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Bühne frei für die Verrückten

Astrid hört Stimmen, seit sie ein Kind ist - das nahm ihr die Selbstständigkeit, ihre Wohnung, das Selbstbewusstsein. Heute geht es ihr besser, denn sie spielt Theater mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen haben wie sie

Von Hannes Schrader | Tagesspiegel

Astrid ist ein kotzendes Känguru. Sie steht, umgeben von fünf anderen, in einem Funktionsraum im Neuköllner Bürgerhaus. Astrid macht einen Schritt nach vorn. Einer ihrer Mitspieler formt die Arme zu einem Kreis vor dem Bauch. Astrid tritt vor ihn, beugt den Kopf über seine Arme und würgt. „ÜHAAARARRGGHEEAAT!“


Köpereinsatz. Theaterpädagoge Stephan B. Antczack leitet die Gruppe vom „Theater der Verrückten“ vom Netzwerk Stimmenhören e.V. Die Mitspielenden bringen ihre Erfahrungen mit psychischen Beeinträchtigungen in die Arbeit ein. Fotos: Stefan Weger


„Stopp! Nein, Astrid“, ruft Stephan Antczack, der Leiter der Gruppe, aus dem Off. „Nicht du bist das kotzende Känguru, sondern du bestimmst das kotzende Känguru.“ - „Hä?“, sagt Astrid. Antczack erklärt nochmal, wie die Übung funktioniert: Astrid muss bestimmen, wer der Umstehenden das kotzende Känguru ist. Die betroffene Person muss dann die Hände vor dem Bauch zum Kreis formen, seine beiden Nachbarn müssen so tun, als würden sie sich in den imaginären Beutel übergeben.

„Aaaachso!“, sagt Astrid. Nochmal.

Es ist Freitagnachmittag, es probt das Theater der Verrückten. Das Känguru ist nur eine Aufwärmübung, zum Lockerwerden. Das Theater der Verrückten ist ein Ensemble aus jungen und alten Männern und Frauen mit psychischen Problemen. Einige von ihnen hören Stimmen, manche sind depressiv.

Stimmen zu hören ist ein Symptom dessen, was die Psychiatrie „Psychose“ nennt. Psychosen können durch großen emotionalen Stress ausgelöst werden, auch genetische Faktoren spielen eine Rolle. Die Betroffenen können Verfolgungswahn entwickeln, die Stimmen beschimpfen sie oft auch. Aber hier, im Theater, fragt niemand nach einer Diagnose. „Wir sind offen für alle, die selbst Krisen erlebt haben oder sich, aus welchen Gründen auch immer, mit den Problemen betroffener Menschen befassen wollen“, sagt Antczack.

Die Teilnehmenden sprechen von Problemen und Störungen, die Begriffe „gesund“ und „krank“ lehnt das Ensemble ab, weil sie - so sehen sie das - den eigenen Zustand stigmatisieren. Deshalb nennen sie sich auch Theater der Verrückten - um den Begriff für sich zu besetzen. „Im Theater ist es erlaubt, die Dinge auf den Kopf zu stellen, zu verrücken“, sagt Antczack.

Er leitet die Probe. Antczack ist Theaterpädagoge, Vorbild für das Theater der Verrückten ist das „Theater der Unterdrückten“, des brasilianischen Theatertheoretikers Augusto Boal. Theater soll den Spielenden ermöglichen, sich selbst zu erfahren und ein politisches Bewusstsein zu entwickeln. Die Probe ist nicht getrennt von der Aufführung - hier verarbeiten die Spielenden, was sie fühlen, erleben, denken. „Auch die Aufführung ist eine Probe“, sagt Antczack.

Heute stehen sie zu sechst hier: Da ist eine Studentin, ein Webdesigner Anfang 40, ein junger Informatiker. Einer ist für die Probe extra aus dem Urban-Krankenhaus hergeradelt. Dort wird er behandelt. Alle wollen anonym bleiben, deshalb stehen hier nicht ihre Namen.

Auch Astrid heißt eigentlich anders. Sie ist 34, ihr Top ist fliederfarben, sie trägt Stiefel und Brille. Wenn sie mit etwas einverstanden ist, sagt sie: „Allet jut.“ Sie hörte schon als Kind Stimmen, erzählt sie. In der Pubertät sei es dann schlimm geworden: Oma, Opa, Tante, Onkel und viele andere mehr redeten in ihrem Kopf auf sie ein. „Einmal habe ich im Bett gelegen und zwei Männer- und eine Frauenstimme haben mir gesagt, unten vor dem Haus steht dein Ex-Freund und prügelt auf deinen zukünftigen ein“, erzählt sie. „Sie wollten mich motivieren, aufzustehen und nachzuschauen.“ Sie blieb liegen.

Nächste Übung: Antczack setzt sich auf einen Stuhl und bittet ein Ensemble-Mitglied, sich auf seinen linken Oberschenkel zu setzen. Dann setzt sich der nächste auf den Oberschenkel des Hintermanns. So sitzt die Gruppe kurz da wie eine Raupe. Als alle aufstehen, sagt Antczack: „Allein könnte man das Gewicht nicht tragen. Aber je mehr Leute sitzen, desto leichter wird es, weil das Gewicht sich verteilt. Wenn wir gemeinsam handeln, können wir den Schmerz verteilen.“

„Also ich hatte das Gefühl, es wird immer schwerer!“, ruft Astrid rein. „Dann hast du es wohl nicht richtig gemacht“, sagt Antczack und zwinkert ihr zu.

Astrid ist seit 2017 beim Theater, kam kurz nach dessen Gründung dazu. Das Projekt gehört zum Verein „Netzwerk Stimmenhören“, in dem sich Menschen organisieren, die Stimmen hören und sich gegenseitig helfen - indem sie sich in Gruppen treffen, austauschen, Selbsthilfegruppen vermitteln oder auch ergänzend zu Therapie oder anderer medizinischer Behandlung.

Antczack baut das Bühnenbild auf: Zwei Stühle am vorderen Ende des Raumes. Heute probt die Gruppe „Alter Wein in neuen Schläuchen“, eine Szene, die ein Mitglied des Ensembles geschrieben hat. In den Szenen verarbeitet das Theater die Konflikte, die ihre Mitglieder erleben. „Wer möchte?“, fragt Antczack in die Runde. Als sich keiner meldet, schaut er Astrid an. Sie steht auf und setzt sich auf einen der beiden Stühle. Eine junge Studentin spielt die andere Rolle. Alle Anwesenden klatschen mit ihren Händen auf ihre Oberschenkel und rufen: Action!

Astrid spielt Herrn Dr. med. Philipp Phrasendrescher, einen Psychotherapeuten. In der Szene trifft Dr. Phrasendrescher auf eine Patientin: Ute Unverstanden. Die Patientin fühlt sich von Dr. Phrasendrescher - unverstanden. „Heute möchte ich über unsere letzte Sitzung reden“, sagt Ute Unverstanden. „Beim letzten Termin war ich einerseits perplex und andererseits auch verärgert.“

Astrid lehnt sich zurück, macht sich groß, zieht die Augenbrauen hoch: „Worüber waren Sie denn so verärgert?“ Die Patientin erzählt von einem Termin, den sie im „Flopcenter“ hatte. Der zuständige Beamte habe ihr gesagt, sie könne ja Hilfsarbeiten machen, sie wollte aber eine Weiterbildung machen, woraufhin der Beamte ihr gesagt habe: „Sie können ja einen Weiterbildungsantrag stellen. Den werde ich dann ablehnen.“

Astrid war mal selbstständige Unternehmerin, sie organisierte Veranstaltungen. Doch je unangenehmer das Miteinander mit den Kollegen wurde, desto lauter und negativer wurden die Stimmen, die sie hörte - beschimpften sie, machten ihr Vorwürfe, Angst, bewerteten sie. Einmal fuhr sie in der U-Bahn, die Bahn war voll, alles war eng, alles wurde zu viel. Sie bekam eine Panikattacke. Sie stieg aus und wusste nicht mehr, wo sie war, wo sie her kam, wo sie hin wollte. So erzählt sie es heute.

Astrid als Dr. Phrasendrescher wird immer lauter, macht sich immer größer in ihrem Stuhl. Als die Patientin ihr vorwirft, sich zu verhalten wie der Beamte, ruft sie: „Also, das finde ich nicht fair von Ihnen! Mein Herz schlägt doch links!“

Als Astrid wieder wusste, wo sie war, fuhr sie ins Urban-Krankenhaus und wies sich selbst in die Psychiatrie ein. Sie blieb 14 Tage. Doch dort habe sie nicht die Hilfe bekommen, die sie gebraucht habe. Sie fand sie beim Netzwerk Stimmenhören. In der Selbsthilfegruppe habe sie einen besseren Umgang mit ihren Stimmen gefunden. Sie gab ihre Arbeit auf, zog um. „Ich habe mein ganzes Leben umgestellt.“ Heute gehe es ihr besser. „Ich höre nur noch eine Stimmfarbe, und die ist positiv“, sagt sie. Kein Gewirr an Stimmen mehr, die sie fertig machen.

Selbstdarsteller. Bewusst mit Körper und Kopf zu arbeiten, schafft neues Selbstvertrauen. So empfinden es manche, die in dem Ensemble mitspielen.

Astrid engagiert sich im Netzwerk Stimmenhören, berät andere Betroffene, hält Vorträge. „Das Theater ist für mich eine kleine Familie, hier kommen wir zusammen und verarbeiten, was wir erleben“, sagt sie. Mit jedem Auftritt gehe es ihr besser, weil sie etwas geschafft habe. „Die Stimmen nehmen dir das Gefühl, selbstbestimmt zu sein. Man geht nicht mehr aufrecht.“ Das Theater helfe dabei. Früher war sie vor Auftritten so aufgeregt, dass ihre Brille beschlug, sagt sie. Heute steht sie in der Probe, im Kreis, im Bühnenbild. Und wenn sie steht, steht sie aufrecht.

Das Theater der Verrückten probt alle zwei Wochen im Ambulanten Betreuungszentrum in der Werbellinstraße 42 in Neukölln. Offene Proben gibt es von Juni bis August. Anfragen an das Netzwerk Stimmenhören: stimmenhoeren@gmx.de

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selbst . wert . gefühl . das sind die stichworte bzw. das ziel dieser theaterarbeit. in einem theater ist es erlaubt - ja, sogar erwünscht, in eine andere rolle zu schlüpfen, neben sich zu stehen, "aus sich herauszukommen" - ein profil zu entwickeln, mit dem man eindruck schinden kann, kopf zu stehen, automatisch zu reden - und sich mit kopfgeburten entlasten und befreien ...

die bretter, die die welt bedeuten können hier ganz wertfrei und ungezwungen betreten werden - und - wie oben gelesen: man kann sich auch schon mal so richtig auskotzen ... - und wenn es auch in den beutel eines käguru's ist.

alles ist erlaubt: und die manchmal nervenden und quälenden stimmen in den einzelnen protagonisten, die es sonst so sorgsam zu verbergen gilt und zu verleugnen, die können sich hier mal so richtig mit austoben - wehe wenn sie losgelassen.

ich bin mir sicher, dass die theatergruppe ein viel viel bessere "therapie" ist, als jedes psychpharmakon - und billiger ... 

aber die schulmedizin sieht eine solche arbeit sicherlich auch kritisch - denn sie hält einem "doppel-blind-versuch" ja kaum stand - und ist "wissenschaftlich" kaum zu erfassen.

aber den medizinern muss man ja auch nichts beweisen - aber sich selbst - und dem publikum im saal...

ich wünsche der truppe bei der nächsten vorstellung viele viele "vorhänge" ...

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