Frieden, Musik und viel Chaos
Der Mythos rund um die Blumenkinder-Großveranstaltung ist bis heute lebendig
Von Klaus Gosmann
Zwei Festivalbesucher sitzen auf dem Dach ihres bunt bemalten VW-Bullis.
Um zwei Ereignisse aus dem Sommer 1969 ranken sich jede Menge Mythen: die ersten Menschen auf dem Mond und das Woodstock-Festival. Während die Echtheit der »Apollo 11«-TV-Bilder von manchem Verschwörungsfreak angezweifelt wird, dürfte das bei dem Rock-Event schwerer fallen, denn schätzungsweise eine halbe Million Zuschauer standen oder stehen noch als Zeitzeugen zur Verfügung.
Wobei: Diese Zahl kann – je nach Quelle – auch niedriger oder höher ausfallen. Wie sich überhaupt viele Behauptungen, Daten und vermeintliche Fakten rund um das Festival im US-Bundesstaat New York widersprechen, das bis heute als das legendärste und ikonischste seiner Art gilt.
Selbst die Reihenfolge der aufgetretenen Künstler lässt sich nicht 100-prozentig rekonstruieren. Und das liegt nicht nur an den seinerzeit dort konsumierten Drogen, sondern auch daran, dass Erinnerungen sich im Laufe eines halben Jahrhunderts verändern können und manche der Beteiligten dazu neigen, hier und da ihre eigene Rolle positiv zu überhöhen.
Und überhaupt: Waren es wirklich die im Vorfeld auf den Plakaten beworbenen »3 days of peace & music« (drei Tage voller Frieden und Musik)?
Fakt ist, das aus den ursprünglich geplanten drei Veranstaltungstagen, 15. bis 17. August, am Ende vier wurden, denn der heimliche Headliner Jimi Hendrix spielte erst am Montagmorgen gegen 9 Uhr vor vergleichsweise mageren 40.000 ausharrenden Zuschauern (die Schätzungen differieren auch hier), die dafür aber mit einer anarchischen Version der US-Nationalhymne »Star-spangled banner« entschädigt wurden.
Erstaunlich war, dass die Veranstaltung für eine Menschenansammlung dieser Größenordnung erstaunlich friedfertig verlief – und das trotz der chaotischen Verhältnisse, denn die Veranstalter gelangten, ob des viel höher als erwarteten Besucherandrangs an den Rand – oder weit darüber hinaus – ihrer organisatorischen und logistischen Fähigkeiten. Von den Wetterkapriolen, zu denen am Sonntagnachmittag auch ein stattliches Unwetter gehörte, ganz zu schweigen.
Nicht einmal vier Wochen standen den Veranstaltern als Vorbereitungs- und Aufbauzeit direkt auf dem Festivalgelände in der zu Bethel gehörenden Ortschaft White Lake (rund 70 Kilometer Luftlinie südwestlich von der namensgebenden Kleinstadt Woodstock und etwa 130 km nordwestlich von New York City gelegen) zur Verfügung.
Foto: avs - owl am sonntag |
Aber die Organisatoren waren froh, schließlich überhaupt noch ein Festivalgelände gefunden zu haben, weil mehrere zuvor avisierte potenzielle Festivalorte sich letztendlich als unsichere Kandidaten erwiesen: Denn ein Hippiefestival auf dem Land lief automatisch Gefahr, von wahlweise der eher konservativen Landbevölkerung, der Politik oder den Stadtverwaltungen auf die juristische Abseitsbank geschickt zu werden – auch wenn die Organisatoren mit Engelszungen auf die Bedenkenträger einredeten. Wobei die hinter der Veranstalterfirma Woodstock Ventures stehenden Protagonisten aus zwei Fraktionen bestand: Den jungen, ehrgeizigen, mit den Hippie-Idealen vertrauten Machern Michael Lang und Artie Kornfield auf der einen Seite und den ebenfalls jungen, aber nicht ganz so »love & peace«-beschwingten Risikokapitalanlegern John Roberts und Joel Rosenman.
Artie Kornfeld hatte sich bereits als stellvertretender Direktor der A&R-Abteilung bei Capitol Records, Musiker, Songwriter und Produzent einen Namen gemacht, wohingegen der ebenfalls aus dem New Yorker Stadtteil Brooklyn stammende Michael Lang zuvor in Miami Konzerte und ein Festival organisiert hatte. Als Mittzwanziger verlegte Michael Lang dann seinen Wohnsitz nach Woodstock: ein kleiner, verträumter Künstlerort in den idyllischen Catskill Mountains im US-Bundesstaat New York, in dem auch prominente Musiker wie Bob Dylan lebten. An die künstlerische Tradition des Ortes sollte das Festival anknüpfen, deshalb sollte neben der Musik auch der Kunst und dem Kunsthandwerk ein Forum bereitet werden: daher der Name »Woodstock Music and Art Fair«.
Zunächst war unter anderem Woodstocks Nachbarort Saugerties als Festival-Location im Gespräch, später wurde die Kleinstadt Wallkill auserkoren, knappe vier Wochen vor Festivalbeginn musste auch dieser Plan verworfen werden.
So kam White Lake ins Spiel, wo Lang & Co. schließlich mit dem Milchfarmer Max Yasgur handelseinig wurden. Dessen Gelände erwies sich als ideal, da es mit seinen sanft ansteigenden Hängen einer Schüssel ähnelte – also besonders vielen Besuchern eine gute Sicht ermöglichte. Zumal sich unten im Tal sogar eine kleine Erhebung befand, ideal geeignet für eine Bühne.
Yasgur dürfte zwar auch seine Vorurteile gegenüber der Horde langhaariger Zottel gehabt haben, war aber bereit, eines Besseren belehrt zu werden – und er stand loyal zu seinen Vertragspartnern.
Als am Freitag, 15. August, das Festival beginnen sollte, fehlte es wegen des Zeitdrucks an vielem: auch an bereits aufgebauten Ticketbuden und einer dem Besucheransturm stand haltenden Zaunabgrenzung. Und der Rückstau der anreisenden Fans auf den angrenzenden Straßen war bereits gewaltig. Notgedrungen erklärten die Organisatoren Woodstock alsbald zum »free concert« – zum unfreiwilligen Vorgänger aller »Umsonst & draußen«-Events.
Streng genommen entstand dadurch auf dem Festival, das durch sein egalitäres Flair in die Geschichte einging, eine Zwei-Klassen-Gesellschaft: Während sich tausende Besucher die Tickets bereits im Vorverkauf gesichert und bezahlt hatten (7 Dollar pro Tag, 18 Dollar für drei Tage), kamen die nicht so Planungswilligen in den Genuss des freien Eintritts.
Nach der Eröffnung am Freitagabend durch Richie Havens, der spontan eine »Freedom«-Hymne improvisierte, folgten dreieinhalb Festivaltage mit vielen denkwürdigen Auftritten: Die vorher nicht allzu bekannte Latinrockgruppe »Santana« brannte ein Percussion- und Gitarrenfeuerwerk ab, bei »Sly & the Family Stone« verschmolzen Funk- und Rockmusik, »Crosby, Stills, Nash & Young« absolvierten ihren zweiten Auftritt überhaupt in dieser Besetzung, »The Who« trumpften mit einer adrenalisierten Hardrock-Show auf, deren britischer Landsmann Joe Cocker verpasste der »Beatles«-Ballade »With a little help from my friends« seine ganz eigene »Urschrei«-Note, und Gitarrenzauberer Jimi Hendrix gab den perfekten Rausschmeißer.
Es blieb der Mythos vom zwar chaotischen, aber überraschend friedlich verlaufenen Festival, der noch umso heller strahlte, als im selben Jahr im Dezember der Auftritt der »Rolling Stones« und anderer Bands beim Altamont-Festival vor geschätzt 300.000 Zuschauern in einer Orgie der Gewalt endete.
Und es blieben zunächst jede Menge Schulden zurück, so dass die Woodstock-Ventures-Teilhaber sich kurz nach dem Festival trennten – Kornfeld und Lang gingen und ließen sich ausbezahlen. Doch als dann Michael Wadleighs Dokumentarfilm über das Festival sowie ein Triple- gefolgt von einem Doppel-Album mit Live-Mitschnitten veröffentlicht wurden, stieg auch die kommerzielle Verwertbarkeit des Woodstock-Mythos’. »Peace, love & merchandising« – ein Dreiklang, der bis heute die Kassen klingeln lässt.
Wussten Sie schon...
- ..., dass selbst das emblematische Friedenstaube-auf-Gitarrenhals-Symbol vom Improvisationsgeist des Festivals geprägt gewesen sein dürfte: Der Grafiker Arnold Skolnick soll einfach eine von ihm zuvor bereits zu Papier gebrachte Katzendrossel kurzerhand zur Taube umfunktioniert haben.
- ..., dass sich mindestens drei Bücher mit OWL-Bezug am Woodstock-Mythos abarbeiten: »Woodstock – three days of love and peace«, von Julien Bitoun, erschienen im Bielefelder Delius Klasing Verlag; »Woodstock – Wunder oder Waterloo?« (bereits 2009 im Hannibal Verlag erschienen), vom gebürtigen Paderborner Musikjournalisten Jörg Gülden, der 2009 verstarb; »Miller Anderson – Woodstock, 1000 Clubs & Royal Albert Hall« aus der Feder des Güterslohers Uli Twelker (bestellbar unter ulitwelker@gmail.com) – eine Biografie über den schottischen Rockmusiker Miller Anderson, der mit der »Keef Hartley Band« beim Woodstock-Festival gespielt hat.
- ..., dass es zum 50-jährigen Woodstock-Jubiläum in diesem Sommer in Deutschland mehrere Woodstock-Ausstellungen mit Fotografien des offiziellen Woodstock-Fotografen Elliott Landy gibt – zum Beispiel noch bis zum 2. September im Zeitspeicher im niedersächsischen Papenburg (und zeitgleich in Emmen/Niederlande), Karlsruhe (Beginn: 8. August) und Nürnberg (Beginn: 16. August). Weitere Infos zu »Elliott Landy’s Woodstock Vision«-Ausstellung unter https://woodstock-exhibition.com/
- ..., dass Arte am 16. August den Woodstock-Dokumentarfilm von Michael Wadleigh zeigt, im Ersten bereits am 31. Juli der Dokumentarfilm »Woodstock – Drei Tage, die eine Generation prägten« von Barak Goodman zu sehen ist, und 3sat am 17. August die Dokumentation »50 Jahre Woodstock – eine neue Musiker-Generation« in Erstausstrahlung zeigt.
- ..., dass Original-Veranstalter Michael Lang zusammen mit weiteren Mitstreitern ein »Woodstock 50«-Festival (16. bis 18. August) angekündigt hat, dessen Planung ähnlich chaotisch verläuft wie damals: Ausgang ungewiss.
OWL am Sonntag Bielefeld, Sonntag, 07.Juli 1969, S.10
___________________________________________
ja - woodstock - das ist auch schon wieder 50 jahre her - und doch ist es ein ereignis, das noch gut erinnert wird. hier in der bürgerlich-verschlafenen provinz traute man seinen augen und ohren nicht, was man da zu sehen und zu hören bekam:
da liefen doch glattweg paare nackt mit den kindern am arm über matschige wiesen - suchten sich ein plätzchen - und liebten sich spontan - also machten liebe... - und danach kifften sie ihr pfeifchen oder drehten sich ihren joint und spielten mit den kindern... - und von der bühne her brüllte kreischte joe cocker begleitet von seinen unverwechselbaren verrenkungen bei den ominösen "trocken-gitarren-griffen" seinen unerhörten unvergesslichen schrei in "with a little help from my friends"...
jan freitag in der "zeit" schrieb dazu 2014: - er sang ein stück der beatles nach, ach was, er riss dieses "with a little help from my friends" förmlich aus seinem herzen und schenkte es den aufgekratzten blumenkindern wie einen liebesbeweis.
"do you need anybody?i need somebody to love!"und das seid ihr! und das bin ich!
dies ist einer der entfesselten, leidenschaftlichsten, brillantesten live-auftritte im poparchiv, und er brennt sich mitten ins kollektive gedächtnis einer dreiviertelgeneration. als die dann älter wird und mit ihr der staksige zausel mit der verschrobenen optik, vererbt sie es an die nachgeborenen. auch als die längst techno, grunge, rap und britpop hört, weht der schrei sonderbar beharrlich durch den hallraum des kollektiven gedächtnisses wie wagners walkürenritt oder presleys tremolo. er lässt einfach nicht los, niemals, so tief wie er aus dem magen kommt. 1969 auf einer weltgroßen bühne in der nordostamerikanischen provinz. ... -
("der schrei" bei ca. 4.58 - 5.04)
ja - genauso war das - und ist das immer noch: auch nach gelebten 50 jahren höre ich diesen "joe-cocker-woodstock-schrei" - und er geht mir immer noch durch und durch - und ich bekomme auch jetzt schon wieder gänsehaut pur. der menschliche schrei überhaupt in und für die ewigkeit. und auch wenn joe cocker physisch schon ein paar jahre jetzt tot ist, so bleibt dieser schrei: durch alle winde, durch das all, zwischen berg & tal, zwischen allen sternen und kometen - über die ozeane...
das war der schrei einer generation, die sich befreien wollte und
musste und die sich auch - das darf man nicht verdrängen - befreit hat - gegen all den muff der 1000 jahre zuvor unter den talaren - das war der schrei gegen die eltern, gegen die großeltern, und der schrei gegen die lehrer - und gegen das establishment.
sinedi in den 70 er jahren |
danke woodstock - danke joe cocker - dank an die zeit vor 50 jahren: der schrei ist noch in unseren ohren und in unserem geist - aber er ist doch schon ziemlich verhallt - für viele nachgeborenen.
neulich berichtete ich einer schulklasse vom ns-euthanasie-leidensprotokoll meiner tante erna kronshage: und eine schülerin fragte mich, wann und warum ich dazu geforscht
hätte - und ich erwähnte in meiner antwort als einen der anstoßgebenden auslöser "die 68er"... - aber da stellte
sich heraus, dass diese schüler*innen durch die bank (ca. 16-17 jahre alt) nichs
mit diesem begriff anzufangen wussten - auch auf die stichworte: "rudi dutschke" oder die "raf" gab es keine reaktionen - und wahrscheinlich haben sie auch noch nie den schrei - oder wenigstens seinen nachhall oder sein echo - von einem gewissen joe cocker gehört ...: tempus fugit - zeit vergeht...
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen