «objektivieren», das heisst, die trübe Brühe der menschlichen Psyche über beobachtbares Verhalten zu decodieren versuchen. Als das beste aller behavioristischen Aufschreibesysteme bewährt sich hier zurzeit das Smartphone, ein multisensorisch-gläsernes Device, auf dessen Oberfläche sich – zumindest für die digitale Gesundheitsavantgarde – das Unbewusste zu spiegeln scheint.

Besonders das Startup Mindstrong Health des früheren Direktors des amerikanischen National Institute of Mental Health und nicht zufällig auch vormaligen Leiters der Abteilung für psychische Gesundheit bei Verily, Thomas Insel, eröffnet ganz neue Sichtachsen. Man analysiert das Tippverhalten des Smartphone-Users – wie er scrollt, klickt oder wischt –, um qua Mustererkennung Verhaltensprofile zu erstellen, die wie Kompassnadeln auf mentale Schwachpunkte verweisen.

Insel nennt das Verfahren «digital phenotyping», eine Form der Kartierung, die anhand von digitalen «Biomarkern» und ohne Inhalt oder Semantik des Getippten zu deuten, Depressionen zu diagnostizieren verspricht. Wer, vereinfacht gesagt, zu langsam tippt, der erscheint geknickt; wer sehr schnell auf sein Smartphone einhämmert, befindet sich womöglich in einer manischen Phase.

Jede äussere Regung, so die Annahme, reflektiert eine innere Bewegung. Denn nicht das Was oder Warum, sondern lediglich das Wie interessiert, nicht die inneren Konflikte, die Geschichte oder die soziale Konstellation werden mit Begriffen umstellt. Allein die mathematischen Korrelationen zählen, bedeuten nun mehr als jede Intention. Zweckhaftes Verhalten wird in der Folge ohne schwerverständliche Zwecke beschrieben, die Psychologie, wie es der Philosoph Hans Jonas einmal ausdrückte, ganz «ohne Psyche».

Datenbasierte Angst

Das, was bei Baseline oder Mindstrong schließlich anschaulich wird, ist das Zusammenschnurren des Subjekts auf die Summe seiner Datenpunkte. In der Netzwerkgesellschaft gibt es keinen Ort für das einzelne Individuum, denn es ist im Zuge der Auswertungen – das hochgejazzte «Wir» wirkt wie ein latenter Hinweis – kaum noch als solches sichtbar. Allenfalls kennzeichnet es einen Knotenpunkt, der sich lose im Spiel der Patterns bewegt; eine ephemere Hülle, die mehr als Profil denn als fühlendes Subjekt erscheint.

Vor diesem Hintergrund zeichnet sich eine weitere Verschiebung ab: Indem das Leben der Menschen immer detaillierter unter dem digitalen Schleier der Konzerne erfasst, ihr Verhalten immer präziser bestimmt werden kann, werden auch Krankheiten möglicherweise bald immer früher erkannt – wenn wir nichtsahnend auf dem Smartphone daddeln. Das Abwesende ist anwesend im Potenzial, und so hiesse es zeitnäher auf Gefahren zu reagieren, bei Risiken gegenzusteuern, das Verhalten früher zu verbessern, das heisst, es umzuprogrammieren, um damit das Leiden, aber auch die Kosten zu senken.

Zugleich träte man aber in das ein, was man eine datafizierte Präventionsgesellschaft nennen könnte: in eine Existenz, die via Smartphone und Wearable permanent einer Semiotik des Misstrauens unterworfen wird. Jede Faser des Körpers, jede Unstimmigkeit oder Unebenheit des Geistes würden stets nach Abweichungen von der Normal- oder Idealform abgetastet, gewogen oder gesichtet, so dass nichts dem bloßen Schicksal, nichts dem groben Verschleiß überlassen bliebe. Leben wäre – um es mit Michel Foucault zu sagen – tatsächlich ständige, datenbasierte Sorge um sich selbst. Doch kann man jemals gesund genug sein oder wirklich ausgesorgt haben?

Prävention über alles

In der Prävention liegt die produktivste und wohl auch lukrativste Antwort auf unser Sein zum Tode. Denn die Vorbeugung erkennt in der Sorglosigkeit die Nachlässigkeit, gibt eine Richtung vor, schafft Orientierung und legitimiert die Erhebung jedes noch so kleinen Datenpunktes. Geht man also normalerweise davon aus, dass die Prävention nichts hervorbringt, weil sie zu vermeiden hilft, wissen die Konzerne aus dem Valley, dass das Gegenteil wahr ist. Denn wer vernünftig vorbeugen will, hat nie genug Daten gesammelt, hat nie genug Wahrscheinlichkeiten berechnet.

So kartieren GAFA und Co. vermeintlich nur die sichtbaren Oberflächen und Lebenswege, schaffen dabei jedoch ein präventionsindustrielles Wissensregime, das die Pfade des Wohlergehens vermisst und damit vorzeichnet. Unverbesserlich erscheint nur, wer sich nicht danach richtet.
🔴 Anna-Verena Nosthoff ist Philosophin und politische Theoretikerin, Felix Maschewski ist Literatur- und Wirtschaftswissenschafter. Im Rahmen ihrer akademischen Forschung beschäftigen sie sich mit der Kultur der Digitalität.
Neue Zürcher Zeitung, 21.02.2019, Feuilleton, S. 37

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da habe ich jetzt mit flinkem fingerdruck auf die tasten meiner tastatur gehackt - und irgendwo in silicon valley weiß man aufgrund meines anschlagdrucks und der absenkgeschwindigkeit der tasten und der geschwindigkeit meiner eingabe und des spontaneitätsfaktors meiner 2-finger-tipperei, dass ich heute vielleicht gut drauf bin, und dass mir meine kalten fingerkuppen sorgen bereiten - von wegen der durchblutung der kapillaren in den äußeren endgliedern der extremitäten - oder so ...

für mich ist das ganze ein spiel mit der angst des menschen vor seinem tod - und eben die verleugnung dieser unumstößlichen heidegger-prämisse des "seins zum tode". und mit diesem existenziellen wissen und der lebensangst davor lässt sich eben knete generieren ...: 8 milliarden menschen haben nämlich angst vor ihrem tod - und ich schätze mal 4 milliarden bedienen jetzt im moment ihr smart- oder i-phone aktiv oder tragen es passiv mit gps-ortungsmöglichkeit bei sich ...

und wenn mir jetzt schon windige algorithmen jeden tag morgens im mail-briefkasten tipps geben, wogegen gerade ich mich vielleicht schützen sollte - vielleicht balde sogar schützen muss, weil meine krankenkasse mir das aufgibt - werden diese übergriffigen "angebote" immer weiter differenziert ...

und es werden von mir profile angelegt - und der druck auf meinen tastaturen werden meine persönliche digital-anamnese immer detaillierter vervollständigen ... - auch meine tippfehler - und die geschwindigkeit meiner korrekturen und umformulierungen werden meinen geist gläsern machen und durchleuchten und werden die wahrscheinlichkeit einer alzheimer-erkrankung messbar machen - und jeder in silicon valley und anderswo, der diese daten zu lesen versteht, wird wissen wie ich ticke - und welcher jungen frau ich alter bock mal wieder hinterhergeschaut habe ...

man kann uns dann vielleicht schon mal digital zusammenführen und uns gegen eine erkleckliche summe dann auch zu einem date im persönlichen miteinander animieren: das sind doch tolle aussichten: wenn "die neue" mit ihren daten bis in die intimsten kammern hinein mir offenbart und offeriert wird ... - welch eine erstrebenswerte überraschung ...

das leben als "sein zum tod", so wie es jetzt in den nachrufen auf karl lagerfeld von ihm selbst formuliert wurde: »es ist für mich ganz sim­pel: mein Le­ben fängt mit mir an, und hört mit mir auf.« und dann zi­tier­te er eine ge­dicht­zei­le von fried­rich rück­ert, die gus­tav mah­ler ver­tont hat: »ich bin der welt ab­han­den­ge­kom­men.«

diese von ihm bei allem glamour ansonsten aber "schlichte" lebensweisheit, wird mit all den apps, die da auf uns zu rollen einfach verkompliziert - und sehr egoistisch auf das "ich" fokussiert: was piekt da in mir, warum hab ich jetzt wovon eine blähung, warum spüre ich die, bevor sie sich entlädt, zunächst als feinen kleinen haarriss-pieks unter meinem rechten rippenbogen ... ??? - und sind das etwa die faszien ??? - ich muss mir unbedingt einen faszienball kaufen, da gibt es eine app für das faszientraining - und das wird dann ganz direkt auf mich zugeschnitten ausgeworfen - ist das nicht toll ???

und wer an der regierung ist - und ob europa vereinigt bleibt, ist oder wird - das ist mir doch so was von egal ...

nee - freunde: in meiner gestaltausbildung nach fritze perls lernte ich den für mich klugen aristoteles-merksatz:

"das ganze [hier also der mensch] ist mehr als die summe seiner teile" ... - 

also liebe silicon-valley-menschen-vermesser - ihr könnt kartieren und zahlen addieren und maße festlegen bis es qualmt - den menschen in seiner komplexität und diversität werdet ihr nicht endgültig "knacken" - das hat eben schon der olle aristoteles ganz ohne algorithmen durch sinnieren und beobachten herausgefunden ...
Ich bin nicht auf dieser Welt, um deinen Erwartungen zu entsprechen –
und du bist nicht auf dieser Welt, um meinen Erwartungen zu entsprechen.
ICH BIN ich und DU BIST du –
und wenn wir uns zufällig treffen und finden, dann ist das schön,
wenn nicht, dann ist auch das gut so...  
Fritz Perls 

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