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vergessen & erinnern


Haltung ist alles: „Liebespaare ohne Köpfe“ von Hans Peter Feldmann. Bild: Michael Imhof Verlag

AUSSTELLUNG „VERGESSEN“ 

Das Findelkind aus dem Wald

VON TILMAN SPRECKELSEN - faz.net


Erinnern als Kehrseite des Vergessens: Das Historische Museum Frankfurt stellt momentan im Rahmen der Ausstellung „Vergessen“ acht Stationen zur Nachkriegszeit zur Schau.

Als ihr Vater 2005 gestorben war, sammelte seine Tochter in seiner Wohnung Hunderte von Zetteln ein. „Augenarzt. Wo in Bonn? Wo sind Unterlagen? Brille im Etui?“ steht auf einem. „Wir Deutsche oder wir Deutschen? Was ist richtig?“ und „Schmonzette = Kitschiges Machwerk“ heißt es auf weiteren Zetteln. Drei Jahre lang hielt der Vater fest, was er nicht vergessen wollte, was er sich offenbar mühsam ins Gedächtnis gerufen hatte oder was ihm unklar war. Dass er dieses Hilfsmittel inzwischen benötigte, wusste er. Sein Zustand beschäftigte ihn. Auf einem Zettel fragt er: „Daheim oder ins Heim?“

Das Historische Museum Frankfurt zeigt die Zettel nun im Rahmen der Ausstellung „Vergessen“ in einer eigenen Vitrine. Die Schau ist reich an Objekten, so wie das Ausstellungsthema auch facettenreich ist – es geht um Erinnern als Kehrseite des Vergessens, um die Auswahl dessen, was im Gedächtnis bleibt, um technische und mentale Hilfsmittel und um das kollektive deutsche Vergessen in der Nachkriegszeit.

Aufbereitet wird das in acht Stationen, die sich thematisch mitunter berühren und überlagern, was es dem Besucher umso leichter macht, das Gezeigte miteinander zu verknüpfen: Wo erinnert wird, indem Fotos von Angehörigen und Reisen ins Album geklebt werden, da kann auch das Vergessen forciert werden, indem bestimmte Personen aus Gruppenbildern ausgemerzt werden. Und wo zum Gedächtnis Büsten angefertigt werden, da wirkt es umso bitterer, wenn eine Schar von ihnen aus dem Depot des Museums gezeigt wird, die keinem Menschen mehr zugeordnet werden kann – die Züge bleiben, die Person ist vergessen.

Eine Vitrine voller Medikamente

Gezeigt werden Aufnahmegeräte ebenso wie Werkzeuge, deren genaue Funktion niemand mehr kennt, oder Fragmente von zerstörten Häusern, die keiner zuordnen kann. Ein Hitler-Bild wird übermalt, das eines seiner Anhänger mit Dolchstichen bestraft. Da sind Filme, aufgenommen von Migranten für die daheimgebliebenen Angehörigen, und ein filmisches Doppelporträt zeigt albanische Erwachsene, die zur Aufnahme eines singenden Kleinkinds im westlichen Exil ihrerseits dasselbe Volkslied singen und dabei das gefilmte Kind aufmunternd begleiten. Und da ist eine Installation, die berührendste von allen, die Originalbilder von Kindern zeigt, die nach 1945 ihre Eltern suchen, begleitet von Beschreibungen: „Namenloses Findelkind“ steht unter einem Foto eines Pausbäckigen mit leeren Augen und bis oben zugeknöpftem Hemd, „geb. etwa 1944, genannt Detlef. Anfang 1945 in einem Walde bei Freudenthal/ Ostsudetenland aufgefunden.“

Eine Abteilung widmet sich dem Vergessen im Rahmen von Demenz, den Strategien, die dagegen entwickelt wurden – eine Vitrine ist Medikamenten gewidmet, die anfangs wohl vor allem die Stimmung des Patienten aufhellen sollten –, und auch den Forschungen, die Krankheit überhaupt zu ergründen. Immer wieder aber stößt man auf Zeugnisse derer, die sich trotz Krankheit nicht mit dem Vergessen abfinden wollen. „Gehaltsabrechnungen Dez/Jan vergleichen“ steht auf einem der Zettel des dementen Vaters. Was für eine Leistung das ist, leuchtet sofort ein.

„Vergessen“. Bis zum 14. Juli im Historischen Museum Frankfurt. Der Katalog kostet 30 Euro.

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Aus dem Text zur Ausstellung:
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„Digitale Amnesie“ beschreibt die zunehmende Auslagerung von Informationen. Vor 20 Jahren konnte jeder von uns noch Telefonnummern auswendig. Heute wählt unser Smartphone für uns diese Nummern. Vergessen wir aber wirklich mehr als Generationen vor uns? Wahrscheinlich nicht, aber unser Vergessen und Erinnern verändert sich mit dem technischem Wandel. Heute halten wir unzählige Momente unseres Lebens mit der Kamera fest. Doch erinnern wir uns deswegen an mehr oder lässt uns die Flut der Fotos mehr vergessen als früher?

Wie das Vergessen funktioniert, erforschten Wissenschaftler schon im 19. Jahrhundert. Die in der Ausstellung gezeigten Instrumente und Modelle aus dem 19. und 20. Jahrhundert führen von den Ursprüngen bis zur heutigen Vergessens-Forschung in der Psychologie und in den Neurowissenschaften.

Ist meine Vergesslichkeit noch normal? Bin ich noch gesund oder schon krank? Das sind Fragen oder Ängste, die uns mit dem Älterwerden beschäftigen. Die Ausstellung vermittelt einen Blick darauf, wie wir als Gesellschaft mit Betroffenen umgehen können, ohne ihre Persönlichkeit aus den Augen zu verlieren, auch wenn diese sich durch die Krankheit stark verändert.

Johann Vincent Cissarz, Porträt: Adolf Hitler 1940, übermalt nach 1945 - ©HMF Horst Ziegenfusz




Ein weiterer Aspekt des „zu viel“-Vergessens präsentiert die Ausstellung mit der kollektiven Amnesie des Holocaust im Nachkriegsdeutschland. Viele unserer Eltern, Groß- und Urgroßeltern schwiegen über den Holocaust, verschwiegen ihre eigene Rolle im Dritten Reich. Die Exponate zeigen die Strategien der Abwehr der eigenen Schuld, aber auch den Widerstand gegen das Schweigen, der in die Wiedergründung des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt mündete.

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Auch zeitgenössische Kunstwerke nehmen in der Ausstellung eine zentrale Rolle ein. Sie sind hierbei keine Illustrationen kultur- oder lebenswissenschaftlicher Thesen, sondern eigenständige Erkundungen der Dynamik von Vergessen und Erinnern.


Beteiligte Künstlerinnen und Künstler:

Kader Attia, Christian Boltanski, Jake & Dinos Chapman, Daniela Comani, Tacita Dean, Mark Dion, Sam Durant, Hans-Peter Feldmann, Robert Filliou, Jochen Gerz, Martin Honert, Ilya Kabakov, Christina Kubisch, Boris Lurie, Arwed Messmer, Jana Müller, Adrian Paci, Regis Perray, Maya Schweizer, Tino Sehgal, Sigrid Sigurdsson

Quelle: Vergessen|Historische Museum Frankfurt HMF - click here



wer etwas wichtiges vergessen hat - muss eben erinnert werden: und die erinnerungsvehikel sind merkzettel, knoten im taschentuch, notizen in der zuständigen smartphone-app, fotos usw. - da hat jeder seine ihm eigenen techniken entwickelt, wenigstens die real erlebten dinge irgendwie für sich auch festzuhalten, wenn sie sein leben bereichert und beeinflusst haben.

manche erinnerungen verknoten sich aber auch allmählich zu albträumen, bevor man sie dann für sich loszuwerden und abzuschütteln versucht.

oft reicht der speicherplatz im oberstübchen nicht hin, um alles minutiös und reproduzierbar festzuhalten und abzuspeichern - und womöglich noch mit irgendeinem internen system wieder auffindbar zu archivieren und bei bedarf aus dem gedächtnis abzurufen.

für einige sachen bleibt aber gerade das unabdingbar, um sich grundständig zu orientieren in zeit & raum ...

etwas anderes ist auch noch einmal die "philosophische (zugehörigkeits-)verortung": wo komme ich her - wo gehe ich hin - wo ordne ich mich ein - und was ist "mein ding" - meine message ...

es ist eine im wahrsten sinne des wortes "nach-denk-würdige" idee, all diese orientierungsfragen auch für das eigene innere navi in einer vielschichtigen ausstellung versuchen anzureißen - jeder muss dann für sich sein "merk-würdiges" system dazu entwickeln - und dazu gibt ihm diese frankfurter ausstellung die nötigen anregungen.

und gerade heutzutage, wo der afd-höcke so denk- (nicht merk-)würdige sätze verlauten lässt wie: 

  • "wir deutschen, also unser volk, sind das einzige volk der welt, das sich ein "denkmal der schande in das herz seiner hauptstadt gepflanzt hat (gemeint ist das 'holocaust'-denkmal). -
  • und bis heute sind wir nicht in der lage, unsere eigenen opfer zu betrauern (wobei herr höcke scheinbar "vergisst", dass die meisten holocaust- und 'euthanasie'-opfer ganz normale deutsche reichsbürger waren). -
  • wir brauchen nichts anderes als eine erinnerungspolitische wende um 180 grad"... 

vogelschiss
da ist eine derartige ausstellung tatsächlich vonnöten und einfach überlebensnotwendig für alle menschen, die sich nicht einlullen lassen wollen durch solch ein unqualifiziertes dahergequatsche - einer partei, deren vorsitzender gauland ja auch die nazi-zeit als "vogelschiss" der deutschen geschichte abtun will und nicht mal mehr zu den akten legt, sondern am liebsten gleich ganz ausmisten will ...

ich möchte deshalb anregen, dass diese ausstellung durch ganz deutschland "wandert" von museum zu museum ...

nein - nein - nein - so leicht kommt dieser wiedererstarkte braune sumpf uns nicht davon: solcherart mentale aufgepfropfte verdrängungen ziehen auch zumeist immense psychosomatische störungen nach sich ...

ZDF - Ausstellung über Vergessen - Eine Ausstellung im Historischen Museum Frankfurt will zeigen, wie wichtig das Vergessen ist . Und was sich lohnt zu behalten und zu erinnern. Was wir vergessen – das ist auch eine gesellschaftliche Frage. CLICK HERE



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