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virus & angst



da schlug ich heute meine lokale e-zeitung auf - und traf auf eine seite, die man in nicht-coronazeiten wohl als "selbstlob" der redaktion abgetan hätte. doch mit der verbreitung des virus ist ja alles anders als bisher. 

da hatte doch tatsächlich eine leserin in schlafloser nacht all die gedanken aufgeschrieben, die sie jetzt in dieser bedrohlichen situation heimsuchten und die sie hin und her wälzte und auch hin und her wälzen ließ - und schickte sie als "zeitkommentar", als mit-teilung an die zeitung als dankeschön für die gute berichterstattung und die prompte information ohne jede sensationsmache - fair und sachlich zugleich.

und ich denke, wenn jetzt die bundeskanzlerin in ihrer rede die kassiererinnen in den supermärkten erwähnt gleich neben den ärzten und pflegern und lobend herausstreicht - dann ist das doch wirklich in diesen zeiten einer notwendigen allgemeinen sozialen abstinenz auch für die redakteurInnen, journalistInnen und macher in den medien und zeitungen angezeigt.

ich bin ein unverbesserlicher zeitungsnarr - ich habe um die 10 nationale und internationale e-newsletterprodukte auf meinem rechner. und das hat was mit einer vergangenheitsnostalgie zu tun: als kind wohnte in der nachbarschaft eine familie, wo alle eng mit einem zeitungsverlag verbandelt waren und mich damit ansteckten und hineinzogen: der vater der familie war technischer leiter im zeitungsverlag und für setzerei und für rotationsmaschine zuständig - und ein sohn illustrierte und karikierte dort bereits als schüler mit seinem ihm in die wiege gelegten grafischen geschick - und mit einem weiteren sohn durchlief ich schließlich eine schriftsetzerlehre dort - noch wie zu gutenbergs zeiten mit bleilettern und rund ausgegossenen zeitungsmatern für die buchdruck-rotationsmaschinen-zylinder, von denen dann die seiten abgedruckt wurden. die politische ausrichtung dieser zeitung passte mir zu der zeit zwar nicht so recht - aber ich war ja nur mit der technischen fertigstellung in berührung.

das war insgesamt eine äußerst spannende zeit - und ich war mit den hereinflatternden redaktionsnachrichten immer "up to date" - und brauche das heute, nach fast 60 jahren immer noch.

so schön diese zeit mit ihrer grafischen bearbeitungsidylle auch war, umso rascher ging sie dann sang- und klanglos zu ende: kaum hatte ich meinen sogenannten "gehilfen-/gesellenbrief" als schriftsetzer in der tasche, brach prompt die grafische technikrevolution aus: das bleimetall mit seiner schädlich-giftigen und grob schweren konsistenz, verschwand ganz aus den produktwegen - und es wurden per computer "filme" mit den texten und schriften und fotos oder auf anderen reproduzierfähigen materialien als vorlagen für die neuen offset-druckmaschinen hergestellt - und einen computer zu bedienen, bedurfte eines gelernten schriftsetzers alter art kaum noch.

kurz und gut: ich kann mit einem solchen background schon verstehen, weshalb die leserin, die anonym bleiben will, den leserbrief  als produkt ihrer unfreiwilligen "nachtwache" für ihre zeitung schrieb:  

Und dann war da noch eine ganz besondere Zuschrift. Die Autorin hatte, wie sie später im Gespräch erzählte, in schlafloser Nacht einfach mal ihre Gedanken zu Papier gebracht. Auf die Frage, ob wir das nicht drucken könnten, reagierte sie erst perplex. Schließlich stimmte sie zu – wollte aber ihren Namen partout nicht in der Zeitung lesen. Da die Redaktion ihre Identität kennt, willigten wir ausnahmsweise ein. Lesen Sie selbst, ob das eine gute Entscheidung war. Ach ja – die Überschrift lautete ursprünglich anders, diese hier haben wir hinzugefügt:

Ein Virus und das wir

„Was uns verbindet ist die Angst. Angst um die betagten Eltern. Angst um die durch Vorerkrankungen Geschwächten. Angst, sich selbst anzustecken. Angst davor, jetzt zu erkranken und das Gesundheitssystem in Anspruch nehmen zu müssen.

Angst auch vor der Un­vernunft und dem Egoismus anderer. Angst und Trauer, geliebte Menschen, Vater und Mutter, lange Zeit nicht besuchen zu können und sie an Geburtstagen nicht mehr in den Arm nehmen zu können. Angst vor den Bildern aus Italien und dem Grauen, das sich dort in diesem Moment abspielt. Angst vor immer neuen Hiobsbotschaften.

Angst vor dem Zerfall unserer Zivilisation, die letztendlich nur eine hauchdünne Schicht über anarchischem, auf das eigene Überleben ausgerichtetem Verhalten ist. Wie würden die Menschen erst reagieren, wenn die Situation dramatischer wird und es offenkundig um Leben und Tod, sprich um einen Platz an einem Beatmungsgerät für sich oder geliebte Menschen geht, wenn doch der Kampf um die letzten Rollen Toilettenpapier schon so gnadenlos geführt wird?

Wir gehen abends mit dem Gedanken an Corona schlafen und wachen morgens mit dem Gedanken an Corona wieder auf. Und leider können wir uns morgens nicht erleichtert die Augen in dem Wissen reiben, dass alles bloß ein schlimmer Albtraum gewesen ist.

Wir, die wir uns sonst in den kleinen Alltagschwierigkeiten verlieren, uns über Nichtigkeiten aufregen, die in der jetzigen Situation geradezu lächerlich erscheinen. Wir, die wir so sehr gewöhnt sind an Sicherheit, haben das Gefühl, die Kontrolle über unser Leben zu verlieren. Dieses unverdiente Glück von großer Sicherheit macht es uns jetzt gerade besonders schwer. Denn anders als Millionen Menschen in der Welt sind wir glücklicherweise schon so lange weder Krieg noch Hunger oder großen Naturkatastrophen ausgesetzt gewesen. Jetzt aber wissen wir wieder, dass es keine Sicherheit gibt – und dass es sie auch vor Corona noch nie gab. Aber das haben wir immer sehr erfolgreich verdrängt.

Welche Bewältigungsstrategien hat denn nun unsere Seele zur Verfügung? Was hilft?

Glücklich sind die, die sich in die Arbeit stürzen, sich mit anderen Dingen beschäftigen, den Gedankenfluss umlenken und damit ihre Sorgen nicht ständig im Bewusstsein haben. Ablenken kann man sich auch mit Lesen, guten Filmen und gemeinsamen Spielen. Wann haben wir das eigentlich das letzte Mal gemacht? Damit ist unsere Seele eine Weile beschäftigt und verliert sich nicht in ständig wiederkehrenden Gedankenschleifen.

Im Augenblick leben? So wie der Zenmönch, der am Abhang hängend, über sich einen Tiger, die Erdbeere genießt, die vor ihm wächst?

Der Situation auch etwas Positives abgewinnen? Ja, die Entschleunigung tut uns sicher gut, aber eben nicht unter diesen Umständen.

Hilfreich ist es, sich mit anderen Menschen auszutauschen, beieinander zu bleiben oder wieder zueinander zu kommen, wenn auch nur virtuell oder am Telefon. Menschliche Nähe, Verständnis, ein paar nette Worte, miteinander lachen, auch wenn einem das Lachen beinahe im Halse stecken bleibt. Die Angst ist das Band, was uns alle verbindet – Reiche und Arme, Neonazis und Flüchtlinge.

Auch in diesen Tagen dankbar zu sein, für die kleinen Dinge, dankbar dafür, dass die Supermarktregale eben doch nachgefüllt werden, dass wir in Deutschland eines der besten Medizinsysteme haben, vielleicht auch dankbar für die erzwungene Pause, Zeit zu haben zum Innehalten in unserem sonst so hektischen Alltag. Dankbar für Menschen, die sich engagieren und an ihrem Ar­beitsplatz für uns die „Stellung halten“. Dankbar, dass sich der Frühling so unbeirrt Bahn bricht. Dankbar für das liebevolle Päckchen, das eine Freundin meiner Tochter heute vor die Haustür gelegt hat.

Schließlich bleiben nur Glaube, Hoffnung und Liebe. Glaube und Vertrauen, sich fallenlassen in das eigene Schicksal, welches so völlig außerhalb unserer Kontrolle liegt, akzeptieren und hinnehmen, Ängste zulassen – auch Traurigkeit.

Hoffnung haben darauf, dass diese Krise irgendwann vorbei ist, dass es Medikamente und einen Impfstoff geben wird. Hoffnung bewahren darauf, dass wir irgendwann unser gutes altes Leben zurückhaben werden, auch wenn es nicht mehr das alte sein wird.

Und Liebe, die von uns fordert, Rücksicht zu nehmen, solidarisch zu sein, Abstand zu halten. Achtsam mit sich und dem Nächsten umzugehen, freundlich und respektvoll zu bleiben. Es sind diese alten Werte. Glaube, Hoffnung und Liebe. Die Liebe ist bekanntermaßen die größte von allen.“

aus: WESTFALEN-BLATT vom 21.3. 2020 

danke für diesen text, der mir aus dem herzen spricht - und auch dank, dass sie ihn als leserbrief an ihre zeitung gesandt haben, denn nun haben wir alle etwas davon.

bleib(t) gesund!