Haar- und Barterlass in Oberammergau
Das Dorf der Hipster
Von Gunda Bartels | Tagesspiegel
Am Aschermittwoch ist alles vorbei? Mitnichten. In Oberammergau geht's vor den Passionsspielen 2020 erst richtig los. Besonders mit dem Haarwachstum.
Die, die die "Römer" spielen, sind fein raus. Die Soldaten dürfen weiter die Haare stutzen und sich rasieren. Die "Judäer" dagegen nicht. Und diese "judäischen Zivilisten" stellen die Mehrheit in Oberammergau.
Am Aschermittwoch ist alles vorbei? Mitnichten. Da geht es erst richtig los. Mit der rund vierzig Tage währenden Fastenzeit, die dem österlichen Leiden und Sterben Jesu Christi vorausgeht. Und mit der individuellen Vorbereitung der Dorfbewohner für die in aller Welt bekannten oberbayerischen Passionsspiele. Ab dem 16. Mai 2020 gehen sie zum 42. Mal über die Freiluftbühne. An diesem Vormittag ergeht der traditionelle Haar- und Barterlass. Auf überall im Dorf angeklebten Plakaten werden alle weiblichen und männlichen Mitwirkenden – auch die Kinder – aufgefordert, sich die Haare wachsen zu lassen. „Die Männer auch die Bärte.“ Bei Zuwiderhandlung droht der Verlust des Mitwirkungsrechts am 102 Vorstellungen umfassenden und 450000 Besucher anziehenden Laienspiel. Auch Sonderregelungen für Bundeswehrangehörige aus Oberammergau hat es in früheren Jahren gegeben.
Zwar liegen aus dem Jahr 30 nur sehr unscharfe historische Fotos vor, und die Theologen müssen zugeben, dass sie wenig über die Haartracht von Jesus und seinen Jüngern wissen, doch die Kulturgeschichte hat früh entschieden: Was ein schöner Heiland ist, der trägt Bart und wallendes Haar! Als Ausweis geistlicher Virilität und körperlicher Spannkraft. Und weil die Dornenkrone so besser hält.
Dass die Kraft im Haar steckt, wusste schon der alttestamentarische Samson, der sich den Philistern geschlagen geben musste, nachdem sie ihm die Locken schoren. Deswegen ging auch Jesu’ Zeitgenosse Brian, der fälschlich für den Messias gehaltene Judäer aus dem Dokumentarfilm „Das Leben des Brian“ der Komikertruppe Monty Python, nie so richtig als Erlöser durch. Brian, auch unter dem Namen Graham Chapman bekannt, hatte einfach zu kurze Zotteln.
Nach einem guten Jahr ungezähmten Wachstums schaffen die 2500 Laiendarsteller in Oberammergau dann 2020 spielend den Anschluss an die urbane Hipsterkultur. Rauschebärte und Matten allüberall. Dank des Pest-Gelübdes von 1633, mit dem sich die Dörfler weiland verpflichteten, im Falle ihrer Errettung von der üblen Seuche alle zehn Jahre das Spiel vom Leiden und Sterben Jesu aufzuführen. Die Wege des Herrn sind haarig und wunderbar.
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das ist ja fast so wie bei der "documenta", wozu sich kassel alle 5 jahre rüstet, um jeweils die "größte kunstausstellung der welt" zu stemmen - und auch dort hat man jetzt schon rechtzeitig das künstlerkollektiv "ruangrupa" aus indonesien auserkoren, 2022 die künstlerische leitung zu übernehmen. - naja und jedes jahr ist ja in bayreuth zu den wagner-festspielen ein ähnlicher aufgalopp der deutschen high society: ein ort, um umstrittene kunst zu hören und zu sehen - und natürlich auch gesehen zu werden ...
und alle zehn jahre nun gibt es die passionsspiele in oberammergau, an denen vorzugsweise laiendarsteller aus dem ort beteiligt sind. - und damit alles schön "echt" wirkt, sprießen nun aufgrund eines gemeindeerlasses von aschermittwoch bart und haupthaar bei den "judäern" - also allen darstellern und komparsen, die an den massenszenen direkt mit beteiligt sind ... - und nur die in rüstungen auftretenden "römischen soldaten" können so bleiben wie sie jetzt sind: mit etwas schminke und gel und eben der sicherlich "historischen" soldatenrüstung, geht es dann los in der truppe des kaisers augustus ...: beim "volk" mit wallendem haar und langem bart steht dann bald sicherlich ein auswahlverfahren an, wer mit in den erlauchten kreis der darsteller eintreten darf, die jeweils in der ersten reihe stehen dürfen - und weil man ja das ganze sommerhalbjahr spielt, benötigt man verschiedene darsteller-gruppen und doppel-besetzungen, die sich ablösen können: es sind ja alles laien, die auch mal zwischendurch arbeiten müssen - und wahrscheinlich ist die zahl der bewerber immer größer als die benötigte anzahl an schauspielern.
schon zum 42. mal finden diese spiele jetzt statt - und aus dem gelübde wegen der pest 1633 hat sich nun ein publikumsmagnet entwickelt und eine entsprechende professionelle vermarktung - auf alle fälle: der vorverkauf für 2020 hat schon längst begonnen.
ein wenig wirkt das ganze dort vielleicht, wie "etwas aus der zeit gefallenes" - und das ist es ja auch nach 400 jahren festspiele über alle politischen zeiten hinweg und dem eigentlichen anlass vor 2000 jahren: und doch schlägt das ganze drum & dran nach wie vor das publikum in den bann - und es wird auch nicht langweilig, trotz der immer gleichen geschichte, die da aufgeführt wird ...
und zum teil gab es kontroverse abstimmungen über die jeweiligen drehbuchtexte, die z.t. wegen der rolle der juden im passionsgeschehen jesu uneinigkeit hervorriefen.
ich finde es toll, dass die einwohner eines ortes nun wieder in den bann geschlagen werden - und die paar mal, wo man mal gerüchteweise von allerlei gezänk hinter den kulissen wegen rollenbesetzungen, zimmervergabe und textpassagen gemunkelt hat - das kommt halt in den besten familien vor ...
auf geht's: vielleicht kann man ja mal - quasi als absacker - als nachtisch nach dem aufführungsjahr auf gleicher bühne das musical "hair" bringen, dann lohnt sich das mit dem streik beim friseur ...
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