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mauerinschriften: kunert wird 90

Von Amtswegen

So unangreifbar träg und maulbesessen:
Verwalter anonymen Lebens
wie jeder Untat nebst dem folgenden Vergessen:
Dein Widerspruch dagegen ist vergebens.

In einem Netz von Ämtern eingefangen,
verlierst du samt und sonders deine Tage.
Als Gast auf Erden mußt du bangen,
daß irgendwer dir dieses Recht versage.

Verloren in den Maschen von Gesetzen,
hilflos und endlich fremd dir selber,
hörst du schon wen das Messer wetzen:
Kalb in der Reihe unzählbarer Kälber.


Kalb in der Reihe unzählbarer Kälber - S!|graphic





Wegweiser und Mauerinschriften

Schriftsteller Günter Kunert hat sich zum 90. Geburtstag selbst ein Geschenk gemacht: Sein Roman "Die zweite Frau", der bereits vor Jahrzehnten entstand, ist jetzt erschienen. S!|graphic nach einem Foto von Georg Wendt/dpa




Von Klaus Walther | Freie Presse

Mehr als 150 Bücher tragen seinen Namen als Autor. 
Heute wird der Schriftsteller Günter Kunert 90 Jahre alt.

Der Pappband auf vergilbtem Papier, der Umschlag mit Stockflecken, die 94 Seiten, die 1950 im Aufbau-Verlag erscheinen, heute sind sie ein gesuchtes Objekt der Büchersammler: das erste Buch des Günter Kunert. Bertolt Brecht und Johannes R. Becher werden auf den jungen Poeten aufmerksam: "Wegschilder und Mauerinschriften". Vielleicht ist dieser Erstlingstitel auch so etwas wie eine poetische Konfession, denn alles, was er schreiben wird, sind Wegzeichen, poetische Verkehrsschilder, Mitteilungen eines Autors, dessen Existenz und Werk auch vom Leben an einer Mauer geprägt wurden. Heute wird Günter Kunert 90 Jahre alt.

Wer schreibt, der bleibt. So wird jedenfalls behauptet, habe es Goethe gesehen. Günter Kunert, einer der produktivsten Autoren der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert, hat mehr als 150 Bücher veröffentlicht, Gedichte vor allem, Geschichten, Feuilletons. Dazu Hörspiele, Filme, Essayistik. Er ist kein Vielschreiber, vielmehr einer, der seine Lebens- und Weltsicht in immer neuen Variationen bietet: Kritik an der simplen Fortschrittsgläubigkeit, Bilder der entfremdeten Rolle des Menschen in einer sich rasant verändernden Gesellschaft und die Auseinandersetzung mit Nationalismus gestern und heute.

Da gibt es in einem seiner frühen Bücher eine winzige Replik, einen Witz, den er erfunden hat:
"Treffen sich zwei Planeten. Sagt er eine: Du, ich leide an Homo sapiens. Sagt er andere: Macht nichts, das geht vorüber."
Da die Astronomen zu wissen glauben, dass unsere Erde in 600 Millionen Jahren unbewohnbar sein wird, würde Kunert wohl fragen: "Was denn, erst?" Dies ist seine Ironie, sein Witz mit oftmals bissigem Blick auf die Welt. Denn der poetische Lieferant für Wegschilder und Mauerinschriften fand immer weniger Material für Hoffnung und Zukunftsgläubigkeit, mit der er in die Literatur einstieg. In Anlehnung an die großen Sternatlanten des 19. Jahrhunderts könnte man dieses Werk eine "Kunertsche Durchmusterung" unseres Planeten nennen. Freilich, indem man etwas benennt, gibt man es noch nicht auf, ein wenig zündelt da ein Flämmchen Hoffnung, aber wie gesagt, dieses Wort findet sich in seinem Werk nicht.

Verständlich ist solche Sicht aus eigenem Leben. Am 6. März 1929 wurde er in Berlin geboren, seine Mutter war Jüdin. Er hat Kindheit und Jugend in den Erinnerungen "Erwachsenenspiele" (1997) beschrieben und darin auch den Weg des Schreibers, der er geworden ist. Und von Anfang an: Er gehörte zu jenen Autoren der DDR, die sich immer kritisch zum real existierenden Sozialismus äußerten. So blieb ihm 1979 nur der Weg in die Bundesrepublik. Dort lebt er in einem alten Schulhaus in Kaisborstel in Schleswig-Holstein. Mittlerweile hat er viele bedeutende Auszeichnungen erhalten, unter anderem den Heinrich-Heine-Preis, den Friedrich-Hölderlin-Preis, etliche Ehrendoktor-Titel. Er war bis 2018 Präsident des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.

Ein großes Werk, ein Erzähler der ironischen Illusionslosigkeit. 1968 hat er einen Band veröffentlicht, der "Kramen in Fächern" heißt. Nach einem halben Jahrhundert wird er dieses Kramen in alten Fächern auf eigene Weise wiederholen. In einer Truhe findet er das Manuskript eines Romans, den er vergessen hatte, der aber auch in der Zeit seiner Entstehung Mitte der 70er in der DDR keine Publikationsmöglichkeit gefunden hätte. Der Roman "Die zweite Frau", soeben im Wallstein-Verlag erschienen, ist ein Geburtstagsgeschenk, das er sich selber gemacht hat. Eine typisch Kunertsche Fabelkonstellation. Der Archäologe Barthold sucht nach einem Geschenk für seine Frau zum 40. Geburtstag. Autobiografisches und Zeitgeschichtliches verknüpfen sich. Da trifft Barthold im Intershop, in dem man Produkte aus Westdeutschland mit "Westgeld" kaufen konnte, auf eine alte Frau, die gerade ihre Rente abgehoben hat und nun hier einkaufen möchte. Sie wird abgewiesen, "dieses Geld nehmen wir nicht". Und es gibt eines Tages jenen Typ, der an der Wohnungstür klingelt. "Nennen sie mich Müller", sagt er zu Margarete Helene. Natürlich, er kommt von der "Firma", der Stasi. So geht diese Geschichte. Und Kunert resümiert: "Vorsicht und Literatur vertragen sich nicht, unsere Angst anzuecken und Ärger zu kriegen, bringt uns um die Lebensintensität."

Kunert hat sich mit diesem Buch und seinem ganzen Werk ziemlich erfolgreich gegen solche Angst gewehrt. Damit kann man bestehen, vor sich selber und vor der Leserwelt in den schwierigen Zeitläufen des 20. Jahrhunderts. Und seine Gedichte werden bleiben:

"Denn aufs neue wieder Mensch zu werden
Wenn man's lange Zeit nicht mehr gewesen ist,
Das ist schwer für unsereins auf Erden,
Weil das Mensch sein, sich so leicht vergisst".


Das Buch
Günter Kunert: "Die zweite Frau". Wallstein-Verlag. 204 Seiten. 20 Euro.

GÜNTER KUNERT

* 06.03.1929, Berlin, Deutschland
lebt in: Kaisborstel, Deutschland

Günter Kunert kann als einer der bedeutendsten Lyriker der DDR gelten. Er ist auch heute noch mit seinen bissigen, melancholischen, souverän mit Tradition und Technik hantierenden Gedichten, Prosastücken und Essays einer der schärfsten literarischen Köpfe der deutschen Gegenwartsliteratur.

Da seine Mutter Jüdin war, durfte Kunert 1936 keine weiterführende Schule besuchen. Von den Nazi-Behörden zudem als 'wehrunwürdig' ausgemustert, arbeitete er vorübergehend als Lehrling in einem Bekleidungsgeschäft. Nach Kriegsende begannt er ein Graphik-Studium an der Hochschule für Angewandte Kunst in Berlin-Weißensee, das er mit dem Verfassen von satirischen Gedichten und Geschichten für die Zeitschrift „Ulenspiegel“ finanzierte. Nach fünf Semestern gab er das Studium jedoch dem Schreiben zuliebe auf.

1950 erschien Kunerts erster Gedichtband: „Wegschilder und Mauerinschriften“. Zu dieser Zeit wurde der junge Schriftsteller, inzwischen SED-Mitglied, von Johannes R. Becher, dem späteren DDR-Minister für Kultur, entdeckt und gefördert. In künstlerischer Hinsicht darf jedoch die Bekanntschaft mit Bertolt Brecht (um 1951/52) als die bedeutendere gelten: Die Auseinandersetzung mit ihm durchzieht Kunerts Werk seither.

In den 1960er Jahren geriet Kunert mit seinen skeptisch-pessimistischen Versen zunehmend in Konflikt mit den literarästhetischen Vorgaben der Kulturbehörden. Gleichzeitig wurde man in Westdeutschland auf den viel gelesenen Autor aufmerksam. Hier erschien 1967 sein einziger Roman, „Im Namen der Hüte“, der erst neun Jahre später in der DDR gedruckt wurde.

Kunert erwarb internationales Ansehen und durfte ins Ausland reisen. 1972 übernahm er eine Gastprofessur in Austin, Texas, und 1975 verbrachte er ein Jahr als Writer in Residence im englischen Warwick. Auf seine Unterzeichnung des Schriftstellerprotests gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 folgte der Parteiausschluss. 1979 ermöglichte ihm ein mehrjähriges Visum die Ausreise in die Bundesrepublik. Kunert ließ sich mit seiner Frau in Schleswig-Holstein nieder. Er lebt seither als freier Schriftsteller in Kaisborstel bei Itzehoe.

schachtelhalm: S!|graphic





Schachtelhalm - Botschaft

Wie Schneegestöber Menschenmassen
die fallen über den Planeten her
und fressen seine Fülle leer
um Wüsten hinter sich zu lassen.

Hingegen er: Aus Zeitenferne.
Zu Stein geworden und uralt
als Ausdruck pflanzlicher Gestalt
und wie von einem fremden Sterne.

Beweisstück für die Flüchtigkeiten
der Wunder ungeheurer Zahl.
Durch die Äonen ein Signal:
Zu spät da wir uns schon entgleiten.


als kunert sein erstes werk vorlegte mit dem weisen und hellsehenden titel: "wegschilder und mauerinschriften" - das war 1950 - und die "tatsächliche" mauer, die seine schreibe auch mitprägte trat erst 11 jahre später auf's tapet ... - und 18 jahre nach dem mauerbau kam seine umsiedlung in die brd, mit einem "mehrjährigen visum" durch die ddr-behörden, also seine "aussiedlung", er hatte nämlich u.a. einen protestbrief gegen die ausbürgerung von wolf biermann unterzeichnet ...

kunert war und sit sein lebetag ein unikum: mit ganz feiner spitzer feder nimmt er das auf's korn, was ihm unter den nägeln brennt ...: das ist kein klamauk und keine einfache hau-ruck-satire á la büttenrede - nee - da muss man schon mitgehen und bewandert sein, um die pointe zu verstehen: das ist nicht hingekritzelt - das ist raffiniert komponiert - und meistens ganz klassisch im reim, was man sich ja auch neu- und gesamtdeutsch fast gänzlich abgewöhnt hat ... - für slam-poetry ist kunert nicht zu haben: kunert ist bleibender und nichts für den augenblick ... - und das jetzt schon seit 90 jahren - hoffentlich kommen noch ein paar jahre hinzu ...

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