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der unbeobachtete beobachter


Aus einem Interview von Arno Widmann, Berliner Zeitung 
mit Pater Anselm Grün

Lassen Sie Gott alles durchgehen, 
Pater Anselm?

Anselm Grüns Tag beginnt jeden Morgen um 4.30 Uhr und besteht aus Arbeit und Gebet. Über die Spiritualität, die sein Leben bestimmt, hat er 300 Bücher geschrieben. Ein Treffen zum 75. Geburtstag des Benediktinermönches.


sinedi.@rt bildbearbeitung nach einem pressefoto


Pater Anselm Grün ist berühmt, noch bekanntere Benediktinermönche sind höchstens noch Dom Pérignon (1638–1715), nach dem der Champaner benannt ist, und der Heiligen Bonifatius (673–755). Pater Anselm hat sich nach Anselm von Canterbury (1033–1109), dem bedeutendsten Theologen und Philosophen seines Ordens, benannt. 

Er lebt nach der Ordensregel des – möglicherweise erfundenen – Heiligen Benedikt von Nursia (480–547), des Begründers des nach ihm benannten Ordens. Das heißt, Pater Anselm steht morgens um halb fünf auf und den Rest des Tages über betet und arbeitet er. Wann schreibt er? Ich behaupte: Einige, vielleicht sogar die erfolgreichsten seiner Bücher, fallen unter Ersteres, das Beten, andere für mich interessantere scheinen eher Arbeitsergebnisse. „50 Engel für das Jahr“, ein 1997 erschienenes „Inspirationsbuch“ für den Alltag, soll sich mehr als eine Million Mal verkauft haben. „Im Herzen der Spiritualität. Wie sich Muslime und Christen begegnen können“, eine Koproduktion mit dem 1979 in Kabul geborenen und in Münster lehrenden muslimischen Gelehrten Ahmad Milad Karimi, gehört in die zweite Kategorie.

Mehr als 300 Bücher und Broschüren sollen derzeit von Anselm Grün lieferbar sein. Der Pater schreibt mehr, als die meisten anderen lesen. Und er verkauft mehr als die meisten Autoren: Schon mehr als 20 Millionen Exemplare seiner Bücher, heißt es. Anselm Grün hat eine ganz glatte Gesichtshaut. Als ihm etwas herunterfällt, bückt er sich schwuppdiwupp und legt es auf das kleine Tischchen. Am 14. Januar wird er 75 Jahre alt werden. Wir sitzen in einem kleinen Zimmer im Vorgebäude des Klosters Münsterschwarzach in der Nähe von Würzburg.
...

Wie kommen Sie auf die Themen Ihrer Bücher?
In den Gesprächen mit den Menschen stellen sich immer wieder dieselben Probleme: Angst und Depression.

Die Titel Ihrer Bücher sprechen von Glück, Vertrauen, Leben.
Das „Prinzip Hoffnung“ ist keine Erfindung von Ernst Bloch, sondern der Kern der christlichen Botschaft. Die Welt ist im Argen. Wir sind es. Dahinein wurde Christus geboren, uns zu erlösen. Das versuche ich, den Menschen zu sagen. In einfachen Worten. Es geht darum, dass sie sich selber, dass wir uns selber verstehen können.

In Ihren Überlegungen spielt die Erfahrung des „inneren Raumes“ eine große Rolle. Was meinen Sie damit?
Der italienische Psychologe Roberto Assagioli spricht von Disidentifikation, vom unbeobachteten Beobachter in uns, den es zu wecken gilt.   Er weist auf den Unterschied hin zwischen „Ich bin wütend“ und „Ich spüre etwas in mir, das wütend ist“. Der, der das sagt, ist nicht eins mit der Wut. Er kann sie von außen beobachten. Sie können diesen unbeobachteten Beobachter auch Ihr wahres Selbst nennen. Da ist ein innerer Raum, zu dem der äußere Lärm keinen Zutritt hat. Er gibt Ihnen die Möglichkeit, sich zu erkennen. Und er relativiert die Probleme, die von außen auf Sie einstürmen.

Was hat das mit Gott zu tun?
Stoße ich in diesem inneren Raum nur auf meine eigene Lebensgeschichte oder auch auf etwas, das unabhängig ist von ihr? Auf ein Geheimnis? Das nenne ich Gott. Er ist natürlich nicht nur in mir. Er ist in allem. Meine Erfahrung ist, erst, wenn ich dazu vordringe, kann ich wirklich bei mir daheim sein. Die deutsche Sprache verbindet Heimat und Geheimnis. In mir wohnt ein Geheimnis, das größer ist als ich selber.

Es war nicht die Spiritualität, die uns plausibel machte, dass das gesamte Universum, dass alles, was wir kennen und wissen, gerade mal fünf Prozent der in Wirklichkeit vorhandenen Masse und Energie sind. 95 Prozent der Welt sind – so denken viele Physiker heute – uns unbekannte dunkle Masse und Energie.
Das gibt uns zu denken. Das erinnert uns an unsere Beschränktheit. Aber die dunkle Materie ist nicht Gott. Auch sie ist sein Geschöpf.

Aber diese Überlegungen führen doch sehr weit weg von dem, was Sie Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre an der Benediktinerhochschule Sant’Anselmo in Rom gelernt haben.
Ich habe in Dogmatik promoviert. Viele verbinden damit Rechthaberei. Für mich aber war Dogmatik immer das Gegenteil, nämlich die Kunst, das Geheimnis offenzuhalten. Mich interessierten die Paradoxien in der Dogmatik.

Zum Beispiel?
Nehmen Sie das Dogma von 1854 von der „unbefleckten Empfängnis Marias“, sie soll frei von Erbsünde geboren worden sein. Man kann sich fragen: Was soll das? Wo steht das in der Bibel? Aber man kann das Dogma auch so verstehen: Wir alle leben in einer sündigen Welt. Auch Maria. Das Dogma von der unbefleckten Empfängnis sagt uns, dass in uns auch etwas ist, wo keine Sünde, keine Schuld ist, der innere Raum der Stille, zu dem auch die Sünde nicht vordringt.

Aber es geht dabei doch gerade nicht um uns, sondern um eine Besonderheit der Gottesmutter.
Nein, Maria ist immer Typus für den erlösten Menschen, also ein Bild von mir selbst. Auch in mir, in jedem von uns gibt es eine sündenfreie, eine reine Stelle. Wir sind alle auch Immaculati.

Hitler? Stalin?
Es gibt auch die Identifikation mit dem Bösen in einem Umfang, dass jemand keinen Zugang mehr hat zu seinem „inneren Raum“, zum „unbeobachteten Beobachter“.

Die Botschaft der Reinen, der Unbefleckten, der Immaculata gilt doch nicht für jeden?
Dass sie für alle gilt, ist die Hoffnung. Keiner tut das Böse aus Lust am Bösen. Das Böse wird aus Verzweiflung getan. Es gibt Menschen, die so verzweifelt sind, dass sie nicht mehr an das Gute in sich glauben können. Sie fühlen sich nur noch lebendig, wenn sie zerstören. Hitler hat seine Verletzungen einfach ausagiert. Wir müssen aber, wenn wir verantwortlich handeln wollen, unsere eigenen Wunden heilen, sonst geben wir sie weiter. Manche aber finden keinen Zugang mehr zu sich selbst.

Es gibt Menschen, für die Jesus nicht gestorben ist?
Jesus ist für alle gestorben. Aber nicht alle nehmen dieses Geschenk an. Jedenfalls nicht im Leben. Im Tod begegnen wir alle Gott und damit auch Jesus. Verschließen wir uns ihm gegenüber oder öffnen wir uns dann? Das ist die Frage. Die Bibel spricht vom Gericht. Horkheimer sagt: Es ist ein Grundgesetz der menschlichen Gerechtigkeit, dass die Täter nicht über die Opfer triumphieren dürfen.

Dem schließen Sie sich an.
Ja.

Es gibt die ewige Verdammnis, es gibt die Hölle?
Ja.

Das ist keine frohe Botschaft.
Die frohe Botschaft ist die Hoffnung, dass die Menschen sich einlassen auf das Gericht und sich ausrichten lassen auf Gott.

Erlöst wird nur der, der Jesus folgt. Ist das nicht eine schreckliche Botschaft?
Es kommt darauf an, wie Sie das verstehen. Jesus folgen heißt, seiner innersten Stimme zu folgen. Das können auch Muslime oder Buddhisten. Die katholische Lehre sagt: Wir müssen damit rechnen, verworfen zu werden, aber wir dürfen auf Erlösung hoffen. Sogar Ratzinger hat gesagt: Wir dürfen hoffen, dass die Hölle leer ist. Wir dürfen die Hölle aber nicht leugnen. Wir kommen alle in den Himmel, kann nicht die Botschaft sein. Dann wäre es ja ganz gleichgültig, wie ich lebe.

Lassen Sie Gott alles durchgehen? Ist es ganz undenkbar, dass er etwas tut, dass Sie sich abwenden von ihm?
Gott ist kein Zauberer, der kommt, um unsere Probleme zu lösen. Ich begegne Gott und in dieser Begegnung mit ihm wandelt sich etwas in mir. Aber ohne den Druck, ich müsste alles, mein ganzes Leben ändern. Ändern ist auch so ein Wort. Heute muss sich alles ändern. Die christliche Tradition spricht lieber von der Verwandlung.

Gott kann bei Ihnen nicht scheitern.
Er scheitert, könnte man sagen, wenn die Menschen sich vor ihm und seiner Liebe verschließen. Dann entsteht im Extremfall Auschwitz. Gott verhindert das nicht. Aber Auschwitz stellt nicht Gott, sondern den Menschen infrage.

Jesus wird ja wiederkommen. Gab es einen Augenblick in Ihrem Leben, da Sie dachten: Vielleicht bin ich dieser wiederkehrende Jesus.
Den Gedanken hatte ich nie.

Sie lachen darüber. Ist der so absurd für zum Beispiel ein kleines, frommes Kind?
Mit so großen Bildern bläht man sich auf. Ein frommes Kind bläht sich nicht auf. Es gibt natürlich immer wieder religiöse Bewegungen, in denen sich jemand zum Messias erklärt oder erklären lässt. Da bin ich sehr skeptisch.

Gott spricht doch auch mit Ihnen.
Das hoffe ich. Durch mein Gewissen, ja.

Nur durch das Gewissen oder auch durch ekstatische Erfahrungen?
Durch Erfahrungen auch. In der stillen Meditation über ein Wort aus der Bibel merke ich mit einem Mal: Das ist die Wirklichkeit, das ist die Wahrheit. Das ist, als würde ein Schleier weggezogen. Endlich hat man Durchblick, sieht weiter und tiefer.

Was meinen Sie mit Spiritualität?
Das ist heute ein Modebegriff. Früher sagte man geistiges Leben oder Frömmigkeit. „Frömmigkeit“ mag heute keiner mehr hören. Zur Spiritualität gehören zwei Dinge: Erstens mein äußeres Leben als Mönch mit den Ritualen, mit dem Chorgebet. Zweitens geht es um meine innere Einstellung. Letztlich heißt Spiritualität für mich: Durchlässig zu sein für den Geist Jesu.

Sie schreiben, dass zur Spiritualität auch die Erfahrung von Lustgefühlen gehört. In Ihrer Autobiografie schreiben Sie, wie wichtig das Verliebtsein ist, um sich als lebendiger Mensch zu fühlen.
Das Christentum hat viel Plotin, viel Stoa, viel Askese, viel Ablehnung der Sexualität aufgenommen. In der christlichen Mystik war das anders. Ihre Sprache war eine erotische Sprache. Dahinter gab es immer auch eine erotische Erfahrung. Ohne diese Eroskraft kann ein Klosterleben nicht gelingen. Die Sexualität darf nicht verleugnet, sie muss integriert werden.

Was heißt das?
Augustinus sagt: Hinter allem, das ich leidenschaftlich begehre, steckt eine spirituelle Sehnsucht. Ich spüre mein Begehren und denke es zu Ende. Aber das Irdische wird mein Begehren niemals ganz erfüllen. Aber ich lehne das Begehren nicht ab. Ich begehre erst einmal das Irdische. Ich begehre Liebe, Erfolg, Geld. Wann immer jemand leidenschaftlich nach etwas sucht, meint Augustinus, ist darin eine religiöse Sehnsucht. Auch wenn jemand sich völlig identifiziert mit einem Fußballklub und dessen Sieg feiert. Dann drückt sich manchmal darin auch aus, dass er einmal nicht auf der Seite der Verlierer, sondern auf der der Sieger stehen möchte.

Macht das die Sache sympathischer? Viele christliche Märtyrer haben ihre Folterer verspottet und sie darauf hingewiesen, dass sie bald die Herren sein werden und die Folterer in der Hölle braten werden. Für Augustin gehörte zu den Schönheiten des Himmels der Blick auf die Verdammten.
Das klingt sehr makaber. Das Gefühl, bald zu Jesus zu kommen, erleichtert dem Märtyrer den Tod. Aber die Freude aufs Himmelreich darf nicht als Triumph über die anderen genossen werden. Das hat nichts vom Geist Jesu.

Über den Sie genau Bescheid wissen.
Nein. (Pater Anselm lacht)

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nun - pater anselm grün sehe ich immer etwas kritisch, inzwischen auch die restauflagen seiner bücher auf manchen grabbeltischen in buchläden, eben auch als spirituellen vielschreiber und teuren manager-guru, der anscheinend für sein kloster eben auch knete generiert: und nur von viel kommt viel... - das ist so ähnlich für mich wie mit margot käßmann, die ja auch plötzlich zu allen lebenslagen in büchern sich und anderen scheinbar ihre theologische integrität beweisen musste, wenigstens eine zeitlang nach ihrem bischöfinnen-rücktritt wegen einer autofahrt unter alkohol. 

aber in diesem interview mit anselm grün finde ich dann doch wichtige aspekte angesprochen zu unserem verhältnis zu gott, so dass ich die für mich wichtigsten schlüsselpassagen in diesem sowieso schon hier gekürzt wiedergegebenen interview noch einmal extra kenntlich gemacht habe.
  • da ist dieser "innere raum", der da angesprochen ist: der von assagioli konstatierte "unbeobachtete beobachter", der "in uns" ist - und den es "zu wecken" gilt.
ich glaube für mich, dass damit etwas beschrieben ist, was die systemische theorie, die "metaebene" nennt: für mich ist das die schaltung auf eine andere innere kameraeinstellung in echtzeit, z.b. das hier & jetzt möglichst mit einem anderen "objektiv" aus der draufsicht von oben zu betrachten, was die perspektive des eigenen tuns erweitert, also vielleicht die "innere kameradrohne" starten, oder die wiederholung in zeitlupe oder in zeitraffer aus anderen sicht- und ablaufperspektiven.

lenor-werbung der 70er jahre
(youtube video-still)
oder eben auch die frühere weichwaschmittel-werbung im fernsehen, die als die "lenor-stimme" bezeichnet wurde, die in den szenen plötzlich wie ein fragend kritisches "gewissen" aus der agierenden figur fast geisterhaft heraustrat - mit irgendeiner mahnenden anmerkung.

das konnte ja nur ein*(e) "unbeobachtete*(r) beobachter*(in)" sein, der/die das agierende ich im selbst in frage stellte, oder im wahrsten sinne des wortes sich etwas alternatives oder korrigierend kritisches zum eigenen tun "vorstellte" - etwas "reflektierte" bzw. "alle möglichkeiten durchdachte" und abwägte.

da kann es einem dann "wie schuppen von den augen fallen". und so empfinde ich das auch: da meldet sich mein inneres navi mit dem "beobachtenden" gps "von oben" - und weist mir den weg und gibt mir orientierung.

da meldet sich etwas außerhalb von mir, zu dem ich vertrauen fassen darf - und das mich führt: und das beschreibt anselm grün als das "göttliche" in uns - als gott - mit dem wir so im dialog sind - in allen lebenslagen.
  • ein weiterer wichtiger aspekt ist dann für mich die frage des interviewers, nach einem scheitern gottes - und wo grün so klar darauf hinweist, dass gott eben nur durch uns menschen auf dieser welt verwirklicht werden kann. 
die theologin dorothee sölle hat das ja auch so ausgedrückt, dass gottes wirken in dieser welt abhängig ist von unserem handeln - gott habe keine anderen hände als unsere.

und wenn dann bei katastrophen immer gefragt wird: warum hat gott das zugelassen? - und mit ihm jeweils gehadert wird und wo man sich oft danach erst recht abwendet, dann müssen wir das aber auch jeweils mitbedenken, dass gottes "allmacht" nur durch unser tun & lassen sich verwirklichen kann. 

anselm grün unterstreicht das: gott scheitert immer dann, wenn wir menschen uns vor ihm verschließen. 

und dann entsteht im extremfall eben auschwitz - oder erderwärmung - dann kann die natur und die ganze zusammengeschachtelte und aufeinander angewiesene schöpfung bedroht sein. gott kann das nicht verhindern, denn er hat nur uns hier auf erden zum aktiven handeln - und auschwitz oder der klimawandel oder die flugzeugkatastophen stellen eben nicht gott "an sich" infrage, sondern die menschen und ihr unvermögen und ihre hybris bei gleichzeitiger gottesferne und gottabgewandtheit.