"
Posts mit dem Label tomi ungerer werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label tomi ungerer werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

zum tod von tomi ungerer: es muss geheimnisse geben ...


tomi ungerer - S!|graphic

ZUM TOD VON TOMI UNGERER :

Der Mann mit Herz, der Mann mit Schmerz



VON ANDREAS PLATTHAUS | F.A.Z.


Mehr als fünfzig Jahre lang hat er die schönsten Kinderbücher gezeichnet, die sich denken lassen. Seine Plakate gegen Vietnamkrieg und Rassenhass zählen zum Drastischsten und Besten der modernen Graphik. Zum Tod von Tomi Ungerer.

Das letzte Mal traf ich ihn in Frankfurt, zwei oder drei Jahre wird es her sein. Tomi Ungerer saß im Foyer seines Hotels, und wir redeten über das, was die letzten Monate ihm gebracht hatten. Nach den schweren Krankheiten, die er in seinem achten Lebensjahrzehnt überlebt hatte, war jeder Monat ein gewonnener, und Ungerer nutzte seine Zeit in einem Maße, wie es einem Mann seines Alters nur möglich war: für die in Irland lebende Familie, aber auch für seine Heimatstadt Straßburg, wo es seit 2007 das Tomi-Ungerer-Museum gibt, für den benachbarten Schwarzwald, eine große Liebe seiner letzten Jahre, für Reisen nach Paris und endlich auch wieder nach New York, aus dem er in den siebziger Jahren vor der Bigotterie der Amerikaner geflohen war, für zahllose Ausstellungen, natürlich weiterhin für seine Kunst, die keinen Stillstand duldete – große Collagebilder waren seine letzte Entdeckung –, und für Gespräche. Deshalb war auch jede Begegnung mit ihm von einer seltenen Intensität.


Wer sich die gewagten Sozialkommentare der sechziger bis achtziger Jahre ansieht, von dem bis heute maßstabsetzenden und gerade bei seinem Stammverlag Diogenes wiederaufgelegten Cartoonband „The Party“ zur Dekadenz in der amerikanischen Gesellschaft bis zu der illustrierten Herbertstraßen-Reportage „Schutzengel der Hölle“ über Prostitution in Hamburg, der konnte in diesem Zeichner, der die eigenen Abgründe ebenso furchtlos ausleuchtete wie die anderer, nur einen selbstbewussten Mann vermuten. Aber Ungerers Selbst-Bewusstsein war das Wissen um eine eigene tiefe Verletzbarkeit, die ihre Wurzel in den traumatischen Kindheitserlebnissen hatte.

Der Vater war 1935 gestorben, als Tomi noch keine vier Jahre alt war, und in der Zeit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg wurde der Familie ihre französische Sprache verboten – sowie nach Kriegsende dann durch die Franzosen nicht nur die deutsche, sondern auch die eigentliche Sprache der Heimat, das Elsässische. Ungerer hat darüber später immer nur in größter Bitternis gesprochen; er nannte die jeweiligen Sprachverbote „Kulturverbrechen“, und sein lebenslanges Bemühen um die Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland rührte aus dieser Erfahrung.

Typische Ambivalenz: „Warum bin ich nicht du?“ – Abbildung aus dem gleichnamigen Band, in dem Tomi Ungerer „Antworten auf philosophische Fragen von Kindern“ gab. : Bild: Diogenes Verlag, Zürich 2016


Aber Erfolg fand er erst in einem ganz anderen Land, den Vereinigten Staaten, wohin er 1956 als Vierundzwanzigjähriger auswanderte. Vor allem mit Werbeillustrationen und Kinderbüchern reüssiert er dort, während seine Bemühungen, im wichtigsten aller Foren für Cartoons, der Zeitschrift „The New Yorker“, publiziert zu werden, scheiterten. Mit „The Party“ von 1966 verscherzte er sich dann die Sympathien in seinem Gastland, und die erotische Phantasie-Suite „Fornicon“ sorgte 1969 dafür, dass er als Kinderbuchautor und -zeichner in Amerika unmöglich wurde. Für fünf Jahre siedelte er mit seiner Familie ins kanadische Nova Scotia um, ehe er 1976 in Irland seine neue Heimat fand – wie auch ein europäisches Publikum, vor allem seit dem „Großen Liederbuch“ von 1975, in dem Ungerer die romantische Illustrationstradition aufgenommen und in sein chamäleonisches Stilrepertoire überführt hatte.

 „Die Hölle 
ist das Paradies 
des Teufels“

Trotz dieses unglaublichen Ausdrucksreichtums erkennt man ein Buch, eine Zeichnung von Tomi Ungerer sofort: am Geistreichtum. Mit den „Drei Räubern“, „Emil“, den Abenteuern der Schweinefamilie Mellops, „Papa Schnapp“, „Kein Kuss für Mutter“, „Flix“ oder noch 2012 „Der Nebelmann“ hat er mehr als fünfzig Jahre lang die schönsten Kinderbücher gezeichnet, die sich denken lassen. Sein politisches Engagement brachte Plakate gegen den Vietnamkrieg oder den Rassenhass hervor, die zum Drastischsten und Besten der modernen Graphik zählen. Und die 1983 veröffentlichten Memoiren „Heute hier, morgen fort“ sowie die Aphorismensammlungen der letzten Lebensjahre sind auf ihren Feldern große literarische Leistungen. Im Titel eines der Aphorismenbände, „Die Hölle ist das Paradies des Teufels“, steckt die ganze ambivalente, aber stets anderen zugewandte Lebensphilosophie von Tomi Ungerer, der in der Nacht auf diesen Samstag im Alter von 87 Jahren gestorben ist, im Haus seiner Tochter im irischen Cork.

aus der F.A.Z.


ich weiß gar nicht recht, was mich gehindert hat, mich zu seinen lebzeiten näher mit tomi ungerer zu beschäftigen. immer wenn ich mal eine arbeit von ihm zu gesicht bekam, war ich hellauf begeistert, aber ich bin dem eigentlich nie weiter nachgegangen - und unsere "begegnungen" waren meist rein zufälliger natur. 

aber so ist das ja mit der prominenz oft, erst wenn sie gestorben ist, weiß man sie so richtig zu schätzen.

so lange tomi ungerer zeichnete und malte und unter uns war - und ab und zu mal bei arte oder 3sat auftauchte - habe ich mir jeweils vorgenommen, mich eines tages mal näher mit ihm auseinanderzusetzen: immerhin nannte man ihn ja den "picasso der karikatur" ... - obwohl es die bezeichnung "karikatur" ja meines erachtens auch nicht richtig abbildet: es sind eher comics und cartoons, die es in sich haben und oft philosophischer natur sind - und viele seiner werke sind ja nach aufgeschnappten oder von ihm ersonnen aphorismen entstanden.

ich muss bei guten "unpolitischen"  - jedoch frechen, bösen, ironischen und erotischen cartoons mit viel nachhaltigkeit immer nachschauen, sind die nun von art spiegelman aus new york oder von tomi ungerer - von aussage und anlage ähneln sie sich für mich. 

tomi ungerer ist im elsass geboren worden - in strasbourg.  das elsass gehörte in den letzten jahrhunderten im wechsel mal zu frankreich, mal zu deutschland, so dass ungerer reklamierte: 
  • "das wort vaterland ist mir total unheimlich. (...) für ein vaterland muss man schon ein patriot sein. aber ich kann nicht patriot sein für die franzosen und die deutschen".
und diese haltung kann ich gut nachvollziehen: meine vorfahren kamen ebenfalls aus dem elsass oder aus lothringen, und sie gingen dann im 17./18. jahrhundert nach ungarn - und mein opa galt lange als "staatenlos" und mein vater wurde erst in den 30er jahren eingebürgert "nach preußen" - ja welcher nation "sohn" bin ich nun mit diesem migrationshintergrund ???

also ungerer und auch ich - wir fühlen weniger nationalistisch sondern wir sind wohl eher echte europäer - echte "vaterlandslose gesellen" - und ungerer engagierte sich immer in diesem sinne bei veranstaltungen, aufrufen und demos - für hergelaufene und für die richtige seite ...

und er konnte lachen - über sich und über andere - und oft war es ein tiefgründiger humor ...

irgendwo stand jetzt ein bonmot von ihm: " bei meiner beerdigung will ich dabei sein - nämlich mit stirnrunzeln im sarg" ... - 

und in einem interview mit der "zeit" vor 12 jahren führte ungerer zum tod folgendes aus: 
ZEIT: Als Sie jünger waren, haben Sie den Tod einmal als Quelle einer großen Kraft bezeichnet. Sehen Sie das im Alter noch genauso? 
Ungerer: Unbedingt. Für mich ist der Tod eine Inspiration. Ich war in meinem Leben schon dreimal tot, es war wunderbar. Dieses Licht, dieser Friede, diese Serenität – das haben wir hier auf Erden nicht. Ich habe fast eine Sehnsucht nach dem Tod. 
ZEIT: Der Tod sei immer gotisch, heißt es in einem Ihrer Bücher: »Er ist bestimmt nicht art déco.«  
Ungerer: Immer diese Sprüche, das ist bei mir fast eine Krankheit. Aber mit dem Tod habe ich wirklich keine Probleme, und mir ist egal, was danach geschieht. Weshalb sollten wir daran einen Gedanken verschwenden? Es gibt Dinge, die einfach nicht zu erklären sind. Eine Raupe verschwindet in einem mit Mayonnaise gefüllten Kokon und kommt als Schmetterling wieder heraus: Wieso soll ich das erklären? Das will ich gar nicht, sonst gäbe es bald keine Poesie mehr. Es muss Geheimnisse geben.