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wir sind so frei ...

Die Kunst war noch nie frei – wir aber waren nie freier

Auch die Kunstszene braucht ihre Skandälchen – und sei es jenes, dass die Freiheit der Kunst in Gefahr sei. Von Philipp Meier | NZZ

Alles schreit immer und überall, die Freiheit der Kunst sei in Gefahr. Und die Debatte wird am Laufen gehalten mit den immergleichen paar Beispielen. Zuerst: Balthus. Dabei hat die Fondation Beyeler in ihrer schönen Übersichtsschau vom letzten Jahr die umstrittene Leihgabe aus dem Metropolitan Museum – ja, jenes Bild eines halbwüchsigen Mädchens mit geschürztem Rock – eben gerade nicht aus dem Programm genommen, sondern trotz allem gezeigt. «Trotz allem», das heisst hier, um uns zu erinnern, trotz der Petition, die in New York an das Metropolitan ging, weil 12 000 Unterzeichnende ihre Bedenken äußerten, das Werk könnte pädophile Neigungen bedienen.


 Balthasar Kłossowski de Rola, genannt Balthus, ein polnisch-deutsch-französischer Maler: «Thérèse rêvant»
 (Bild: André Held / akg-images)

Die neue Zensur von unten

Herhalten muss auch Eugen Gomringers Gedicht «avenidas» an der Fassade einer Berliner Hochschule, das auf Begehren der Schülerschaft als nicht mehr zeitgemäss eingestuft und übermalt wurde. Auch diese Inschrift wird immer wieder dafür als Beispiel angeführt, wie sehr heute die Freiheit der Kunst unter Beschuss geraten sei. Dann gibt es noch eine Handvoll weiterer Fälle. Etwa der Fall Sam Durant, an dessen Installation «Scaffold» sich Indianer störten, weil sie den Völkermord der Indigenen Amerikas thematisiert. Oder das Skandälchen um die temporäre Entfernung eines Nymphenbildes vom Präraffaeliten John William Waterhouse aus den Räumen der Manchester Art Gallery.

„Hylas and the Nymphs“ (1896) von John William Waterhouse, abgehängt, um eine Debatte über die politisch unkorrekte Kunst des Viktorianischen Zeitalters zu provozieren. Die Aufregung über diesen Bildersturm in Manchester war groß und die Reaktionen überwiegend negativ, und so hängt das anstößige Gemälde wieder an seinem angestammten Platz.

Diese Fälle werden als Zensur dargestellt. Und zwar als eine solche von unten. Nur, was ist dabei so ungewöhnlich? Anders ist allein die Richtung, aus der hier Zensur erfolgt. Früher kam sie von oben, jetzt kommt sie von unten. Dabei bleibt eigentlich alles beim Alten: Kunst war noch nie frei. Vielmehr ist sie seit je begehrter Zankapfel jener, in deren Dienst sie treten soll.

Vor nicht allzu langer Zeit erhitzte noch Brancusis Bronzekopf der «Princess X» (1916) als obszönes Phallussymbol die Gemüter und wurde 1920 aus einer Pariser Ausstellung entfernt. Damals stand die Kunst eben noch im Dienst eines von Doppelmoral geprägten Bürgertums. Zeitweilig waren es die Nazis und die Kommunisten, die sich die Kunst als effektives Propagandamittel dienlich machten. Wer nicht mitmachte oder nicht ins Bild passte, wurde verfemt und verfolgt. Auf solche Weise kontrollieren diktatorische Staaten auch heute die Kunstproduktion.

Tiermalereien in der Höhle von Lascaux - Foto: Patrick Aventurier | getty images | NZZ

Aber eigentlich war das nie wirklich anders. Kunst hatte die Macht von Fürsten und Kirchenvätern zu repräsentieren. Hochkulturen wie das alte Ägypten nahmen sie in Dienst des göttlichen Pharaonentums. Und nicht einmal bei den Höhlenbewohnern von Lascaux war sie frei. Die Tiermalereien an den Wänden jedenfalls entsprangen gewiss nicht irgendeinem ausgelassenen Selbstverwirklichungs-Workshop, sondern galten dem schamanistischen Jagdzauber.

Was wir für die Freiheit der Kunst halten, ist ein junges Phänomen. Mit Kunstfreiheit meinen wir vor allem die Freiheit einer antibürgerlichen Kunst. Diese Kunst war indes keineswegs freier als jene anderer Epochen. Sie stand ganz einfach im Dienst einer neu etablierten kulturellen Macht, nämlich jener der Linken.

Wessen Brot ich ess, dessen Lied ich sing – das gilt eben auch für die Kunst. So hat heute bald jede Stimme, die sich Gehör zu verschaffen vermag, auch ihre Kunst. Die Feministinnen haben sie, die Homosexuellen und die ­Schwarzen ebenfalls. Was wäre die Kunst ohne Louise Bourgeois oder Valie Export, ohne Robert Mapplethorpe oder Keith Haring, ohne Kara Walker oder Chris Ofili?

Und so echauffiert sich heute kein scheinheiliger Bourgeois mehr an Jeff Koons’ Kopulationsbildern mit Cicciolina; Thomas Ruffs Porno-Close-ups sind längst salonfähig. Denn die 68er haben uns die sexuelle Revolution gebracht und mit ihr sozusagen den porno­grafischen Kunst-Freipass. Auch vermochte Thomas Hirschhorns unappetitliche Attacke auf Blocher vor 15 Jahren kaum grosse Wellen zu schlagen, denn solche Schläge gegen die Konservativen gehören schliesslich zur Kunstfreiheit der Linken.

Alles geht

Heute ist die Kunst nun aber eben nicht mehr allein Sprachrohr der Linken. Auch ist sie nicht länger abendländisch dominiert, sondern mittlerweile so bunt geworden wie eine Benetton-Werbung. Kaum ist etwa der Hype um chinesische Gegenwartskunst verflogen, meldet sich bereits der nächste aus Indien oder Indonesien. Die angebliche Kunst­freiheit von heute besteht in ihrem schieren Pluralismus. Die Kunstproduktion der Gegenwart ist ein Abbild unserer Multikultigesellschaften: Anything goes. Könnte man meinen.

Vielstimmiger Kunstkonsum

Dabei hat sie sich längst den Mächtigen und Reichen angebiedert, ja angedient. Die Exzesse auf dem Kunstmarkt jedenfalls machen deutlich, wer der neue Herr ist. Was produziert wird, muss vermarktet werden, und was sich vermarkten lässt, gilt als gute Kunst. Und das kann für den globalisiert-vielstimmigen Chor der Kunstkonsumenten so ziemlich alles sein. Noch nie war Kunst so vielfältig wie heute. Noch nie auch hatte sie ein solch breites Publikum. Museen und Kunstinstitutionen schiessen weltweit wie Pilze aus dem Boden. Es herrscht der freie Markt des Kulturbetriebs, die Massen strömen in die Musentempel, und Kunstwerke zirkulieren millionenfach im Internet.

So ist es nicht weiter verwunderlich, dass in dieser Vielstimmigkeit nicht mehr so klar ist, in wessen Dienst – abgesehen von den Geldgebern – die Kunst eigentlich noch steht. Oder vielmehr stehen sollte. So viele künstlerische Ausdrucksformen es gibt, so viele Stimmen gibt es auch, die die Kunst gerne für sich reklamieren und Anspruch auf sie zu haben glauben.

Und so gibt es heute eben auch immer mehr von denjenigen, die sich stören an all jenen Kunstwerken, die nicht ihre Sache vertreten. Schwarze stören sich an Kunst, die nicht von ihnen selbst beglaubigt ist. Feministinnen stören sich an Kunst von Männern. Einschlägig Traumatisierte sehen plötzlich überall vermeintliche «Pädophilenkunst». Die Liste liesse sich beliebig verlängern. Dass Kunst aber einigen Gruppierungen nicht passt, ist nichts Neues. Neu ist höchstens die diffus anmutende Diversität von Zensurwilligen. Diese ist aber symptomatisch für das digitale Zeitalter. Und sie ist symptomatisch für noch etwas: die Freiheit selber. Denn diese sogenannte Zensur kommt von unten.

Ist nun aber solche Zensur von unten irgendwie schlechter als solche von oben? Sie ist vielleicht unberechenbarer, weil man nicht genau weiss, mit wem man es zu tun hat. Ist es aber nicht vielmehr die Freiheit, die Zensur von unten überhaupt ermöglicht?

Freiheit der Vermarktung

Wenn sich irgendwelche Leute über irgendwelche Kunst aufregen, dann geschieht das, weil sie den Freiraum dazu haben, und sei er auch vor allem jener des Internets. Das Individuum welcher Couleur auch immer meldet sich zu Wort und tut sein Missfallen kund. Denn frei sind jene, die sich zu Wort melden können. Und im Dienst dieser Freiheit stehen denn auch all die unterschiedlichsten Ausdrucksformen der Kunst von heute.

Wenn nun nämlich Ausstellungsmacher und Festivalbetreiber – das kommt vor – im Zeichen des Zuspruchs den Empfindlichkeiten irgendwelcher Gruppierungen nachgeben und sogenannte Zensur üben, dann geschieht dies aufgrund der Freiheit eines sich optimal vermarktenden Kulturkapitalismus.

Wirkliche Zensur aber, das ist dann doch noch etwas anderes. Sie kommt nämlich von oben.

Neue Zürcher Zeitung, Nr. 60, Mittwoch 13.März 2019, Feuilleton S. 35




"wat den eenen sin uhl, is den annern sin nachtijall" - und hinzufügen kann man bei einigen bildern oder anderen kunstwerken, die irgendeiner zensur verdächtig sind: "nachtijall - ick hör dir trapsen" - also: "jeder sieht die sache aus seiner perspektive!" - und "vorsicht - mir schwant schon was" ... - und neudeutsch würde man wahrscheinlich formulieren: es kommt auf das momentum an - in welchem trend bewegt sich das werk ...

und das hat nun mal öffentlich gezeigte kunst so an sich: da ist zunächst der/die künstler*in, der/die sich "verwirklichen" - sich "ausdrücken" will - oder eine "auftragsarbeit" konzipiert und auf die leinwand bringt - also 
  • künstler*in und 
  • motiv - und dann ist da der/die 
  • betrachter*in: 
in dieser wahrnehmungstriade entwickeln sich nun dynamisch hin und her springende ebenen und beziehungen und blickwinkel, die zufriedenmachen oder entspannen und zum meditieren anhalten oder eben aufschrecken, die eigene moral angreifen, oder den zeitgeist positiv oder negativ berühren...

aber dieser "zeitgeist", ist nur eine flüchtige schimäre: die sich je nach partner*in, geldbeutel oder politik oder geschmack oder bischof oder herrscher oder politklasse oder regime jeweils wie ein chamäleon verändern kann - und die farbe jeweils ganz opportunistisch wechselt und sich anpasst - oder eben nicht - und abgehängt oder gar verbrannt wird ...

man denke nur an die geschichte des bauhauses, das als "avantgarde" zunächst gefeiert wurde und mit dem man auch international anerkennung bekam - und dann bei den nazis teilweise als "kulturbolschewismus" in "entartete kunst" abgleitete ...  - und die geschichte der bauhaus-architektur von jüdischen bauhaus-architekten z.b. im exil heute in der "weißen stadt" ausgerechnet im israelischen tel aviv.

das sind  regelrechte metamorphosen in der kunstentwicklung und -bewertung des immer gleichen gegenstandes ... - die menschen verändern sich und ihre wahrnehmung und ihre betrachtungsweise.

von daher wird es immer wieder skandale und skandälchen um kunstwerke geben. und wenn mr. banksy sein werk mit einer im bilderrahmen eingebauten automatik als "kunst" zu unbrauchbaren fetzen schreddern will - um so auch den fadenscheinigen kunstmarkt "vorzuführen" - bleibt doch tatsächlich die zerstörung wegen eines defekts in der mitte stecken - und der übriggebliebene werk-torso gewinnt in genau diesem akt im nun ein vielfaches an marktwert hinzu - und wird so, in streifen zerschnitten bis zur hälfte, zur zeit im burda-museum ausgestellt - mit großem publikumserfolg...

das ist vielleicht alles ziemlich verrückt - aber im sport (200 millionen für ronaldo) und in der kunst (450 millionen für ein fragliches und reichlich überpinselt restauriertes bild aus der schüler-werkstatt von leonardo da vinci: das "salvator mundi") kann man nicht mit "nornalen" kriterien urteilen: das sind - für mich wenigstens - spiele, die sich die menschheit einfach gönnt: denn wir waren noch nie freier wie jetzt im moment ...


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