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sich die Seele aus dem Leib schreiben: Maya Lasker-Wallfisch & die "Transgenerationale Trauma-Weitergabe"

Maya & Anita Lasker-Wallfisch - fotobearbeitung nach jmberlin.de





Maya Lasker-Wallfisch über ihre „Briefe nach Breslau“

Ein „Ort der Ewigkeit“ für die ermordeten Großeltern

Maya Lasker-Wallfisch im Gespräch mit Frank Meyer| DLF Kultur

Wie Traumata über Generationen hinweg weitergegeben werden, wurde zu Maya Lasker-Wallfischs Lebensthema − ihre Mutter hatte Auschwitz überlebt. Durch die „Briefe nach Breslau“ an ihre Großeltern habe sie sich selbst gefunden, sagt sie.

Maya Lasker-Wallfisch: Als ich 14 war, war für mich bereits jede Form von normaler Schulbildung vorbei, das gehörte der Vergangenheit an. Ich war bereits schon zwei Mal höflich gebeten worden, Schulen zu verlassen. Eine von den Schulen habe ich noch nicht mal besucht, da stand da nur „Wir haben Maya Lasker-Wallfisch hier nicht gesehen“. Was dann folgte, war, dass ich zu so einer Art Nachholschule geschickt wurde, wo man dann eigentlich den Stoff, den man aufgrund von Schwänzen oder sonstiger Fehlzeiten verpasst hat, gebündelt lernen sollte.

Eigentlich habe ich da sehr viel gelernt, aber nichts wirklich Akademisches. Das heißt also, ich war schon in sehr jungen Jahren sehr weit weg von jeglicher Form der Normalität, habe dann angefangen, so eine Art sogenannten alternativen Lebensstil zu leben und entpuppte mich dann relativ früh schon als eine Art Anführerin bei allen möglichen illegalen oder halblegalen Aktivitäten. Also man kann schon sagen, dass ich schon damals ein böses Mädchen war.

Weg von den Drogen

Frank Meyer: Ja, Sie beschreiben das auch ganz offen, was Sie Kriminelles getan haben, wie viel Sie mit Drogen zu tun hatten und diese Karriere, wenn man es so nennen will, als bad girl. Das führt dann zu einem Tiefpunkt Ihres Lebens, da sind Sie Anfang 30, sind in Kingston gelandet, also in Jamaika, verheiratet mit einem cracksüchtigen Mann. Sie selbst sind auch wieder drogenabhängig geworden, haben kein Geld mehr, sind wirklich ganz, ganz unten. Was hat Sie gerettet damals in dieser Situation?

Lasker-Wallfisch: Das ist eine wichtige Frage, aber da gibt es vielleicht auch mehrere Antworten, denn was heißt es denn, dass man gerettet wird, dass man sein Leben wieder auf die Reihe bekommt? Da gibt es ja auch viele verschiedene Möglichkeiten, wie so was ablaufen kann. Ich würde sagen, was ein erster Schritt war, mich da rauszuholen, war wirklich so eine Art Rehabilitationsklinik, Entzugsklinik und so weiter. Da bin ich nicht wirklich geheilt worden, aber es hat mir zumindest beigebracht, dass ich keine Drogen mehr nehmen sollte. Das habe ich da gelernt.

Seitdem ist mein Leben in verschiedenen Kapiteln abgelaufen. Eigentlich habe ich sehr viele verschiedene Lebensformen, Lebensstile in der Zeit ausprobiert, und erst in den letzten zwei bis drei Jahren bin ich wirklich in der Lage, authentisch zu sagen: Das bin ich, so denke ich und das weiß ich.

Landschaft eines unsichtbaren Todes

Meyer: Und jetzt ist ja die große Frage in Ihrem Buch, der Sie nachgehen – wie werden Traumata weitergegeben von einer Generation zur anderen. Sie fragen sich: All das, was ich da erlebt habe in meiner Zeit als Kind, als Jugendliche, als junge Erwachsene, all diese Abstürze, diese Drogengeschichten, was hat das zu tun mit dem Schicksal meiner Mutter, eben der Holocaust-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch, was hat das auch zu tun mit dem Tod Ihrer jüdischen Großeltern, die Eltern Ihrer Mutter sind 1942 in einem deutschen Durchgangslager ermordet worden? Wenn Sie von heute aus darauf zurückschauen, was Ihre Mutter erlebt hat, was Ihren Großeltern passiert ist, wie hat Sie das als Kind schon geprägt?

Lasker-Wallfisch: Ich wurde in eine ungewöhnliche Familie innerhalb Londons geboren in den späten 50er-Jahren, und ich hatte schon ganz früh das Gefühl, dass irgendetwas grundlegend falsch läuft. Ich konnte mir aber nicht erklären, was das war. Es herrschte so eine Atmosphäre von etwas permanent Unausgesprochenem in der Familie vor. Meine Eltern sprachen eine Sprache, die ich nicht verstand, und es wurde uns, mir und meinem Bruder, auch vermittelt, dass diese Sprache, Deutsch, nicht für ihn und mich bestimmt war. Dabei ist es doch so, dass Kinder eigentlich Sprachen aufsaugen wie Schwämme, und jetzt merke ich, wie schwierig es für mich ist, Deutsch zu lernen, weil das einfach so weit weg war, auch schon damals.

Die Eltern sprachen also Deutsch – und die Sprache der Musik, von der ich ebenfalls ausgeschlossen war, weil ich kein musikalisches Kind war. Ganz anders als in allen anderen Familien ist es bei uns abgelaufen, das fiel mir früh auf. Also wir hatten nichts in der Wohnung, was andere Familien damals hatten. Und das ist für ein Kind durchaus verstörend, weil Kinder ja immer sein wollen wie alle anderen. Unsere Wohnung war komplett anders als die der normalen englischen Haushalte.

Und das war sehr schwer, im jungen Alter damit klarzukommen. Und natürlich wurde mir nicht erklärt, noch war es irgendjemandem bewusst, dass meine Schwierigkeiten vielleicht mit ererbten Traumata zu tun haben könnten. Das ist ja auch ein relativ neu entdecktes psychologisches Phänomen oder auch überhaupt genetisches Phänomen, dass es so etwas gibt. Was ich aber gespürt habe, war das Leben in einer Landschaft eines unsichtbaren Todes.

Niemand sprach über die Vergangenheit

Meyer: Ja, wenn Sie sagen, dass Sie in so einer Landschaft des unsichtbaren Todes aufgewachsen sind, hat denn Ihre Mutter oder sonst jemand je mit Ihnen gesprochen, während Sie jung waren, über die Erfahrungen, die Ihre Mutter gemacht hat in Auschwitz oder in Bergen-Belsen, oder haben Sie auf andere Weise davon erfahren?

Lasker-Wallfisch: Nein, darüber wurde nie etwas gesagt. Es wurde uns nicht gesagt, wo unsere Mutter oder unsere Tante Renate gewesen waren während des Krieges oder was mit dem Rest der Familie passiert war, das war verboten, darüber wurde nicht gesprochen. Aber es gab Zeichen dafür, dass etwas passiert war. Meine Mutter war ja regelrecht gebrandmarkt durch die Tätowierung, die eintätowierte Nummer, die Häftlingsnummer. Ich wurde zum Beispiel von anderen Kindern gefragt, warum denn meine Mutter ihre Telefonnummer auf dem Arm tragen würde.

Also sie war die Einzige, die so etwas hatte in meinem gesamten Umfeld. Das Einzige, woran ich mich erinnere, was sie gesagt hat, wenn wir Fragen gestellt haben, war: Ich erzähle dir das, wenn du älter bist. Also sie hat wirklich versucht, uns zu schützen. Sie wollte ihre Kinder nicht traumatisieren mit diesem Wissen, sie wollte uns nicht sagen, ihr habt deshalb keine Großeltern, weil sie irgendwo in einem Massengrab in Polen liegen. Meine Mutter hat versucht, ihr Leben aufzuteilen in eine Vergangenheit und Gegenwart. Sie wollte die Vergangenheit komplett hinter sich lassen. Das geht natürlich nicht, aber es war ein Versuch, das war ihre Motivation. Und da ist auch viel Bewundernswertes dabei. Aber es hat eben auch Folgen gehabt.

Briefe an die verstorbenen Großeltern

Meyer: Und jetzt haben Sie für Ihr Buch eine ganz besondere Form gefunden, Ihre eigene Geschichte und die Ihrer Familie wieder anzueignen. Also Sie erzählen Ihre eigene Lebensgeschichte, darüber haben wir zum Teil gesprochen, und Sie haben elf Briefe geschrieben an Ihre Großeltern, also an die Großeltern, die 1942 von Deutschen ermordet wurden. Diese Briefe an die Großeltern – warum war das für Sie die richtige Form, die Geschichte Ihrer Familie zu erzählen?

Lasker-Wallfisch: Es so zu machen, war die einzig mögliche Art. Goethe hat mal gesagt, Briefe gehören zu den wichtigsten Dingen, die Leute hinterlassen können, und er hat Recht damit. Denn meine Großeltern kenne ich wirklich nur durch diese Briefe, und so habe ich einen Zugang zu ihnen gefunden, den ich sonst nie gehabt hätte, dazu, wer sie waren, was sie für Persönlichkeiten, was für Menschen Sie waren. Und das war für mich auch eine Art Erleuchtung.

Als ich das Buch schrieb, da war ich gerade in Deutschland und habe gemerkt, dass ich im Kopf Gespräche mit meinen verstorbenen Großeltern geführt habe, und da war es für mich klar, da war die Idee da, diese Briefe an sie zu schreiben. Und dadurch konnte ich auch in gewisser Weise die Beziehung, die ich zu ihnen ja nie hatte, die mir ja gestohlen worden war, wieder herstellen oder zurückerhalten. Das war insofern ein Privileg, mit ihnen zu sprechen.

Und wir haben uns dann ja auch in der Familie getroffen und die Briefe der verstorbenen Familienmitglieder wurden von anderen Familienmitgliedern gelesen – so sind die Laskers aus Breslau wieder zusammengekommen und waren alle wieder vereint. Ich wollte eben diese drei Generationen wieder zusammenbringen, wollte meinen Großeltern auch einen Ort der Ewigkeit geben, der Erinnerung, dessen sie zuvor beraubt worden waren. Und mein Ziel hat sich erfüllt damit, diese drei Generationen wieder zusammenzubringen.

Eintauchen in ein wundervolles Leben

Meyer: Ich dachte auch beim Lesen, dass Sie … Sie erzählen ja auch die Geschichte vor der Zeit der Verfolgung, wie Ihre Großeltern gelebt haben in den 20er-, 30er-Jahren, wie Ihre Mutter, Ihre Tanten gelebt haben als junge Menschen. Also Sie beschwören diese Welt wieder herauf, die Welt ist wieder da auf bewegende Weise. Das muss für Sie auch wichtig gewesen sein, diese Welt, ja, auf diese Weise zu retten, oder?

Lasker-Wallfisch: Ja, ich hoffe, das war es. Ich glaube, beim Schreiben, denn es ist ja ganz anders, Briefe zu schreiben, als eine lineare Geschichte zu erzählen, beim Schreiben hatte ich das Gefühl oder den Wunsch, in ihr Leben einzutauchen, in so ein wundervolles Leben. Wir haben ja auch wirklich tolle Fotos aus dieser Zeit, aus diesem Leben. Und ich wollte eine Möglichkeit finden, damit in Verbindung zu treten.

Was mich antrieb und diese Erkenntnis, diese Eingebung – das Wort benutze ich nicht so leichtfertig –, ich wusste wirklich plötzlich, ich muss das schreiben, ich muss das erzählen, ich muss das ihnen erzählen. Ja, sie sind tot, das ist klar, das soll jetzt auch nicht merkwürdig klingen, aber für mich sind sie eben nicht tot, und es war meine Absicht, diese Einzelteile zusammenzufügen. Alles war ja so weit auseinandergesprengt. Und ich wollte hier wieder eine Verbindung herstellen.

Und ich fühle irgendwie, dass sie das wissen, dass sie das verstehen. Und in diese Zeit, in diese Welt einzutauchen brachte mich dahin zurück und setzte mich viel mehr mit ihnen in Verbindung als dieses, ja, beklemmende Verlustgefühl, was ich zuvor empfunden hatte. Erst jetzt konnte ich etwas betrauern, mit dem ich vollkommen in Verbindung getreten war, so wie das eben menschlich möglich war.

Ich habe mich selbst gefunden

Meyer: Und Ihr Buch, das hat so viele verschiedene Ebenen, also einerseits retten Sie Ihre Familie in einem gewissen Sinne, indem Sie von ihr erzählen, aber ich hatte auch den Eindruck, dass Sie auch sich selbst – ich weiß nicht, ob ich das so sagen kann –, sich selbst retten auch vor diesen Jahren, über die wir am Anfang gesprochen haben, diesen sehr chaotischen, sehr gefährlichen, schmerzhaften ersten Jahren oder sogar Jahrzehnten Ihres Lebens, dass für Sie, dieses Buch zu schreiben, ja, auch eine Rettung Ihres eigenen Lebens war. Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann?

Lasker-Wallfisch: Ja, fast, ich würde das Wort „finden“ allerdings benutzen anstelle des Wortes „retten“. Also ich habe mich gefunden und nicht gerettet dadurch, durch das Schreiben. Ich habe mich davor schon viele Male gerettet, aber durch das Buch bin ich nicht gerettet, sondern gefunden worden. Ich habe mich dadurch selbst gefunden.

Meyer: Ihre Mutter Anita Lasker-Wallfisch, die ist jetzt sehr alt geworden und sie hat Ihr Buch gelesen. Sie haben öfter auch erzählt, dass Ihre Mutter schon sehr, sehr streng war Ihnen gegenüber in vielen Situationen Ihres Lebens. Was hat Ihre Mutter denn zu diesem Buch jetzt gesagt?

Lasker-Wallfisch: Das ist ein Prozess. Als das Manuskript fertig war, musste ich es ihr erst zeigen und sie wollte es gar nicht lesen. Dann hat sie es aber doch gelesen und hat gesagt, dass sie es sehr gut fand. Natürlich haben einige Teile des Buches, wo Teile meiner Geschichte erzählt werden, die so schwierig sind, sie auch sehr unangenehm berührt, weil die sind nicht nur für mich schwierig gewesen, sondern auch für sie als Mutter.

Aber als dann aus der Öffentlichkeit so eine positive Reaktion auf das Buch kam, war sie doch sehr beeindruckt, also sowohl meine Tante Renate als auch meine Mutter waren beide aufgrund eben dieser Reaktionen sehr stolz auf mich. Erst hatten sie nämlich Angst gehabt, was vielleicht die Leute dazu sagen, denn ich bin ja wirklich sehr offen in diesem Buch, und da hatte man dann vielleicht das Gefühl, oh, ob das so gut ankommt, aber das ist jetzt komplett weg.

Und auch bei ihnen hat sich das Gefühl eingestellt: Es war nötig, dieses Buch zu schreiben, es war gut, das zu schreiben. Und ich erhalte jetzt auch jede Menge Respekt dafür, dass ich das getan habe. Und, ja, wie so viele Kinder ist das auch in meinem Leben so, dass ich irgendwie immer noch die Bestätigung meiner Mutter suche. Das verschwindet traurigerweise nicht.

„Berlin ist der Ort, wo ich sein soll“

Meyer: In Ihrem Buch findet man auch so gegen Ende hin eine sehr schöne, ich würde mal sagen, eine Wohnungsanzeige für Berlin, Sie schreiben nämlich, dass Sie am liebsten nach Berlin ziehen würden, eine Altbauwohnung in Berlin-Charlottenburg könnten Sie sich vorstellen. Ich sage das mal so deutlich, vielleicht hat jemand gerade so eine Wohnung übrig. Warum wollen Sie denn von London nach Berlin ziehen?

Lasker-Wallfisch: Ja, ich möchte wirklich nach Berlin ziehen, denn das ist der Ort, wo ich sein soll, da wäre ich gewesen, wenn es diese Vertreibung nicht gegeben hätte, wenn es die Morde nicht gegeben hätte. Aber ich finde, dass Sie es sehr schön formuliert haben mit der Wohnungsanzeige, denn es war wirklich so: Ich hatte eigentlich wirklich schon eine Wohnung gefunden, dann leider nicht bekommen, weil es ja sehr schwierig ist, in Berlin eine Wohnung zu finden, und ich hätte in der Tat sehr gerne eine schöne Wohnung in Berlin-Charlottenburg – also sollte das jetzt jemand hören: Ja.

Also es hat ja wirklich 75 Jahre gedauert, bis einige Prozesse begonnen haben, Prozesse, die noch nicht vollständig sind, die wahrscheinlich nie vollständig sein werden und immer weitergehen. Es gibt ja immer noch Rassismus und Antisemitismus. Aber ich weiß auch, was mein Beitrag ist und wo er nicht nur willkommen ist, sondern auch wirklich gebraucht wird, nämlich in Deutschland.

Es ist nicht diesbezüglich bemerkenswert, weil ich ja wirklich da sein sollte, und ich bin ja auch nicht die Erste, die jetzt in Berlin eine Wohnung sucht, aber es gibt einige lustige Geschichten in diesem Zusammenhang, was die Wohnungssuche betrifft. Es gab ja so viel deutsche Schuld und Verstörung und Angst und Traumata und so weiter, mit denen auch die Kinder und Enkel der Täter zu leben haben, die sie mit sich rumtragen, obwohl es nicht ihre eigene Schuld ist, und auch meine Mutter hat schon immer gesagt, damit muss man sich auch mal befassen, das ist ein interessantes Thema.

Wohnungssuche in Berlin

Aber es ist interessant und es wäre auch vielleicht eine Herausforderung für Deutschland, warum man für Rückkehrer wie mich oder auch andere Leute eigentlich nichts vorgesehen hat. Also man beschäftigt sich sehr viel mit dem Thema Schuld und Erinnerung und so weiter, da fließt jede Menge Energie rein, aber wirklich etwas wieder gutzumachen oder etwas Produktives, in die Zukunft gerichtetes zu machen, wie es hier möglich wäre, das passiert nicht wirklich. Aber ich denke, man sollte solche Leute auf jeden Fall unterstützen.

Ich hatte tatsächlich eigentlich meine Traumwohnung gefunden, konnte aber da nicht reingehen und da stand ein türkischer Mann vor der Tür, der mir in gebrochenem Deutsch erklärte, dass man ja mal an den Briefkästen gucken könnte, welche Wohnungen noch nicht vermietet seien. Das haben wir dann gesehen. Und dann sind wir in den Hof gegangen, dann war da gerade ein polnischer Handwerker, dem der Türke dann erklärt hat, ja, die Frau möchte gerne eine Wohnung sehen, und da sagt er, ja, kein Problem, ich arbeite da, ich zeige Ihnen die Wohnung, und so kam es dann, dass ich mit diesem polnischen Handwerker und dem türkischen Nachbarn hoch in diese Wohnung ging und mich sofort in diese Wohnung verliebt habe.

Bin dann direkt zum Maklerbüro und habe gesagt, bitte, bitte, ich brauche diese Wohnung. Die haben mir gesagt, ich muss erst was von der Schufa vorweisen, bevor ich kommen kann. Und, ja, dann habe ich in London alle möglichen Sachen zusammengesammelt für eine Bewerbung, auch noch einen Artikel, in dem ich geschrieben habe, ich habe meinen Platz gefunden, da dachte ich, das passt doch perfekt für diese Wohnung, das habe ich dann gleich mitgeschickt in die Bewerbung, aber leider hat es nicht geklappt. Also das ist nicht leicht. Aber ich denke, es gibt da diese Lücke zwischen dem Schrecken der Vergangenheit und der Feststellung, dass doch einige dieser Energie auch für Veränderung verwendet werden könnte.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Maya Lasker-Wallfisch: „Briefe nach Breslau: meine Geschichte über drei Generationen“
Aus dem Englischen von Marieke Heimburger
Insel Verlag, Berlin 2020
254 Seiten, 24 Euro
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sich selbst zu finden in der aufarbeitung der familiären geschichte - ein aufräumen unter den noch lebenden und mit den toten: das ist das credo von maya lasker-wallfisch zur eigenen seelischen gesundung.

während also der ältere bruder die musikalischen talente der eltern miterbte, fühlte maya von kleinauf etwas unstetes in sich.

erst über mehrere "leben" beziehungsweise phasen ihres lebens fand sie dann nach vielen therapiesitzungen zur eigenanalyse zu einer psychotherapeutischen ausbildung, mit der sie sich innerlich stabilisieren und neu verorten konnte - und entdeckte das schreiben in briefen an imaginäre verwandte, denen sie nun mitteilen konnte, was ihr auf der seele brannte.

durch dieses schreiben fand sie zu sich selbst, und konnte auch die in ihr überkommenen traumata ihrer mutter endlich in den bann schlagen, die sonst ungezügelt herumgeisterten, und denen sie sich zur wehr setzen musste - zunächst mit weniger tauglichen mitteln, wie drogenkonsum und kriminalität.

aber wie sollte sich auch ihr aufgewühltes inneres "bürgerlich" einzuordnen  lernen, wenn sie die tiefliegenden gründe für diese aufwühlungen gar nicht kannte.

erst das exakte wissen um die holocaust-ermordung ihrer großeltern 1942 und die überlebensstrategie der mutter als cellistin in auschwitz im mädchenorchester und dann auch noch unter den furchtbaren zuständen in bergen-belsen, wo ja auch anne frank den tod fand, ordneten allmählich ihre innere zerrissenheit.

wenn man also "aus erster hand" erfahren will, was dieser neue psychoanalytische begriff der "transgenerationalen traumaweitergabe" aussagen will - und wie er "bis ins 3. und 4. generationsglied" (bibel) nach dem trauma weiterwirkt, findet hier sicherlich antworten und ausblicke.



der krieg und seine folgen - ein jeder trage seine last

Enkel des Kriegs

von TOBIAS RÜTHER | FAS . FEUILLETON

Es ist genau achtzig Jahre her, dass der Zweite Weltkrieg angefangen hat – und die Zeitzeugen sterben aus. Vieles spricht aber dafür, dass Erbe und Erfahrung dieses Kriegs noch die Millennials von heute prägen

Am heutigen Sonntag jährt sich der deutsche Überfall auf Polen zum achtzigsten Mal. Achtzigjährige von heute werden sich nicht daran erinnern, vielleicht aber daran, wie es war, als sechs Jahre später der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Die Zeitzeugen von Krieg und Holocaust sterben aus: Bald wird man ihre Gesichter nur noch gefilmt und fotografiert sehen, ihre Stimmen nur noch aufgezeichnet hören können. Wie erinnert man dann an das, was geschehen ist? Wenn man niemanden mehr fragen kann, der oder die dabei war? Das ist ein unermesslicher Verlust.

Andererseits gehört aber auch zur Wahrheit, dass viele derjenigen, die dabei gewesen sind und mitgemacht haben, selbst dann nicht darüber geredet haben, als sie es noch konnten. Dass Zeitzeugen schweigen und lügen, hat deutsche Vergangenheitsbewältigung geprägt. Es ist eines ihrer Leitmotive gewesen – und gehört zum Selbstverständnis der Achtundsechziger: Den eigenen Eltern abverlangt zu haben, endlich zu reden – warst du dabei, dafür, dagegen?

Doch so viel auch geredet worden ist seit 1968: Der Redebedarf ist trotzdem nicht geringer geworden. Und er hat sich, unter immer neuen Forschungsfragen, verzweigt und auf neue Felder erstreckt. Das zeigt auch ein aktueller Bestseller wie Harald Jähners „Wolfszeit“. Jähner erforscht darin, wie die Deutschen in den ersten zehn Nachkriegsjahren mit sich selbst umgegangen sind. Wie sie sich selbst zu Opfern „der Nazis“ erklärten, die vermeintlich wahren Schuldigen aber doch nicht richteten. Wie sie die Wahrheit verdrängten und sie zugleich ausschmückten, es wurde nämlich nie geschwiegen, sondern heftig fabuliert. Wie sie auf Distanz zueinander gingen, um weitermachen, aufbauen, aufsteigen zu können – das ganze Wirtschaftswunder, ein hochfunktionales, kaltes Powerhouse.

Und Jähner gelangt selbst zu einer kühlen Erkenntnis, was diese Funktionalität angeht: „Mag man auch die mangelnde Wahrheitsliebe der deutschen Nachkriegsgesellschaft verurteilen“, schreibt er, „so kommt man kaum umhin, ihr eine Verdrängungsleistung zu attestieren, von der die Nachkommen aufs äußerste profitierten.“ Das Land stand schnell wieder, beide deutschen Teile wurden zu Musterschülern ihrer Blöcke.

Wohlstand aber kittet und tröstet nicht, weswegen die Erinnerung an Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust auch als Konflikt generationeller und familiärer Beziehungen bis heute weiterlebt. Daraus erklärt sich der anhaltende Erfolg von Nico-Hofmann-Geschichtsfilmen wie „Unsere Mütter, unsere Väter“ und auch der Bücher und Veranstaltungen von Sabine Bode. Jahrelang sammelte die Kölner Journalistin die Geschichten der „Kriegskinder“ und „Kriegsenkel“: Von Deutschen, die feststellen mussten, dass sie von einem Krieg geprägt wurden, den sie gar nicht erlebt hatten oder nur als Kinder, und zwar um so heftiger geprägt, weil sie nur spürten, ohne zu verstehen. Was die Großeltern erlebten und taten, lebt in Kindern und Kindeskindern fort – und so bleibt der Krieg, der vor achtzig Jahren begann, weiter präsent. Als Rastlosigkeit, lähmendes Gefühl der Unzulänglichkeit und Fixierung aufs Gestern, als Entscheidungsschwäche, Heimatlosigkeit.

Nachkriegszeit in Hannover: Kinder lauschen einem Mann, der aus einem Gewehr eine Art Cello gebastelt hat und darauf musiziert. Quelle: Wilhelm Hauschild (Archiv) HAZ


Erst indem Bodes Kriegskinder und -enkel aber ihre Erfahrungen teilten, zeigten sich diese gemeinsamen Muster überhaupt. Sie zeigen sich nicht in jeder deutschen Familie: Es ist eher so, dass man beim Lesen merkt, ob man dazugehört. Diese Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen ist charakteristisch. Die einen fürchten sich seit ihrer Kindheit vor den schwarzweißen Porträts junger Männer in Wehrmachtsuniformen, die anderen schlagen vor, die Fotos doch stolz aufzustellen, wie die Vorsitzende der AfD-Parteistiftung, Erika Steinbach, vorgeschlagen hat.

Sabine Bode ist vorgeworfen worden, den Deutschen dazu zu verhelfen, sich am Ende doch noch als Opfer des Nationalsozialismus zu gerieren. Das verkennt, worum es ihr geht: Für die Kriegskinder und Kriegsenkel ist Vergangenheitsbewältigung nicht allein ein mehr oder weniger abstrakter Prozess von Sühne und Verantwortung, der sich an Gedenktage wie den heutigen bindet, sondern: Familienalltag.

Das Nachleben des Zweiten Weltkriegs als Konflikt zwischen den Generationen: Wenn man in diesem Licht zurückblickt, rückt uns die Vergangenheit von vor achtzig Jahren wieder nah. Der amerikanische Schriftsteller Bret Easton Ellis hat in seinem neuen Buch „Weiß“ dafür eine Formel gefunden, und die ist umso interessanter, weil Ellis sie aus amerikanischer Perspektive entwickelt, aus Sicht der Guten, der Sieger.

Ellis, geboren 1964, ein großer Künstler sentimentaler Isolation in besten Verhältnissen, hadert schon seit langem mit seinen jüngeren Zeitgenossen, die man die „Millennials“ nennt (er ist selbst mit einem liiert). Ellis nennt sie die „Generation Weichei“: Ausgestattet einerseits mit größtem Sendungsbewusstsein, andererseits hochempfindlich, was Kritik angeht, und zugleich besessen davon, dass sich alle „safe“ fühlen, so sieht er sie. Die Anerkennung, die Millennials – geboren je nach Rechnung zwischen 1981 und 1998, erwachsen geworden in der letzten Finanzkrise – ökonomisch nicht mehr erfahren, beziehen sie dafür aus der Selbstdarstellungskultur sozialer Medien, aus Selfies und Likes. Hervorgebracht wurde diese Generation aber in der Sicht von Bret Easton Ellis nicht durch das Internet, was einen als Erklärung auch nicht gewundert hätte, sondern: durch den Zweiten Weltkrieg. Durch die Generationendynamik, die er in Gang gesetzt hat, durch die weitergereichten Prägungen, wie man sie ganz ähnlich aus Sabine Bodes Modell kennt. Nur dass es hier ja um die Nation der Befreier geht.

Die amerikanischen Soldaten der „Greatest Generation“, so rechnet Ellis es sich aus, kehrten 1945 im Triumph aus Europa heim und traten einen beispiellosen Aufstieg an. Deren Kinder, die „Baby Boomer“, wuchsen im Wohlstand auf, aber auch im Umbruch der Sixties und mit dem Trauma Vietnam. Die Kinder dieser Baby Boomer wiederum – die Generation X, zu der sich auch Ellis zählt – schauten auf eine Welt, die ihnen Wohlstand, aber auch das massive Desinteresse ihrer Eltern einbrachte. Ellis beschreibt, hingerissen zwischen Melancholie und Entbehrung, die leeren Bungalows, in denen seine Schulfreunde und er im kalifornischen Suburbia spielten und Horrorfilme schauten, eine Welt ohne Eltern: „Wir genossen den Luxus, zugleich deprimiert und ironisch und cool und kreditwürdig zu sein.“

Aus diesen Schulfreunden der Generation X aber sind endlich jene Helikopter-Eltern geworden, die ihre Kinder, die Millennials, mit jener Aufmerksamkeit überschütteten, die ihre eigenen Eltern ihnen versagt hatten. In den Millennials leben also die Konflikte eines erschütterten Wohlstandsglaubens fort, der sich nie für alle einlöste, die kognitiven Dissonanzen gleich mehrerer Generationen seit Kriegsende.

Derart mit Generationenbegriffen um sich zu werfen, hat der Wahrheitsfindung noch nie gedient. Eigentlich redet Bret Easton Ellis aber, ja, von: Familien. Und das macht sein Modell dann wieder übertragbar, trotz der atlantikweiten Unterschiede der Erfahrung von gerechtem Sieg und fürchterlicher Schuld. Da sind die Urgroßväter und Großväter, die einen fürchterlichen Krieg begannen, den andere Urgroßväter und Väter dann zum Glück gewannen. Was sie erlebten, prägt Kinder, Enkel, Urenkel. Auch wenn die Zeitzeugen langsam von uns gehen, auch wenn die deutschen Millennials, ihre jüngeren Geschwister und deren Kinder damit aufwachsen, dass sie nicht mehr im Gespräch fragen können, wie es dazu kommen konnte: Die Spätfolgen dieser weltweiten Erschütterungen leben fort. Als familiäres Erbe: schwarzweiße Porträts in alten Fotoalben, eine Unruhe, die man nicht verorten kann, aber trotzdem kennt, weil sie immer da war. Heute sind es achtzig Jahre.

Text aus: FAS v. 01.09.2019 - S. 33 Feuilleton

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generationen-konflikte der nachkriegs-kinder: wie im netz verheddert


achtzig jahre nach kriegsbeginn muss man auch auf die indirekten psychologischen "kriegs-gewinnler" und "kriegs-verlierer" hinweisen: die menschen, die den nachkriegs-generationen als kinder und kindes-kinder der täter und opfer "bis in die 3. und 4. generation" angehören - und die das in irgendeiner weise spüren und verarbeiten - der eine mehr - die andere weniger ...

und je nach kommunikationsstand in den familien und der bearbeitung und dem reflexionsvermögen sind da "die deutschen" ja irgendwie deshalb zum guten oder zum schlechten geprägt - je nachdem...

und dann sind sie ja auch im gleichen atemzug kinder der spaltung und (millenium-)kinder der vereinigung zweier deutscher staaten, die ihre existenz jeweils nur von den alliierten siegermächten "verliehen" bekommen hatten - alles in allem nichts halbes und nichts ganzes.

und dann sind diese generationen oft kinder von durch die kriegswirren vertriebenen und geflüchteten, schleppen also fast alle ihre eigenart von migrationserfahrung mit sich herum - schimpfen zwar über die "heutigen flüchtlinge", die alles "in den arsch geschoben" kriegen - wohnen aber im kleinen feinen häuschen, das aus "national-solidarischen" lastenausgleichsmitteln und 1:1-umtausch einer maroden währung in eine "harte währung" herrühren - oder vom erbteil des opas, der während des krieges ein paar "fremdarbeiter" ausbeutete usw. usf.: da hat ein jede*r sein packerl zu tragen - von wegen: "vogelschiss"...

und vielfach ist das gar nicht (mehr) so bewusst, sondern unbewusst schwingt das alles mit - und der text von rüthen oben endet deshalb ja auch mit: 

"Die Spätfolgen dieser weltweiten Erschütterungen leben fort. Als familiäres Erbe: schwarzweiße Porträts in alten Fotoalben, eine Unruhe, die man nicht verorten kann, aber trotzdem kennt, weil sie immer da war. Heute sind es achtzig Jahre." 
  • auf meiner website habe ich auch ein paar texte dazu zusammengestellt: click here & here - u.a.



ein leben lang selbst schwanger - ob mann oder frau

Paarberater über negative Selbstbilder

So verscheuchen Sie die Gespenster Ihrer Kindheit

In unseren ersten Jahren entscheidet sich, wie wir die Welt wahrnehmen. Hier erklärt der Paarberater Michael Mary, warum negative Erfahrungen unser Leben belasten - und was dagegen hilft. 

Von Marianne Wellershoff  | SPIEGEL+


Foto: Alex Linch | GettyImage




SPIEGEL: Herr Mary, wann meldet sich das Innere Kind bei Ihnen?

Mary: Wenn ich mich ärgere, weil ich keinen Parkplatz finde oder meine Freundin keine Zeit hat. Da flammen in einem Moment der Konfusion Gefühle auf und verlöschen dann wieder.

SPIEGEL: Hat jeder Mensch ein Inneres Kind?

Mary: Ja. Das Innere Kind ist ein Begriff, ein Bild für die ganz individuelle, in der frühen Kindheit geprägte Art und Weise, wie man die Welt wahrnimmt und interpretiert. Diese Deutung zeigt sich dann als Emotion und als Körpergefühl.

SPIEGEL: Können Sie das bitte an einem Beispiel erklären?

Mary: Die Ehefrau sieht, wie der Partner eine andere Frau in den Arm nimmt, und hat plötzlich so ein komisches Gefühl im Bauch. Weil sie die Situation deutet: Der will etwas von ihr, sie will etwas von ihm, vielleicht ist er unzufrieden mit unserer Beziehung, vielleicht bin ich ihm langweilig. Und dann entsteht ein Gefühl der Angst. Dabei hat die Umarmung vielleicht einen ganz anderen Grund, der Mann gratuliert möglicherweise einer guten Freundin einfach nur zum Geburtstag.

SPIEGEL: Sie haben gerade ein Buch veröffentlicht mit dem Titel "Frieden schließen mit dem Kind in uns". Sind wir denn zerstritten mit unserem Inneren Kind?

Mary: Es gibt fröhliche Kinder, und es gibt traurige Kinder. Und die traurigen, zornigen, ängstlichen, unglücklichen sind es, die sich bemerkbar machen. Wenn man mit sich selbst nicht mehr klarkommt, wenn es Probleme bei der Arbeit oder in der Partnerschaft gibt, dann ist es Zeit, sich mit den Mechanismen zu befassen, die hier wirken.

SPIEGEL: Was sind das für Mechanismen?

Mary: Unser Verhalten wird von unseren tiefen inneren Überzeugungen, unseren individuellen Wahrheiten gesteuert. Halte ich es für wahr, dass ich mich im Leben anstrengen muss? Dass ich mich unbedingt durchsetzen muss? Dass ich immer den Kürzeren ziehe? Wenn ja, dann muss ich entsprechend reagieren. Diese scheinbaren Wahrheiten sind aber lediglich Kindheitserfahrungen, die ins Erwachsenenleben hinein wirken.

SPIEGEL: Muss man sich dafür präzise an Ereignisse aus der eigenen Kindheit zurückerinnern?

Mary: Nein, es geht nicht darum, in der Erinnerung nach konkreten Situationen zu graben. Sondern darum, die damals erworbenen Überzeugungen aufzudecken, die einen zu einem bestimmten Verhalten treiben. Und diese Überzeugungen sind ja heute noch da.

SPIEGEL: Das klingt nach Tiefenpsychologie. Wie lernt man denn das Innere Kind besser kennen?

Mary: Indem man die Frage stellt: Was ist meine Überzeugung, aus der heraus das, was ich tue, einen Sinn ergibt? Ein Beispiel: Vor Kurzem habe ich einen 74 Jahre alten Herrn getroffen, der gerade 300.000 Euro geerbt hatte. Er hat mir gesagt, er wolle seinen Teilzeitjob weitermachen, mit dem er bis dahin seine Rente aufgebessert hatte. "Ich will doch nicht am Hungertuch nagen", war seine Begründung. Was für ein absurdes Verhalten! Er wird in seinem Alter doch eher Schwierigkeiten haben, die 300.000 Euro überhaupt auszugeben. Verständlich wird seine Aussage erst, wenn man weiß, dass sich durch sein ganzes Leben ein Gefühl der Unsicherheit gezogen hat.

SPIEGEL: Kommen wir mit einem Inneren Kind zur Welt?

Mary: Diese psychischen Strukturen, diese Deutungen entwickeln sich im Wesentlichen in den ersten Lebensjahren, und sie helfen dem Kind dabei, seine Welt zu ordnen und sich in ihr zurechtzufinden. Dabei spielen verschiedene Einflüsse eine Rolle wie konkrete Erlebnisse, Reaktionsmuster der Eltern, es gibt aber auch körperliche Faktoren. Kinder von alkoholabhängigen Müttern haben beispielsweise oft eine höhere Angstbereitschaft. Ich bin auch davon überzeugt, dass es eine Rolle spielen kann, wie die Geburt verlaufen ist. Eine sehr schwere Geburt kann dazu führen, dass ein Mensch sich fremd fühlt in dieser Welt.

SPIEGEL: Wirklich? Alle Menschen haben eine infantile Amnesie, sie können sich daher gar nicht an ihre Geburt erinnern.

Mary: Richtig, es gibt keine bewusste Erinnerung daran. Aber eine körperliche, und diese findet sich dann in den Grundüberzeugungen des Menschen wieder. Entscheidend ist also: Sind es positive oder negative Erfahrungen? Je nachdem resultieren daraus helle oder dunkle Innere Kinder.

SPIEGEL: Helle oder dunkle? Was meinen Sie damit?

Mary: Ein helles Kind fühlt sich geliebt und geborgen. Es traut sich viel zu, und es weiß, es wird auch dann geliebt, wenn es Fehler macht. Das dunkle Kind muss um die Liebe kämpfen, es muss sich Anerkennung über Leistung holen oder über Anpassung. Und wenn es hier versagt, wird es isoliert, geschnitten, nicht geliebt. Das macht das Kind traurig, wütend, verzweifelt. Das helle Kind wird von seinen Eltern unterstützt, und diese geben ihm Raum. Das dunkle Kind muss die Erwartungen der Eltern erfüllen, es soll sich nach deren Vorstellungen entwickeln.

SPIEGEL: Und wie stellt man fest, ob man ein helles oder dunkles Kind in sich trägt?

Mary: Ganz einfach: Das helle Kind macht keine Probleme, es ist mit sich und der Welt im Einklang. Das dunkle Kind ist am Werk, wenn es im Leben nicht gut läuft, wenn man belastet ist, wenn man Dinge tut, zu denen man sich gezwungen fühlt. Warum muss ich mit 74 Jahren und großem Erbe noch einen Tag pro Woche arbeiten? Warum muss ich unbedingt die Karriereleiter immer weiter nach oben klettern, obwohl ich eigentlich total erschöpft bin?

SPIEGEL: Das dunkle Kind kann den Erwachsenen bis zum Burn-out treiben?

Mary: Ja, hinter einem Burn-out steht oft die Überzeugung, immer noch mehr leisten zu müssen, um etwas wert zu sein. Meist geht man mit sich selbst genau so um, wie die Eltern es früher getan haben. Wenn die Eltern gesagt haben, "jetzt stell dich nicht so an", dann wird man auch hart mit sich selbst sein und vermutlich auch mit dem Partner oder der Partnerin. Das führt irgendwann dazu, dass die anderen diesem Menschen aus dem Weg gehen, dass er verlassen wird.

SPIEGEL: Und wie kommt man aus dieser Falle heraus? Wie heilt man das Innere Kind?

Mary: Das Innere Kind ist ja nicht krank, daher kann es auch nicht geheilt werden. Es agiert auf Basis seiner Erfahrungen sinnvoll, weil Selbstkritik, Leistungsanspruch, Bockigkeit oder Panik in der Kindheit zur automatisierten Reaktion geworden sind. Man muss die Haltung zu sich selbst verändern. Stellen Sie sich die Schlüsselfrage: Warum glaube ich, mich so verhalten zu müssen? Welche Überzeugung erzwingt dieses Verhalten? So dringt man zu den scheinbaren, zu den inneren Wahrheiten vor.

SPIEGEL: Das klingt sehr einfach und rational: Ich reflektiere über mich, erkenne mein Problem und ändere mein Verhalten. So simpel funktioniert das doch nicht.

Mary: Im Prinzip schon. Das Innere Kind ist eine Konstruktion. Man gibt dem Problem eine Identität, man kann es beschreiben: Mein Inneres Kind hat Angst, von anderen abgelehnt zu werden. Deshalb passt es sich übermäßig an. Und dann versucht man, in Kontakt mit diesem Kind zu kommen, eine emotionale Beziehung zu entwickeln. Und schließlich verhält man sich gegenüber diesem Kind wie gute Eltern, die dieses Kind lieben. Man sagt ihm: Ich liebe dich genau so, wie du bist. Du musst keine Erwartungen erfüllen. Mir ist es wichtig, dass es dir gut geht.

SPIEGEL: Möglicherweise geht das am besten, wenn man tatsächlich eine gute Mutter oder ein guter Vater ist?

Mary: Ich habe schon oft Klienten, die mit sich sehr hart sind, die Frage gestellt: Würden Sie zu Ihrer fünfjährigen Tochter sagen, sie soll jetzt mal die Zähne zusammenbeißen? Da bekomme ich jedes Mal die empörte Antwort, dass sie das nie tun würden und dass sie diesen Erziehungsstil ablehnten. Ich antworte dann, dass sie bitte auch mit sich selbst umgehen sollen wie mit ihren Kindern.

SPIEGEL: Und was passiert dann?

Mary: Manchmal nehmen die Klienten in der Therapie eine Puppe auf den Schoß, die das Innere Kind symbolisiert. Ich fordere sie auf, einen Satz zu suchen, der sie emotional berührt. Diesen sollen sie dann zu der Puppe sagen, also beispielsweise: "Du darfst auch schwach sein." Da kommen dann oft die Tränen, weil die alten, destruktiven Wahrheiten infrage gestellt werden. In diesem sehr emotionalen Moment erkennen die Klienten, dass sie ganz andere Wahrnehmungs- und Lebensmöglichkeiten haben. Sie treten sich selbst liebevoll gegenüber, so wie sie mit einem realen Kind, das sie sehr lieben, umgehen.








Michael Mary: Frieden schließen mit dem Kind in 
uns: Wie wir uns von Einflüssen der Vergangenheit befreien
Piper Verlag, München; 224 Seiten; 16 Euro



SPIEGEL: Das Bonmot stimmt also: Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit.

Mary: Schön formuliert, aber die Kindheit bleibt, wie sie war. Die Deutungen, die man auf Basis des Erlebten entwickelt hat, die kann man verändern. Diese Deutungen können ja übrigens auch ganz falsch sein. Nehmen wir mal an, jemand hat seinen Vater nie kennengelernt, und die Mutter hat dem Kind immer gesagt: "Der wollte dich nicht und ist abgehauen." Dann fühlt sich dieser Mensch sein Leben lang als Halbwaise und ist überzeugt, er sei auch nur halb geliebt worden. Als er 50 ist, trifft er seinen alten Vater, und der sagt: "Ich habe dich jahrelang gesucht, aber deine Mutter hat den Kontakt verhindert."

SPIEGEL: Das ist die Chance zur Umdeutung?

Mary: Genau. Jemand ist 50 Jahre lang mit einem Loch im Bauch durchs Leben gelaufen, und plötzlich steht da der Vater und zeigt Emotionen: Ich habe dich vermisst. Daraus ergibt sich von selbst eine Umdeutung in Richtung: Ich bin doch liebenswert.

SPIEGEL: Braucht man für so einen Prozess der Neuinterpretation einen Psychotherapeuten?

Mary: Das kommt auf die Fähigkeit an, Kontakt zu sich selbst aufzunehmen und seine Gefühle mit Abstand zu betrachten. Wenn jemandem diese Fähigkeit fehlt oder wenn jemand in einer schweren Lebenskrise ist, kann er oder sie nicht die Frage beantworten, was diese Gefühle ausgelöst hat, warum das Innere Kind so unglaublich wütend oder traurig ist. Da braucht man jemanden, der die Distanz und damit den Blick von außen hat.

SPIEGEL: Alle anderen könnten selbst in den Dialog treten? Besteht da nicht die Gefahr, dass das Innere Kind Antworten gibt, die eine Krise erst auslösen?

Mary: Sie wollen andeuten, der Dialog mit dem Inneren Kind könnte gefährlich sein, wenn kein Therapeut danebensitzt? Das klingt wie eine Argumentation von Psychotherapeuten, die eine Kassenzulassung besitzen und Kompetenz und Zuständigkeit für alles behaupten. Ich sage: Nein, bei normalen Lebensproblemen sollen sie sich raushalten, die haben sie im Zweifelsfall selbst und nehmen dafür auch keine Unterstützung in Anspruch. An denen kann jeder selbst arbeiten. Das Gespräch mit dem Inneren Kind ist eine Methode der Selbstregulation, mit der die meisten Menschen sehr gut allein zurechtkommen.


  • Zum Umgang mit dem Inneren Kind bietet der Paarberater Michael Mary auch Videokurse an. Anhand von praktischen Beispielen erläutert er, wie man in den Dialog mit sich selbst und den in der Kindheit gelernten Überzeugungen tritt. 
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ich habe hier im blog aber auch auf der website schon oft beiträge zu den themen: "familiengeheimnisse" und "transgenerationales erbe" weitergegeben, eben weil ich glaube, dass das zu einer gesunden und reifen aufarbeitung unserer vergangenheit auch über generationen hinweg vonnöten sein kann.

das hier im beitrag beschriebene system vom umgang mit dem eigenen "inneren kind" ist dazu eine ergänzung, denn das kleinkind wächst ja mit seinen sensiblen antennen auf, für etwas, was vielleicht in der familie "nicht stimmt" - und warum opa immer so "mürrisch" ist - oder auch ganz vernarrt in seinen enkel und ihn mit geschenken überschüttet.

der erste adressat für solche mängelerlebnisse oder solch ein "overprotection" sind die kinder selbst - und oft fragt man sich erst später als erwachsener, welche "botschaften" uns damals direkt oder indirekt "mitgeteilt" wurden. oder auch wenn immer gesagt wird: "dein vater hatte es als kind auch ganz schwer" - oder: "unser oma schleppt da noch einiges mit von zuhause"...

dann sollten wir hellhörig werden und anfangen zu forschen und zu graben in der eigenen familienarchäologie. und die ersten anhaltspunke sind dann oft die eigenen "macken" oder "blinden flecke", denen man auf den grund gehen kann, indem man sein eigenes "inneres kind" in sich aufsucht - und die licht- und schattenseiten davon betrachtet und erarbeitet, indem man in sich hineinhört und in den inneren "dialog" tritt.

übrigens halte ich die durchaus in der psychologie (z.b. c.g.jung) verwendeten begriffe von "licht & schatten" für weniger semantisch belastet als das "helle" und "dunkle" kind in einem, was dann schnell assoziationen zu hautfarben auslösen kann.


familiengeheimnisse & transgenerationale weitergabe: miriam gebhardt

auf meiner website beschäftige ich mich ja auch auf seiten mit dem phänomen "familiengeheimnisse" bzw. "transgenerationale weitergabe" - traumata-erlebnisse wie z.b. holocaust, genozid, nazi-'euthanasie', vergewaltigungen, katastrophen, identitätsverluste, verlust von nächsten angehörigen usw., die manchmal auch unbewusst "bis ins 3. und 4. glied", wie die bibel das schon wusste, weitergegeben und zumindest als disposition oder als "kleine macke" regelrecht "vererbt" werden können. 

hier nun in einem ttt-beitrag der ard spricht die historikerin und autorin miriam gebhardt sogar von "feinstofflichen" genetischen dispositionen und weitergaben: der bericht endet sinngemäß mit dem satz: auch über 70 jahre danach ist der 2. weltkrieg noch längst nicht überwunden...

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