"Es ist keine Routine geworden"
Gunter Demnig verlegt 75.000. Stolperstein
Seit Jahrzehnten verlegt der Alsfelder Künstler Gunter Demnig sogenannte Stolpersteine zur Erinnerung an Opfer des Nationalsozialismus. Jetzt hat er seinen 75.000. Stein vergraben. Im Interview erzählt er, was ihn antreibt - und was passierte, als bei einer Aktion einmal Neonazis aufmarschierten.
Gunter Demnig ist viel unterwegs in diesen Tagen. Im Dezember reiste er an 17 Tagen durch Deutschland. Der 72-jährige Künstler verlegt sogenannte Stolpersteine. Sie erinnern an Menschen, die im Nationalsozialismus ermordet und verfolgt wurden. Die Steine tragen die Namen der Opfer und werden vor den ehemaligen Wohnhäusern der Opfer in den Boden eingelassen. Anfang der 90er Jahre startete Demnig sein Projekt. Mittlerweile liegen in bundesweit 1.265 Kommunen Stolpersteine.
Den 75.000. Stein klopfte Demnig am vergangenen Sonntag im bayerischen Memmingen in den Gehweg. Am Montagmorgen war er schon wieder zurück im heimischen Alsfeld (Vogelsberg). In wenigen Tagen bricht er mit Kelle und neuen Steinen auf zu einer großen Reise durch Italien. In insgesamt 21 europäischen Ländern hat Demnig schon Stolpersteine verlegt. hessenschau.de sprach mit ihm über sein Projekt.
hessenschau.de: Sie haben gerade Ihren 75.000. Stolperstein verlegt. Fast immer tun Sie das selbst - das klingt nach sehr viel Stress.
Gunter Demnig: Das ist völlig normal inzwischen, im letzten Jahr war ich an 270 Tage unterwegs. Gerade im Ausland finde ich es wichtig, dass ich das selbst mache. In Oslo war ich schon zehn Mal. Aus dem Ausland melden sich oft Angehörige, die davon gelesen oder gehört haben und sagen, bei uns war die Oma oder Uroma betroffen und sie möchten einen Stolperstein. Wir geben das dann zurück an die Städte, weil die Initiative aus den Orten kommen muss. Der nördlichste Stein liegt noch nördlich von Hammerfest in Norwegen auf einer winzig kleinen Insel. Der Mann wurde denunziert.
hessenschau.de: Sie reisen nicht nur mit der Kelle durchs Land und verlegen Steine. Sie treffen auch viele der Nachkommen der Opfer. Was passiert da?
Gunter Demnig: Oftmals sitze ich am Abend davor mit den Angehörigen zusammen beim Essen und man tauscht Gedanken aus. Was bei meiner Arbeit am Ende übrig bleibt, ist eine sehr große Dankbarkeit für dieses Projekt. Die meisten der Opfer haben weder ein Grab noch Grabsteine und jetzt gibt es wenigstens einen Ort der Erinnerung. Und, was mir wichtig ist, laut dem Talmud ist ein Mensch vergessen, wenn sein Name vergessen ist, das hatte mir der Rabbi von Köln in den 90er Jahren mit auf den Weg gegeben. Das war einer der Hauptgründe, warum ich das Projekt begonnen habe.
hessenschau.de: Hätten Sie Anfang der 90er gedacht, dass Sie im Jahr 2019 den 75.000sten Stein verlegen?
Gunter Demnig: Überhaupt nicht. Ich habe mit ein paar hundert, vielleicht tausend Steinen gerechnet. Dass es solche Dimensionen annehmen würde, hätte ich mir nicht träumen lassen. Für mich war es anfangs Konzeptkunst. Im Jahr 1992 erschien das Buch "Kunstprojekte für Europa" mit dem Untertitel "Größenwahn". Da dachte ich: meine Idee passt da gut rein. Mittlerweile ist für mich das Interesse von Jugendlichen wichtig. Die Erfahrungen an Schulen sind zum größten Teil sehr toll und positiv.
hessenschau.de: Sie haben in diesem Jahr in Frankfurt den 1.500sten Stein verlegt. Wir wissen, dass in der Stadt sehr viel mehr Menschen deportiert und ermordet wurden. Kann Ihre Arbeit überhaupt ein Ende haben? Und werden Sie das Reisen manchmal müde?
Gunter Demnig: Das, was zurückkommt, entschädigt für vieles. Ich kann aber nicht sagen, dass es Spaß macht. Denn der Anlass ist ja kein Grund zur Freude. Es ist keine Routine geworden. Das Einsetzen der Steine, klar, das kann ich zur Not im Dunkeln machen.
Ganz besonders wichtig sind mir die Treffen mit Schulklassen. Wenn Angehörige der Opfer dazukommen, werden die Schüler neugierig: Sie wollen wissen, wie konnte so etwas im Land der Dichter und Denker passieren? Wenn die nur von sechs Millionen Toten lesen, dann ist das eine abstrakte Zahl.
Wir hatten zum Beispiel mal Kontakt mit einem Geschichtsleistungskurs aus der Nähe von Hildesheim, der am Ende selbst einen Antrag auf Stolpersteine stellte. Der Stadtrat fiel damals aus allen Wolken. Ich habe ihm gesagt: Es kann doch gerade nicht besser sein, wenn gerade Schüler so etwas machen.
hessenschau.de: In den 90er Jahren wie auch heute ist rechtsextreme Gewalt ein großes Thema. Immer wieder werden auch Stolpersteine aus dem Boden gerissen. Sind Sie wegen Ihrer Arbeit schon mal bedroht worden?
Gunter Demnig: Drei Morddrohungen in 20 Jahren, damit kann ich leben. Bei der Verlegung von Steinen sind Neonazis nur ein einziges Mal aufmaschiert, bei Leipzig. Das ist schon eine Weile her und die hatten keine Springerstiefel an, sondern Schlips und Kragen. Sie verlangten, dass ich auch etwas für gefallene deutsche Soldaten machen sollte. Ich habe damals zu ihnen gesagt: "Machen Sie das doch selbst, gründen Sie einen Verein und gehen Sie zum Bürgermeister - ich mache derweil weiter."
Mit Gunter Demnig sprach Sonja Süß.
Quelle: hessenschau.de
mir bleibt dazu nur einfach danke zu sagen an gunter demnig und sein großartiges europaweites stolperstein-netzwerk mit 75.000 knotenpunkten: und statt vieler extra worte - hier ein transkribiertes schüler-interview zum ns-euthanasie-leidensweg meiner tante erna kronshage und dem stolperstein dazu, den gunter demnig am 06.12.2012 hier in sennestadt unweit ihres letzten wohnortes verlegt hat - also auch einer der 75.000 knotenpunkte dieses netzwerkes:
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