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rollenspiele

Jonas Burgert: SPIEL

DAS SPIEL DER WELT 

DER »FALL RELOTIUS« HAT OFFENBART, DASS SICH HINTER DEN SPANNENDSTEN REPORTAGEN ERFUNDENE GESCHICHTEN VERBERGEN KÖNNEN. ES STELLT SICH DIE FRAGE: IST »WAHRHEIT« NICHT IMMER SCHON INSZENIERT? 


Im Dezember 2018 wurde bekannt, dass ein Redakteur des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel«, der mehrfach prämierte Claas Relotius, viele, wenn nicht alle seiner Reportagen mit fantasierten Szenen, Personen und Zitaten angereichert hatte. Er wolle das Wirkliche gleichsam noch realer, noch aufregender wirken lassen. 

Der Fall Relotius offenbart, wie sehr das, »was ist« und wie es präsentiert wird, divergieren können. Aber es ist noch komplizierter. Wenn man wie der kanadisch-amerikanische Soziologe Erving Goffman (1922–1982) davon ausgeht, dass Öffentlichkeit ein Ort ist, »wo Wirklichkeit dargestellt« und idealisiert wird: Können dann »wirkliche« Fakten (als solche) überhaupt öffentlich gemacht werden? Und wenn ja, von wem? Von einem um Objektivität bemühten Nachrichten-Experten, wäre man versucht zu sagen. 

Einem, dem es um die Sache geht, nicht um die Befriedigung seiner und anderer Eitelkeiten. Wie aber die Sache transportieren, ohne sie darzustellen, das heißt, irgendwie zu inszenieren? Sofern wir am sozialen Leben teilnehmen, fand Goffman schon Ende der 1950er-Jahre, sind wir immer schon Performer. Nach Goffman leben wir alle ein Doppelleben: 

Wir existieren nicht bloß, sondern spielen auch große Teile unserer Existenz – mit anderen und für sie. 

Um unseren Status zu verteidigen, operieren wir mit situativ flexiblen Rollen, variieren je nach gesellschaftlicher Erfordernis Effekte, Worte, Gesten, Posen und Masken. 

»Ungeschminkt« ist eine Fiktion, von der wir vergessen haben, dass sie eine ist. Ob Redakteur, Autofahrer, Kassierer oder Privatier: Wir alle sind mehr oder weniger geschickte »Schauspieler« und »Hochstapler« auf der Bühne der Welt. Wir alle sind nur so gut oder schlecht wie das Rollenspiel, in dem wir brillieren, in dem wir aber auch versagen können. Weil wir schlecht spielen – oder falsch. Was folgt daraus? 
  • Erstens, Relotius trifft nur die Schuld, beim Reporter-Spielen betrogen zu haben und diesen Betrug unzureichend getarnt zu haben. 
  • Zweitens: Auf der gesellschaftlichen Bühne gibt es keine »nur« wirklichen Tatsachen. Diese sind immer auch sprachlich-gestisch überformte, da in alltäglichen Interaktionen zweckgerichtet zum Einsatz gebrachte Geschichten  – Storys, die das Ansehen unserer jeweiligen Rolle festigen und erhöhen sollen. 
  • Drittens: Auch wir selbst sind nicht wirklich »wirklich«; sind wir doch Mensch und Maske (von griechisch prosopon = Gesicht, Maske) zugleich. 
»Der Mensch«, schrieb ein anderer berühmter Soziologe und Philosoph, Helmuth Plessner (1892–1985), »verallgemeinert und objektiviert sich durch eine Maske, hinter der er bis zu einem gewissen Grade unsichtbar wird, ohne doch völlig als Person zu verschwinden.« 

Was, wenn man uns allen die Maskierung entrisse? Wir wären plötzlich unfähig uns (frei nach Plessner) zu »irrealisieren« – und hinter der Maske unser »wahres Gesicht« zu schützen. Die erzwungene Realität führte zum totalen Gesichtsverlust. Zum kollektiven Selbstverlust. Es gäbe keine Schauspieler und kein Theater mehr, keine Drehbücher... keine Geschichte. Das Spiel wäre aus. Wir alle wären Relotiusse auf dem Trümmerhaufen des Storytelling. 

[Rebekka Reinhard]

aus: HOHE LUFT 3/2019 - S. 9 - Miniaturen

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sinedi|photography: bühne des lebens


ich mach für mich manchmal eine kleine übung: 

ich sitze vielleicht vor einem kleinen eiscafé und beobachte die passanten, die davor auf dem trottoir vorübereilen: und dann stelle ich mir vor, es wäre mitten in einer theateraufführung - und alle vorbeieilenden menschen wären schauspieler in einer bestimmten rolle - mit einem bestimmten auftrag nach irgendeinem imaginären drehbuch vielleicht. und das sieht man gleich: jede*r nimmt seine/ihre rolle verdammt wichtig - und jede*r ist überzeugt von irgendeiner message, die zu überbringen ist.

mir fällt dazu dann das logion 42 aus dem sogenannten "thomas-'evangelium'" ein - es ist das kürzeste logion der gesamten sammlung dort von aussprüchen jesu, die alle außerhalb eines dazukomponierten kontextes "schwimmen" bzw. als pure "spruchweisheiten" in der luft hängen - also ganz anders als in den vier kanonischen evangelien der bibel -

jesus sagt in logion 42: 
"werdet vorübergehende!" ...



und wenn man dazu "meditiert" beim eis-schlecken und espresso-trinken und beim betrachten der hastenden mitmenschen auf dem boulevard, dann verdeutlichen sich auch die schlauen sätze von goffman und plessner dazu: wir alle spielen nach unserer geburt unsere rolle, je nach alter und werdegang und dem in uns "ruhenden" drehbuch, das da von anbeginn an eingepflanzt ist - und uns wie ein navi den weg weist - den weg in und durch unsere rollen und arrangements und engagements in unserem leben - durch tag und nacht: immer weiter ...

und wenn der letzte vorhang fällt, wissen wir nicht genau, ob das nur der vorübergehende vorhang eines aktes im noch viel größeren stück ist ...

da kribbelt es um uns herum ebenso an allen ecken und enden und funkelt und trippelt: 
und ich bin ich - 
und du bist du - 
und du lebst in deinen rollen 
wie ich in meinen rollen lebe

und manchmal begegnen wir uns 
und gehen vielleicht ein stück gemeinsam - 
und manchmal singen wir vielleicht auch im duett 
und tanzen mit- und umeinander

und manchmal trennen wir uns wieder
oder wir begegnen uns nie -
und gehen aneinander vorbei -
und jeder geht seine eigenen wege ... 

(frei nach dem gestalt-guru fritz perls)

und der weg dorthin - ist der weg hindurch: 
werdet vorübergehende!

New York Times: Liverpool Soccer Fans - vielleicht beim spiel in münchen gegen bayern ...


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