"

ein leben lang selbst schwanger - ob mann oder frau

Paarberater über negative Selbstbilder

So verscheuchen Sie die Gespenster Ihrer Kindheit

In unseren ersten Jahren entscheidet sich, wie wir die Welt wahrnehmen. Hier erklärt der Paarberater Michael Mary, warum negative Erfahrungen unser Leben belasten - und was dagegen hilft. 

Von Marianne Wellershoff  | SPIEGEL+


Foto: Alex Linch | GettyImage




SPIEGEL: Herr Mary, wann meldet sich das Innere Kind bei Ihnen?

Mary: Wenn ich mich ärgere, weil ich keinen Parkplatz finde oder meine Freundin keine Zeit hat. Da flammen in einem Moment der Konfusion Gefühle auf und verlöschen dann wieder.

SPIEGEL: Hat jeder Mensch ein Inneres Kind?

Mary: Ja. Das Innere Kind ist ein Begriff, ein Bild für die ganz individuelle, in der frühen Kindheit geprägte Art und Weise, wie man die Welt wahrnimmt und interpretiert. Diese Deutung zeigt sich dann als Emotion und als Körpergefühl.

SPIEGEL: Können Sie das bitte an einem Beispiel erklären?

Mary: Die Ehefrau sieht, wie der Partner eine andere Frau in den Arm nimmt, und hat plötzlich so ein komisches Gefühl im Bauch. Weil sie die Situation deutet: Der will etwas von ihr, sie will etwas von ihm, vielleicht ist er unzufrieden mit unserer Beziehung, vielleicht bin ich ihm langweilig. Und dann entsteht ein Gefühl der Angst. Dabei hat die Umarmung vielleicht einen ganz anderen Grund, der Mann gratuliert möglicherweise einer guten Freundin einfach nur zum Geburtstag.

SPIEGEL: Sie haben gerade ein Buch veröffentlicht mit dem Titel "Frieden schließen mit dem Kind in uns". Sind wir denn zerstritten mit unserem Inneren Kind?

Mary: Es gibt fröhliche Kinder, und es gibt traurige Kinder. Und die traurigen, zornigen, ängstlichen, unglücklichen sind es, die sich bemerkbar machen. Wenn man mit sich selbst nicht mehr klarkommt, wenn es Probleme bei der Arbeit oder in der Partnerschaft gibt, dann ist es Zeit, sich mit den Mechanismen zu befassen, die hier wirken.

SPIEGEL: Was sind das für Mechanismen?

Mary: Unser Verhalten wird von unseren tiefen inneren Überzeugungen, unseren individuellen Wahrheiten gesteuert. Halte ich es für wahr, dass ich mich im Leben anstrengen muss? Dass ich mich unbedingt durchsetzen muss? Dass ich immer den Kürzeren ziehe? Wenn ja, dann muss ich entsprechend reagieren. Diese scheinbaren Wahrheiten sind aber lediglich Kindheitserfahrungen, die ins Erwachsenenleben hinein wirken.

SPIEGEL: Muss man sich dafür präzise an Ereignisse aus der eigenen Kindheit zurückerinnern?

Mary: Nein, es geht nicht darum, in der Erinnerung nach konkreten Situationen zu graben. Sondern darum, die damals erworbenen Überzeugungen aufzudecken, die einen zu einem bestimmten Verhalten treiben. Und diese Überzeugungen sind ja heute noch da.

SPIEGEL: Das klingt nach Tiefenpsychologie. Wie lernt man denn das Innere Kind besser kennen?

Mary: Indem man die Frage stellt: Was ist meine Überzeugung, aus der heraus das, was ich tue, einen Sinn ergibt? Ein Beispiel: Vor Kurzem habe ich einen 74 Jahre alten Herrn getroffen, der gerade 300.000 Euro geerbt hatte. Er hat mir gesagt, er wolle seinen Teilzeitjob weitermachen, mit dem er bis dahin seine Rente aufgebessert hatte. "Ich will doch nicht am Hungertuch nagen", war seine Begründung. Was für ein absurdes Verhalten! Er wird in seinem Alter doch eher Schwierigkeiten haben, die 300.000 Euro überhaupt auszugeben. Verständlich wird seine Aussage erst, wenn man weiß, dass sich durch sein ganzes Leben ein Gefühl der Unsicherheit gezogen hat.

SPIEGEL: Kommen wir mit einem Inneren Kind zur Welt?

Mary: Diese psychischen Strukturen, diese Deutungen entwickeln sich im Wesentlichen in den ersten Lebensjahren, und sie helfen dem Kind dabei, seine Welt zu ordnen und sich in ihr zurechtzufinden. Dabei spielen verschiedene Einflüsse eine Rolle wie konkrete Erlebnisse, Reaktionsmuster der Eltern, es gibt aber auch körperliche Faktoren. Kinder von alkoholabhängigen Müttern haben beispielsweise oft eine höhere Angstbereitschaft. Ich bin auch davon überzeugt, dass es eine Rolle spielen kann, wie die Geburt verlaufen ist. Eine sehr schwere Geburt kann dazu führen, dass ein Mensch sich fremd fühlt in dieser Welt.

SPIEGEL: Wirklich? Alle Menschen haben eine infantile Amnesie, sie können sich daher gar nicht an ihre Geburt erinnern.

Mary: Richtig, es gibt keine bewusste Erinnerung daran. Aber eine körperliche, und diese findet sich dann in den Grundüberzeugungen des Menschen wieder. Entscheidend ist also: Sind es positive oder negative Erfahrungen? Je nachdem resultieren daraus helle oder dunkle Innere Kinder.

SPIEGEL: Helle oder dunkle? Was meinen Sie damit?

Mary: Ein helles Kind fühlt sich geliebt und geborgen. Es traut sich viel zu, und es weiß, es wird auch dann geliebt, wenn es Fehler macht. Das dunkle Kind muss um die Liebe kämpfen, es muss sich Anerkennung über Leistung holen oder über Anpassung. Und wenn es hier versagt, wird es isoliert, geschnitten, nicht geliebt. Das macht das Kind traurig, wütend, verzweifelt. Das helle Kind wird von seinen Eltern unterstützt, und diese geben ihm Raum. Das dunkle Kind muss die Erwartungen der Eltern erfüllen, es soll sich nach deren Vorstellungen entwickeln.

SPIEGEL: Und wie stellt man fest, ob man ein helles oder dunkles Kind in sich trägt?

Mary: Ganz einfach: Das helle Kind macht keine Probleme, es ist mit sich und der Welt im Einklang. Das dunkle Kind ist am Werk, wenn es im Leben nicht gut läuft, wenn man belastet ist, wenn man Dinge tut, zu denen man sich gezwungen fühlt. Warum muss ich mit 74 Jahren und großem Erbe noch einen Tag pro Woche arbeiten? Warum muss ich unbedingt die Karriereleiter immer weiter nach oben klettern, obwohl ich eigentlich total erschöpft bin?

SPIEGEL: Das dunkle Kind kann den Erwachsenen bis zum Burn-out treiben?

Mary: Ja, hinter einem Burn-out steht oft die Überzeugung, immer noch mehr leisten zu müssen, um etwas wert zu sein. Meist geht man mit sich selbst genau so um, wie die Eltern es früher getan haben. Wenn die Eltern gesagt haben, "jetzt stell dich nicht so an", dann wird man auch hart mit sich selbst sein und vermutlich auch mit dem Partner oder der Partnerin. Das führt irgendwann dazu, dass die anderen diesem Menschen aus dem Weg gehen, dass er verlassen wird.

SPIEGEL: Und wie kommt man aus dieser Falle heraus? Wie heilt man das Innere Kind?

Mary: Das Innere Kind ist ja nicht krank, daher kann es auch nicht geheilt werden. Es agiert auf Basis seiner Erfahrungen sinnvoll, weil Selbstkritik, Leistungsanspruch, Bockigkeit oder Panik in der Kindheit zur automatisierten Reaktion geworden sind. Man muss die Haltung zu sich selbst verändern. Stellen Sie sich die Schlüsselfrage: Warum glaube ich, mich so verhalten zu müssen? Welche Überzeugung erzwingt dieses Verhalten? So dringt man zu den scheinbaren, zu den inneren Wahrheiten vor.

SPIEGEL: Das klingt sehr einfach und rational: Ich reflektiere über mich, erkenne mein Problem und ändere mein Verhalten. So simpel funktioniert das doch nicht.

Mary: Im Prinzip schon. Das Innere Kind ist eine Konstruktion. Man gibt dem Problem eine Identität, man kann es beschreiben: Mein Inneres Kind hat Angst, von anderen abgelehnt zu werden. Deshalb passt es sich übermäßig an. Und dann versucht man, in Kontakt mit diesem Kind zu kommen, eine emotionale Beziehung zu entwickeln. Und schließlich verhält man sich gegenüber diesem Kind wie gute Eltern, die dieses Kind lieben. Man sagt ihm: Ich liebe dich genau so, wie du bist. Du musst keine Erwartungen erfüllen. Mir ist es wichtig, dass es dir gut geht.

SPIEGEL: Möglicherweise geht das am besten, wenn man tatsächlich eine gute Mutter oder ein guter Vater ist?

Mary: Ich habe schon oft Klienten, die mit sich sehr hart sind, die Frage gestellt: Würden Sie zu Ihrer fünfjährigen Tochter sagen, sie soll jetzt mal die Zähne zusammenbeißen? Da bekomme ich jedes Mal die empörte Antwort, dass sie das nie tun würden und dass sie diesen Erziehungsstil ablehnten. Ich antworte dann, dass sie bitte auch mit sich selbst umgehen sollen wie mit ihren Kindern.

SPIEGEL: Und was passiert dann?

Mary: Manchmal nehmen die Klienten in der Therapie eine Puppe auf den Schoß, die das Innere Kind symbolisiert. Ich fordere sie auf, einen Satz zu suchen, der sie emotional berührt. Diesen sollen sie dann zu der Puppe sagen, also beispielsweise: "Du darfst auch schwach sein." Da kommen dann oft die Tränen, weil die alten, destruktiven Wahrheiten infrage gestellt werden. In diesem sehr emotionalen Moment erkennen die Klienten, dass sie ganz andere Wahrnehmungs- und Lebensmöglichkeiten haben. Sie treten sich selbst liebevoll gegenüber, so wie sie mit einem realen Kind, das sie sehr lieben, umgehen.








Michael Mary: Frieden schließen mit dem Kind in 
uns: Wie wir uns von Einflüssen der Vergangenheit befreien
Piper Verlag, München; 224 Seiten; 16 Euro



SPIEGEL: Das Bonmot stimmt also: Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit.

Mary: Schön formuliert, aber die Kindheit bleibt, wie sie war. Die Deutungen, die man auf Basis des Erlebten entwickelt hat, die kann man verändern. Diese Deutungen können ja übrigens auch ganz falsch sein. Nehmen wir mal an, jemand hat seinen Vater nie kennengelernt, und die Mutter hat dem Kind immer gesagt: "Der wollte dich nicht und ist abgehauen." Dann fühlt sich dieser Mensch sein Leben lang als Halbwaise und ist überzeugt, er sei auch nur halb geliebt worden. Als er 50 ist, trifft er seinen alten Vater, und der sagt: "Ich habe dich jahrelang gesucht, aber deine Mutter hat den Kontakt verhindert."

SPIEGEL: Das ist die Chance zur Umdeutung?

Mary: Genau. Jemand ist 50 Jahre lang mit einem Loch im Bauch durchs Leben gelaufen, und plötzlich steht da der Vater und zeigt Emotionen: Ich habe dich vermisst. Daraus ergibt sich von selbst eine Umdeutung in Richtung: Ich bin doch liebenswert.

SPIEGEL: Braucht man für so einen Prozess der Neuinterpretation einen Psychotherapeuten?

Mary: Das kommt auf die Fähigkeit an, Kontakt zu sich selbst aufzunehmen und seine Gefühle mit Abstand zu betrachten. Wenn jemandem diese Fähigkeit fehlt oder wenn jemand in einer schweren Lebenskrise ist, kann er oder sie nicht die Frage beantworten, was diese Gefühle ausgelöst hat, warum das Innere Kind so unglaublich wütend oder traurig ist. Da braucht man jemanden, der die Distanz und damit den Blick von außen hat.

SPIEGEL: Alle anderen könnten selbst in den Dialog treten? Besteht da nicht die Gefahr, dass das Innere Kind Antworten gibt, die eine Krise erst auslösen?

Mary: Sie wollen andeuten, der Dialog mit dem Inneren Kind könnte gefährlich sein, wenn kein Therapeut danebensitzt? Das klingt wie eine Argumentation von Psychotherapeuten, die eine Kassenzulassung besitzen und Kompetenz und Zuständigkeit für alles behaupten. Ich sage: Nein, bei normalen Lebensproblemen sollen sie sich raushalten, die haben sie im Zweifelsfall selbst und nehmen dafür auch keine Unterstützung in Anspruch. An denen kann jeder selbst arbeiten. Das Gespräch mit dem Inneren Kind ist eine Methode der Selbstregulation, mit der die meisten Menschen sehr gut allein zurechtkommen.


  • Zum Umgang mit dem Inneren Kind bietet der Paarberater Michael Mary auch Videokurse an. Anhand von praktischen Beispielen erläutert er, wie man in den Dialog mit sich selbst und den in der Kindheit gelernten Überzeugungen tritt. 
_____________________________

ich habe hier im blog aber auch auf der website schon oft beiträge zu den themen: "familiengeheimnisse" und "transgenerationales erbe" weitergegeben, eben weil ich glaube, dass das zu einer gesunden und reifen aufarbeitung unserer vergangenheit auch über generationen hinweg vonnöten sein kann.

das hier im beitrag beschriebene system vom umgang mit dem eigenen "inneren kind" ist dazu eine ergänzung, denn das kleinkind wächst ja mit seinen sensiblen antennen auf, für etwas, was vielleicht in der familie "nicht stimmt" - und warum opa immer so "mürrisch" ist - oder auch ganz vernarrt in seinen enkel und ihn mit geschenken überschüttet.

der erste adressat für solche mängelerlebnisse oder solch ein "overprotection" sind die kinder selbst - und oft fragt man sich erst später als erwachsener, welche "botschaften" uns damals direkt oder indirekt "mitgeteilt" wurden. oder auch wenn immer gesagt wird: "dein vater hatte es als kind auch ganz schwer" - oder: "unser oma schleppt da noch einiges mit von zuhause"...

dann sollten wir hellhörig werden und anfangen zu forschen und zu graben in der eigenen familienarchäologie. und die ersten anhaltspunke sind dann oft die eigenen "macken" oder "blinden flecke", denen man auf den grund gehen kann, indem man sein eigenes "inneres kind" in sich aufsucht - und die licht- und schattenseiten davon betrachtet und erarbeitet, indem man in sich hineinhört und in den inneren "dialog" tritt.

übrigens halte ich die durchaus in der psychologie (z.b. c.g.jung) verwendeten begriffe von "licht & schatten" für weniger semantisch belastet als das "helle" und "dunkle" kind in einem, was dann schnell assoziationen zu hautfarben auslösen kann.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen