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ARCHIVALIEN UND ARCHIVE

Archivalien - Bild: war robots wiki

Archive spielen mit dem Glamourfaktor


Selbst Schriftstücke können zu Stars werden und auf einem Altar wie Reliquien präsentiert werden

Von Gabrielle Boller | NZZ

Historische Archive haben in unserer digitalisierten Gesellschaft fast schon etwas Magisches. In der flachen Welt der Bildschirmtexte versprechen sie Haptik und eine Authentizität, die sich vielleicht als Ansichtigwerden von Geschichte umschreiben lässt. Vorbei die Zeiten, da Archivalien als trockene Materie galten, zumal man sich auch gerade in jüngster Zeit deren Verletzlichkeit bewusst wurde – der Brand der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar, der Einsturz des Historischen Stadtarchivs Köln, die Zerstörung des brasilianischen Nationalmuseums etwa zeigten auf drastische Weise, wie gefährdet sie bis heute sind.

Trotz ihrer neu entdeckten Attraktivität haben natürlich nicht alle Urkundensammlungen Glamourfaktor, da braucht es schon eine besondere Geschichte und am besten einen veritablen Star. Genau damit kann der St. Galler Stiftsbezirk aufwarten, dessen Filetstück der berühmte St. Galler Klosterplan ist: die weltweit älteste existierende Architekturzeichnung aus dem frühen Mittelalter. Bisher war das Kronjuwel dem Publikum nur als Faksimile in der St. Galler Stiftsbibliothek zugänglich, nun aber ist der Originalplan in einem neuen, für 2,8 Millionen Franken umgebauten Ausstellungssaal für alle zu sehen.

Ein Augenblick im Dämmerlicht

Aus konservatorischen Gründen nur für knappe 20 Sekunden, doch immerhin im Viertelstundentakt, taucht der berühmte St. Galler Klosterplan in einem separaten Raum des Stiftsarchivs aus einer Art klimatisierter Hightech-Gruft ins wohldosierte dämmrige Licht. Wirklich viel kann man in der kurzen Zeit nicht erkennen, doch darum geht es auch nicht, es geht um die unmittelbare Begegnung mit dem Original des unschätzbar wertvollen karolingischen Plans. Was es mit dem Dokument aus dem frühen 9. Jahrhundert auf sich hat, dem Idealplan für eine Klosteranlage, gezeichnet auf der Insel Reichenau und wahrscheinlich vom dortigen Abt Haito dem St. Galler Abt Gozbert zur Anregung für dessen eigenen Klosterbau zugesandt, erfährt man zuvor in einem kurzen Film.

Wenn das St. Galler Stiftsarchiv, bisher etwas im Schatten der barocken Pracht von Kathedrale und Stiftsbibliothek, nun erstmals in eigenen Ausstellungsräumen das «Wunder der Überlieferung» preist, so darf auch die klösterliche Zelle für einmal gerne mit ein paar Choralgesängen unterlegt sein und warm ausgefüttert in feierlichem Rot daherkommen. Es nützt ja nichts, wenn bloss Mediävisten das Herz hüpft. Wer sich schon vom Bildschirm weg auf Exkursion in die reale Welt eines Museums begibt, will zum einen zwar auf gewohnte Weise beschäftigt werden – sprich: interaktiv mit Schaltflächen zum Anklicken –, zum anderen aber auch an etwas teilhaben, das die persönliche Anwesenheit zu einem Ereignis macht.

So ist der ganze Stiftsbezirk nun gewissermassen eine Huldigung der klösterlichen Geschichte, die ihre ausserordentliche Fülle an geretteten Urkunden aus dem frühen Mittelalter einer Spezialität des Klosters St. Gallen verdankt: Es wurden hier nicht Bücherabschriften der eingehenden Urkunden und Akten angefertigt, sondern die originalen Dokumente in einem eigenen Ablagesystem archiviert und später, ab 1730, in hölzernen «Fluchtkisten» mobil gelagert. So überstanden die Originaldokumente diverse Brände, Kriege und feindliche Überfälle.

Man kennt sich also in St. Gallen mit Originalen aus, und wenn sich die Flügeltüren zum kleinen Raum mit dem Klosterplan, dem grossen Star der Ausstellung, gebührend spektakulär öffnen, versteht man, dass sich Stiftsarchivar Peter Erhart von der aufwendigen Präsentation vor allem eines wünscht: den nötigen Respekt für dieses Dokument.

Vom Wunderglauben ist ein Archivar natürlich weit entfernt. Doch wer vermöchte sich einer leichten Ergriffenheit zu entziehen, wenn der kostbare Plan, weihevoll angekündigt, aus seinem Schrein emporschwebt? Nicht erst die digitalisierte Welt sucht schliesslich den kurzen, physisch spürbaren Schauer vor der Reliquie, die rein durch ihre Präsenz verbalen oder schriftlichen Überlieferungen in der Gegenwart zu so etwas wie Wahrhaftigkeit verhilft.

Aus gutem Grund also nehmen nicht nur Ausstellungsdramaturgien, bei denen das natürlicherweise auf der Hand liegt, gerne Anleihe bei sakralen Vorbildern und Präsentationsformen. Wo, wenn nicht in der Kirche, zumindest in der katholischen, kennt man sich traditionellerweise mit dem Hervorrufen von ekstatischen Gefühlslagen, mit der subtilen bis bombastischen architektonischen Stimmungsmodulation, schon ähnlich gut aus? Also her mit Altar, Zelle und basilikalem Grundriss, auch gerne, wenn es passt, im weltlichen Bereich der Heldenverehrung oder bei der Sakralisierung profaner Gegenstände.

Vom heiligen Plan zum Gral

Dass ein Artefakt dabei nicht erst Jahrhunderte abhängen muss, um Gegenstand der Verehrung zu werden, zeigt sich in der Anziehungskraft, die von persönlichen Gegenständen oder Handschriften berühmter Persönlichkeiten ausgeht. Solche Verehrung kann auch in eine quasireligiöse Anbetung münden. Wo könnte man sich damit besser auskennen als im Richard-Wagner-Museum in Bayreuth, wo im ehemaligen Wohnhaus des Komponisten Leben und Werk eher distanziert-objektivierend zur Darstellung kommen.

Die Szenografie der sogenannten Schatzkammer spielt, durchaus nicht ohne Ironie, mit einer sakralen Aura und Anmutung – ein bisschen grosse Oper darf hier, in gefühlter Nähe zum Heiligen Gral, schon auch sein. Etwas Basilikahaftes besitze der Raum mit abschliessender Rotunden-Apsis im Untergeschoss des Museums ja bereits, erklärt Direktor Sven Friedrich, warum also nicht ein Kirchenschiff nachempfinden, gesäumt von Wandvitrinen mit Devotionalien aus der Büchersammlung und aus dem Skizzenfundus des Komponisten.

Als Höhepunkt der Inszenierung folgt die Altar-Vitrine mit dem jeweils zum aktuellen Repertoire der Bayreuther Festspiele passenden «heiligen» Partitur-Autografen. Um dem Ganzen schliesslich den richtigen transzendenten Glanz zu verleihen, schimmert in der Apsis ein goldener Theatervorhang mit – gleichsam anstelle des Kruzifixes – davor schwebender Wagner-Büste.

Der Welt des schönen Scheins steht dieses Spiel gut an, zumal die Aura sozusagen eine Spezialdomäne der Künste ist. Doch nicht jedes Original taugt dazu, Authentizitätssehnsüchte zu befriedigen. Wehe, wenn es schiefgeht mit der sakralen Inszenierung. Die Geschichte der Inthronisierung eines Dokuments, das ein Bündnis der innerschweizerischen Talschaften Uri, Schwyz und Nidwalden bezeugt, ist allseits bekannt. Das zur Gründungsurkunde der Eidgenossenschaft avancierte Schriftstück wurde in den Zeiten der geistigen Landesverteidigung als grosses Nationalheiligtum verehrt, die Ausstellungsvitrine des Bundesbriefs wurde zum «Altar des Vaterlands». Bloss: Ende der 1960er Jahre wurde die historische Bedeutung des Dokuments relativiert, und der Bundesbrief wanderte, degradiert vom Altar, in eine Gemischtwaren-Vitrine mit anderen historischen Dokumenten.

Die Aura eines Objekts mag zwar nicht einzig von ihm selbst ausgehen, wie Walter Benjamin es beschrieben hat, sondern ebenso sehr von der Bedeutungszuschreibung im Rahmen seiner musealen Inszenierung – doch es muss schon die richtige Substanz vorhanden sein, um eine Erzählung zu tragen –, da ist ein St. Galler Klosterplan die selten zu findende Idealbesetzung.

Quelle: NEUE ZÜRCHER ZEITUNG NZZ - Montag, 20.Mai 2019 - Feuilleton, S. 33

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bauernhausmuseum bielefeld - themenausstellung: ländliche geschichte in 100 objekten - von den anfängen bis heute - seite "26" - die 1. seite des einspruchs von ernas vaters auf den beschluss zur sterilisation durch das erbgesundheitsgericht bielefeld aus der erbgesundheitsakte bezüglich erna kronshage  ...




um heutzutage zum beispiel forschungen zur lokalen und weiteren ns-geschichte zu betreiben, ist man auf gutfunktionierende und zugängliche bestände der archive unweigerlich angewiesen. das ist leider nicht immer ganz "barrierefrei" - nicht etwa (aber auch) weil treppen und barrieren physisch "im wege stehen" - sondern besonders auch, weil einige historiker die angewohnheit entwickelt haben, die bestände wie ihr "persönliches" hab und gut mit argusaugen "mental" zu hüten und zu bewachen - vergleichbar in etwa mit den alleinigen sakramentsverwaltungen durch geweihte männliche katholische priester und würdenträger. auch die bauten, in denen archive oft untergebracht sind, erinnern ja äußerlich manchmal eher an kathedralen - oft sogar mit einem abgetrennten bereich des "allerheiligsten"...

besonders - als dann plötzlich der "persönlichkeits-, familien- und namensschutz" seine hohe bedeutung und schutzwürdigkeit gewann. hier und da war das sicherlich angebracht - wurde aber von den archiven manchmal geradezu in "vorauseilendem gehorsam" und manchmal anscheinend "auf geheiß" von wo auch immer benutzt, nun wie die hennen auf den akten des allgemeinwissens, "ihren" archivalien, zu hocken - und noch immer einblicke dort zu verwehren, wo es längst nichts mehr zu "schützen" gab.

und natürlich hatten auch einige familien aus den mit der ns-geschichte verquickten verstrickungen ein großes interesse daran, jetzt mit hilfe der archive und unter vorschub des "persönlichkeitsschutzes" irgendwie fakten zu "vertuschen" - und vielleicht sogar brisante urkunden verschwinden zu lassen - von daher ist eine gewisse aufmerksamkeit sicherlich angebracht...

in meinen recherchen zum leidensprotokoll meiner tante erna kronshage stieß ich in den späten 80er bzw. den frühen 90er jahren des vorigen jahrhunderts auf den bestand des stadtarchivs bielefeld - gesundheitsamt bielefeld - der dort 1970 erfasst und archiviert wurde - unter: 
  • "Erbgesundheitsgericht Bielefeld: Erbgesundheitssache Erna Kronshage, XIII 31/43 Wg. 81-43, Gesundheitsamt Bielefeld-Land, im Bestand des Stadtarchivs Bielefeld, 1943"
in diesem bestand fand sich unter der registrierungs-nr. 106.1 die erbgesundheitsakte zum zwangssterilisations-verfahren meiner tante erna kronshage.

ich hatte dann das große glück, bei meinem besuch damals in dem als ostwestfälisch "unheilig" eingerichteten gebrauchs-archiv dort die wahrhaft "barrierefreie" historikerin frau dr. monika minninger anzutreffen, die sich als eine wahre expertin in sachen aufarbeitung der ns-gräuel-geschichte in und um bielefeld erwies. ein besonderer weiterer schwerpunkt ihrer tätigkeit war dabei auch die erforschung jüdischen lebens in bielefeld. sie veröffentlichte über dieses thema mehrere bücher.

ohne die großzügige aufklärungsarbeit der ns-verfolgungen in bielefeld und umgebung von frau dr. minninger - also bereits in den achtziger jahren  - wäre das studien- und memorialblog zu "erna's story" insgesamt undenkbar. 

Foto: NW
frau minninger hat mir damals bei meinen besuchen im stadtarchiv sehr "unbürokratisch" - unter umgehung aller sonst noch üblichen "forschungsschranken" auf diesem gebiet in den den archiven in deutschland auf diesem terrain - die kopie der "erbgesundheitsgerichtsakte erna kronshage" aus dem bestand "erbgesundheitsgericht bielefeld-land" ermöglicht, die nun im studien- und memorial-blog reproduziert wiedergegeben werden können...

im alter von 69 jahren ist die historikerin dr. monika minninger im september 2010 leider schon verstorben. 

und genau aus diesem bestand zeigte dann das bielefelder "bauernhausmuseum" 2016 in der themenausstellung: "ländliche geschichte in 100 objekten - von den anfängen bis heute" auch die seite "26" - die 1. seite des einspruchs von ernas vater adolf kronshage auf den beschluss zur sterilisation durch das erbgesundheitsgericht bielefeld - eben original aus der erbgesundheitsakte bezüglich erna kronshage ... - die ich hier mit den weiteren seiten des briefes wiedergebe:


Der Ausstellungs-Begleittext vom Bauernhausmuseums-Leiter Dr. Lutz Volmer zu diesem Exponat lautete:

Ein Vater bettelt um Entlassung seiner Tochter

1943

Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 106.1/Gesundheitsamt Bielefeld, 1970

Erna Kronshage, geb. 1922, kam am 20. Februar
1944 in Gnesen (Gniezno) in der Anstalt
Tiegenhof ums Leben. Wie kam es dazu?

Erna arbeitete bis 1942 auf dem kleinen Hof
ihrer Eltern in der Gemeinde Senne II. Es kam
immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten
mit den nicht gerade toleranten Eltern. Durch
unglückliche Umstände wurde sie polizeilich in
die Provinzial-Heilanstalt Gütersloh
eingewiesen. Dort diagnostizierte man an ihr
Schizophrenie, die dort durch Arbeitstherapie in
Haus und Garten, aber auch eine Schocktherapie
behandelt wurde.

Nach damaliger Lesart der NS-Nomenklatur
handelte es sich um eine Erbkrankheit. Gemäß
des Gesetzes zur Verhütung erbkranken
Nachwuchses von 1934 kam es auf Veranlassung
der Ärzteschaft zu einer Zwangssterilisation. Ihr
Vater Adolf Kronshage hat dagegen vehement
Einspruch erhoben. Die Umstände der
Einweisung in die Klinik wie auch die Diagnose
schienen zweifelhaft.

Obwohl der Vater in einer Reihe von Schreiben
regelrecht darum bettelte, dass seine Tochter
entlassen wurde, arbeiteten die Institutionen
weiter: Als im November 1943 in der Heilanstalt
Gütersloh Betten für andere Zwecke frei
gemacht werden mussten, kam Erna in die
Gauheilanstalt Tiegenhof bei Gnesen im
besetzten Polen. Dort wurde sie nach 100 Tagen
Aufenthalt getötet. Die Sterbeurkunde lautet:

"Vollkommene Erschöpfung".



das original aus dem archivbestand des stadtarchivs bielefeld wurde im bauernhausmuseum ausgestellt (s.o.) - hier in kopie - vergrößerung

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der mensch ist mehr als die summe seiner teile




Die #App weiß, wann du stirbst

Wir tragen sie ums Handgelenk und in der Hosentasche: Smarte Geräte von Google und Co. machen aus dem Körper Datenpakete

Von Anna-Verena Nosthoff, Felix Maschewski | NZZ

Die Großkonzerne aus dem Silicon Valley arbeiten bekanntermaßen daran, unsere Welt wie eine Karte lesbar zu machen. Jedes geschriebene Wort soll gescannt, jede Strasse und jedes Haus erfasst, jede soziale Regung gesammelt, abrufbar, zugänglich gemacht werden. Man will nicht nur viel, man will alles wissen. Damit sich die Menschheit weniger irrt und verwirrt, besser durch die Gegenwartsgischt navigiert – damit sie datenbasiert an sich selbst gesunde.

So nimmt es nicht wunder, dass GAFA (Google, Apple, Facebook, Amazon) und Co., während sie bereits die Kommunikationssphäre dominieren, den Sektor Gesundheit wie eine Terra incognita vor sich liegen sehen. Die neuen Horizonte bestimmen dabei keine ferne Utopie, sondern ein Land der unendlich profitablen Möglichkeiten, einen Sehnsuchtsort für Weltvermesser.

Krankheit als Geschäft

In dieser Optik scheint der jüngste Vorstoß Tim Cooks nur folgerichtig: Wenn man einst, so die Prophezeiung des Apple-CEO Anfang Januar, nach dem «grössten Beitrag Apples für die Menschheit» frage, werde es nur eine Antwort geben: «Die Gesundheit.» In der «Bereicherung des menschlichen Lebens» erkannte die Firma immer schon ihre Mission. Um diese zu erfüllen, spielt die neue Apple Watch, die jeden Schritt und Pulsschlag erfasst, die entscheidende Rolle – «this is a huge deal».

Das Silicon Valley hat die Krankheit als Marktpotenzial, unser Sein zum Tode als Innovationstreiber erkannt. So drängen die Konzerne zielstrebig in einen Markt, der allein in den Vereinigten Staaten ein Volumen jenseits der drei Billionen erreicht.

Amazon gründete unlängst eine Krankenversicherung, baut gerade Kliniken – probeweise – für die eigene Belegschaft und hat sich die Internetapotheke Pillpack einverleibt. Facebook verhandelte bis zum Datenskandal um Cambridge Analytica mit Krankenhäusern über anonymisierte Gesundheitsdaten, um sie mit denen seiner Nutzer abzugleichen. Und zuletzt entwickelte das soziale Netzwerk einen Algorithmus, der die Aussagen amerikanischer User auf die Gefahr eines Suizids scannt.

Der avancierteste Player im Rennen um unsere Gesundheit ist derzeit jedoch Alphabet. Das Mutterschiff von Google entwickelte zuletzt KI-basierte Software-Lösungen, um Krankheitsverläufe und gar den Todeszeitraum von Patienten in Spitälern genauer zu bestimmen. Mit dem Subunternehmen Verily, vormals bekannt als Google Life Sciences, forschte man bereits an einer Kontaktlinse, die mittels Tränenflüssigkeit die Glukosekonzentration misst.

Doch mit dem ehrgeizigen «Project Baseline» geht Alphabet noch aussichtsreichere Wege, wagt sich mit der «Landmark Study» immer tiefer in unkartiertes Feld: Bis zu 10 000 Probanden sollen, wissenschaftlich von der Duke und der Stanford University begleitet, ihre Gesundheits-, besser: Lebensdaten mit eigens von Verily entwickelten Wearables über vier Jahre lang messen.

Wie der biologische ist auch der Datenkörper immer «work in progress»: So werden nicht nur die Schlafqualität oder die körperliche Aktivität aufgezeichnet, sondern auch Langzeit-EKG durchgeführt, Genome sequenziert, Labor-Scans, Tests auf Herz und Nieren oder zur mentalen Verfassung unternommen. Krankheiten und ihre Entwicklung sollen – in einer Art Live-Ticker – genauer analysiert werden und damit immer besser vorhersagbar werden. Von den Bakterien im Darm bis zur Karies im Zahn, in alle Gebiete des Lebens und Sterbens erhält das Unternehmen nun Einsicht, vermisst sie transparent und setzt alles in einen grösseren, biopolitischen Zusammenhang. Der Begriff des gläsernen Patienten, den man in den Plänen einer elektronischen Gesundheitskarte wie in Deutschland heraufziehen sieht, mutet im Vergleich geradezu brav an. Denn wer bei «Baseline» mitmacht, stellt nicht nur seine alltäglichen Gewohnheiten, den Body-Mass-Index oder die Stimmung unter ständige Beobachtung. Er wird vielmehr, so versichert das Imagevideo des Projekts, zum Teil eines «Movements», einer «Community», die den «Kurs der Menschheit» zu verändern hilft: «Sharing is Caring» lautet das Motto – nun auch bei Google.

Kollektives Empowerment

Im grossen Gesundheitsdatenrausch hat sich also die Tonlage gewandelt. Es geht hier nicht mehr um die fast biedere Transparenz, aseptische Kurven oder gelangweilte Standardfragen. Es geht um kollektives Empowerment. Man könnte hier fast von einer Revolution sprechen, so emphatisch wird die «unglaublich tiefe und detaillierte» Vermessung der Welt in einer Sphäre aufgeladen, die sich sonst lediglich zum «quantified self» durchringt.

Dabei verzichtet diese Umwälzung auf Barrikaden und dreckige Hände, wirkt beinahe unpolitisch – weil sie den Einzelnen lustvoll bis sinnstiftend motiviert, ganz sanft das Leben punktiert: «We’ve mapped the world. Now let’s map human health.» Dass dieses kollektivistische «Wir» nicht ganz so reibungslos funktioniert wie verlautbart, dass hier tektonische Verschiebungen in ganz anderen Dimensionen vor sich gehen, lässt sich erahnen, wenn man Apps und Startups anschaut, die im Umfeld des Grossprojekts wie Pilze aus dem kalifornischen Boden schiessen. So haben Entrepreneure aus dem Valley erkannt, dass das Erfassen mentaler Dissonanzen über Fragebögen nicht ganz verlässlich ist, die Selbstbekenntnisse häufig von verzerrenden Meinungen und lästigen Empfindungen kontaminiert sind.

Man entwickelt daher mit Hochdruck Methoden, die das Innere der Blackbox «objektivieren», das heisst, die trübe Brühe der menschlichen Psyche über beobachtbares Verhalten zu decodieren versuchen. Als das beste aller behavioristischen Aufschreibesysteme bewährt sich hier zurzeit das Smartphone, ein multisensorisch-gläsernes Device, auf dessen Oberfläche sich – zumindest für die digitale Gesundheitsavantgarde – das Unbewusste zu spiegeln scheint.

Besonders das Startup Mindstrong Health des früheren Direktors des amerikanischen National Institute of Mental Health und nicht zufällig auch vormaligen Leiters der Abteilung für psychische Gesundheit bei Verily, Thomas Insel, eröffnet ganz neue Sichtachsen. Man analysiert das Tippverhalten des Smartphone-Users – wie er scrollt, klickt oder wischt –, um qua Mustererkennung Verhaltensprofile zu erstellen, die wie Kompassnadeln auf mentale Schwachpunkte verweisen.

Insel nennt das Verfahren «digital phenotyping», eine Form der Kartierung, die anhand von digitalen «Biomarkern» und ohne Inhalt oder Semantik des Getippten zu deuten, Depressionen zu diagnostizieren verspricht. Wer, vereinfacht gesagt, zu langsam tippt, der erscheint geknickt; wer sehr schnell auf sein Smartphone einhämmert, befindet sich womöglich in einer manischen Phase.

Jede äussere Regung, so die Annahme, reflektiert eine innere Bewegung. Denn nicht das Was oder Warum, sondern lediglich das Wie interessiert, nicht die inneren Konflikte, die Geschichte oder die soziale Konstellation werden mit Begriffen umstellt. Allein die mathematischen Korrelationen zählen, bedeuten nun mehr als jede Intention. Zweckhaftes Verhalten wird in der Folge ohne schwerverständliche Zwecke beschrieben, die Psychologie, wie es der Philosoph Hans Jonas einmal ausdrückte, ganz «ohne Psyche».

Datenbasierte Angst

Das, was bei Baseline oder Mindstrong schließlich anschaulich wird, ist das Zusammenschnurren des Subjekts auf die Summe seiner Datenpunkte. In der Netzwerkgesellschaft gibt es keinen Ort für das einzelne Individuum, denn es ist im Zuge der Auswertungen – das hochgejazzte «Wir» wirkt wie ein latenter Hinweis – kaum noch als solches sichtbar. Allenfalls kennzeichnet es einen Knotenpunkt, der sich lose im Spiel der Patterns bewegt; eine ephemere Hülle, die mehr als Profil denn als fühlendes Subjekt erscheint.

Vor diesem Hintergrund zeichnet sich eine weitere Verschiebung ab: Indem das Leben der Menschen immer detaillierter unter dem digitalen Schleier der Konzerne erfasst, ihr Verhalten immer präziser bestimmt werden kann, werden auch Krankheiten möglicherweise bald immer früher erkannt – wenn wir nichtsahnend auf dem Smartphone daddeln. Das Abwesende ist anwesend im Potenzial, und so hiesse es zeitnäher auf Gefahren zu reagieren, bei Risiken gegenzusteuern, das Verhalten früher zu verbessern, das heisst, es umzuprogrammieren, um damit das Leiden, aber auch die Kosten zu senken.

Zugleich träte man aber in das ein, was man eine datafizierte Präventionsgesellschaft nennen könnte: in eine Existenz, die via Smartphone und Wearable permanent einer Semiotik des Misstrauens unterworfen wird. Jede Faser des Körpers, jede Unstimmigkeit oder Unebenheit des Geistes würden stets nach Abweichungen von der Normal- oder Idealform abgetastet, gewogen oder gesichtet, so dass nichts dem bloßen Schicksal, nichts dem groben Verschleiß überlassen bliebe. Leben wäre – um es mit Michel Foucault zu sagen – tatsächlich ständige, datenbasierte Sorge um sich selbst. Doch kann man jemals gesund genug sein oder wirklich ausgesorgt haben?

Prävention über alles

In der Prävention liegt die produktivste und wohl auch lukrativste Antwort auf unser Sein zum Tode. Denn die Vorbeugung erkennt in der Sorglosigkeit die Nachlässigkeit, gibt eine Richtung vor, schafft Orientierung und legitimiert die Erhebung jedes noch so kleinen Datenpunktes. Geht man also normalerweise davon aus, dass die Prävention nichts hervorbringt, weil sie zu vermeiden hilft, wissen die Konzerne aus dem Valley, dass das Gegenteil wahr ist. Denn wer vernünftig vorbeugen will, hat nie genug Daten gesammelt, hat nie genug Wahrscheinlichkeiten berechnet.

So kartieren GAFA und Co. vermeintlich nur die sichtbaren Oberflächen und Lebenswege, schaffen dabei jedoch ein präventionsindustrielles Wissensregime, das die Pfade des Wohlergehens vermisst und damit vorzeichnet. Unverbesserlich erscheint nur, wer sich nicht danach richtet.
🔴 Anna-Verena Nosthoff ist Philosophin und politische Theoretikerin, Felix Maschewski ist Literatur- und Wirtschaftswissenschafter. Im Rahmen ihrer akademischen Forschung beschäftigen sie sich mit der Kultur der Digitalität.
Neue Zürcher Zeitung, 21.02.2019, Feuilleton, S. 37

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da habe ich jetzt mit flinkem fingerdruck auf die tasten meiner tastatur gehackt - und irgendwo in silicon valley weiß man aufgrund meines anschlagdrucks und der absenkgeschwindigkeit der tasten und der geschwindigkeit meiner eingabe und des spontaneitätsfaktors meiner 2-finger-tipperei, dass ich heute vielleicht gut drauf bin, und dass mir meine kalten fingerkuppen sorgen bereiten - von wegen der durchblutung der kapillaren in den äußeren endgliedern der extremitäten - oder so ...

für mich ist das ganze ein spiel mit der angst des menschen vor seinem tod - und eben die verleugnung dieser unumstößlichen heidegger-prämisse des "seins zum tode". und mit diesem existenziellen wissen und der lebensangst davor lässt sich eben knete generieren ...: 8 milliarden menschen haben nämlich angst vor ihrem tod - und ich schätze mal 4 milliarden bedienen jetzt im moment ihr smart- oder i-phone aktiv oder tragen es passiv mit gps-ortungsmöglichkeit bei sich ...

und wenn mir jetzt schon windige algorithmen jeden tag morgens im mail-briefkasten tipps geben, wogegen gerade ich mich vielleicht schützen sollte - vielleicht balde sogar schützen muss, weil meine krankenkasse mir das aufgibt - werden diese übergriffigen "angebote" immer weiter differenziert ...

und es werden von mir profile angelegt - und der druck auf meinen tastaturen werden meine persönliche digital-anamnese immer detaillierter vervollständigen ... - auch meine tippfehler - und die geschwindigkeit meiner korrekturen und umformulierungen werden meinen geist gläsern machen und durchleuchten und werden die wahrscheinlichkeit einer alzheimer-erkrankung messbar machen - und jeder in silicon valley und anderswo, der diese daten zu lesen versteht, wird wissen wie ich ticke - und welcher jungen frau ich alter bock mal wieder hinterhergeschaut habe ...

man kann uns dann vielleicht schon mal digital zusammenführen und uns gegen eine erkleckliche summe dann auch zu einem date im persönlichen miteinander animieren: das sind doch tolle aussichten: wenn "die neue" mit ihren daten bis in die intimsten kammern hinein mir offenbart und offeriert wird ... - welch eine erstrebenswerte überraschung ...

das leben als "sein zum tod", so wie es jetzt in den nachrufen auf karl lagerfeld von ihm selbst formuliert wurde: »es ist für mich ganz sim­pel: mein Le­ben fängt mit mir an, und hört mit mir auf.« und dann zi­tier­te er eine ge­dicht­zei­le von fried­rich rück­ert, die gus­tav mah­ler ver­tont hat: »ich bin der welt ab­han­den­ge­kom­men.«

diese von ihm bei allem glamour ansonsten aber "schlichte" lebensweisheit, wird mit all den apps, die da auf uns zu rollen einfach verkompliziert - und sehr egoistisch auf das "ich" fokussiert: was piekt da in mir, warum hab ich jetzt wovon eine blähung, warum spüre ich die, bevor sie sich entlädt, zunächst als feinen kleinen haarriss-pieks unter meinem rechten rippenbogen ... ??? - und sind das etwa die faszien ??? - ich muss mir unbedingt einen faszienball kaufen, da gibt es eine app für das faszientraining - und das wird dann ganz direkt auf mich zugeschnitten ausgeworfen - ist das nicht toll ???

und wer an der regierung ist - und ob europa vereinigt bleibt, ist oder wird - das ist mir doch so was von egal ...

nee - freunde: in meiner gestaltausbildung nach fritze perls lernte ich den für mich klugen aristoteles-merksatz:

"das ganze [hier also der mensch] ist mehr als die summe seiner teile" ... - 

also liebe silicon-valley-menschen-vermesser - ihr könnt kartieren und zahlen addieren und maße festlegen bis es qualmt - den menschen in seiner komplexität und diversität werdet ihr nicht endgültig "knacken" - das hat eben schon der olle aristoteles ganz ohne algorithmen durch sinnieren und beobachten herausgefunden ...
Ich bin nicht auf dieser Welt, um deinen Erwartungen zu entsprechen –
und du bist nicht auf dieser Welt, um meinen Erwartungen zu entsprechen.
ICH BIN ich und DU BIST du –
und wenn wir uns zufällig treffen und finden, dann ist das schön,
wenn nicht, dann ist auch das gut so...  
Fritz Perls