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der krieg und seine folgen - ein jeder trage seine last

Enkel des Kriegs

von TOBIAS RÜTHER | FAS . FEUILLETON

Es ist genau achtzig Jahre her, dass der Zweite Weltkrieg angefangen hat – und die Zeitzeugen sterben aus. Vieles spricht aber dafür, dass Erbe und Erfahrung dieses Kriegs noch die Millennials von heute prägen

Am heutigen Sonntag jährt sich der deutsche Überfall auf Polen zum achtzigsten Mal. Achtzigjährige von heute werden sich nicht daran erinnern, vielleicht aber daran, wie es war, als sechs Jahre später der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Die Zeitzeugen von Krieg und Holocaust sterben aus: Bald wird man ihre Gesichter nur noch gefilmt und fotografiert sehen, ihre Stimmen nur noch aufgezeichnet hören können. Wie erinnert man dann an das, was geschehen ist? Wenn man niemanden mehr fragen kann, der oder die dabei war? Das ist ein unermesslicher Verlust.

Andererseits gehört aber auch zur Wahrheit, dass viele derjenigen, die dabei gewesen sind und mitgemacht haben, selbst dann nicht darüber geredet haben, als sie es noch konnten. Dass Zeitzeugen schweigen und lügen, hat deutsche Vergangenheitsbewältigung geprägt. Es ist eines ihrer Leitmotive gewesen – und gehört zum Selbstverständnis der Achtundsechziger: Den eigenen Eltern abverlangt zu haben, endlich zu reden – warst du dabei, dafür, dagegen?

Doch so viel auch geredet worden ist seit 1968: Der Redebedarf ist trotzdem nicht geringer geworden. Und er hat sich, unter immer neuen Forschungsfragen, verzweigt und auf neue Felder erstreckt. Das zeigt auch ein aktueller Bestseller wie Harald Jähners „Wolfszeit“. Jähner erforscht darin, wie die Deutschen in den ersten zehn Nachkriegsjahren mit sich selbst umgegangen sind. Wie sie sich selbst zu Opfern „der Nazis“ erklärten, die vermeintlich wahren Schuldigen aber doch nicht richteten. Wie sie die Wahrheit verdrängten und sie zugleich ausschmückten, es wurde nämlich nie geschwiegen, sondern heftig fabuliert. Wie sie auf Distanz zueinander gingen, um weitermachen, aufbauen, aufsteigen zu können – das ganze Wirtschaftswunder, ein hochfunktionales, kaltes Powerhouse.

Und Jähner gelangt selbst zu einer kühlen Erkenntnis, was diese Funktionalität angeht: „Mag man auch die mangelnde Wahrheitsliebe der deutschen Nachkriegsgesellschaft verurteilen“, schreibt er, „so kommt man kaum umhin, ihr eine Verdrängungsleistung zu attestieren, von der die Nachkommen aufs äußerste profitierten.“ Das Land stand schnell wieder, beide deutschen Teile wurden zu Musterschülern ihrer Blöcke.

Wohlstand aber kittet und tröstet nicht, weswegen die Erinnerung an Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust auch als Konflikt generationeller und familiärer Beziehungen bis heute weiterlebt. Daraus erklärt sich der anhaltende Erfolg von Nico-Hofmann-Geschichtsfilmen wie „Unsere Mütter, unsere Väter“ und auch der Bücher und Veranstaltungen von Sabine Bode. Jahrelang sammelte die Kölner Journalistin die Geschichten der „Kriegskinder“ und „Kriegsenkel“: Von Deutschen, die feststellen mussten, dass sie von einem Krieg geprägt wurden, den sie gar nicht erlebt hatten oder nur als Kinder, und zwar um so heftiger geprägt, weil sie nur spürten, ohne zu verstehen. Was die Großeltern erlebten und taten, lebt in Kindern und Kindeskindern fort – und so bleibt der Krieg, der vor achtzig Jahren begann, weiter präsent. Als Rastlosigkeit, lähmendes Gefühl der Unzulänglichkeit und Fixierung aufs Gestern, als Entscheidungsschwäche, Heimatlosigkeit.

Nachkriegszeit in Hannover: Kinder lauschen einem Mann, der aus einem Gewehr eine Art Cello gebastelt hat und darauf musiziert. Quelle: Wilhelm Hauschild (Archiv) HAZ


Erst indem Bodes Kriegskinder und -enkel aber ihre Erfahrungen teilten, zeigten sich diese gemeinsamen Muster überhaupt. Sie zeigen sich nicht in jeder deutschen Familie: Es ist eher so, dass man beim Lesen merkt, ob man dazugehört. Diese Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen ist charakteristisch. Die einen fürchten sich seit ihrer Kindheit vor den schwarzweißen Porträts junger Männer in Wehrmachtsuniformen, die anderen schlagen vor, die Fotos doch stolz aufzustellen, wie die Vorsitzende der AfD-Parteistiftung, Erika Steinbach, vorgeschlagen hat.

Sabine Bode ist vorgeworfen worden, den Deutschen dazu zu verhelfen, sich am Ende doch noch als Opfer des Nationalsozialismus zu gerieren. Das verkennt, worum es ihr geht: Für die Kriegskinder und Kriegsenkel ist Vergangenheitsbewältigung nicht allein ein mehr oder weniger abstrakter Prozess von Sühne und Verantwortung, der sich an Gedenktage wie den heutigen bindet, sondern: Familienalltag.

Das Nachleben des Zweiten Weltkriegs als Konflikt zwischen den Generationen: Wenn man in diesem Licht zurückblickt, rückt uns die Vergangenheit von vor achtzig Jahren wieder nah. Der amerikanische Schriftsteller Bret Easton Ellis hat in seinem neuen Buch „Weiß“ dafür eine Formel gefunden, und die ist umso interessanter, weil Ellis sie aus amerikanischer Perspektive entwickelt, aus Sicht der Guten, der Sieger.

Ellis, geboren 1964, ein großer Künstler sentimentaler Isolation in besten Verhältnissen, hadert schon seit langem mit seinen jüngeren Zeitgenossen, die man die „Millennials“ nennt (er ist selbst mit einem liiert). Ellis nennt sie die „Generation Weichei“: Ausgestattet einerseits mit größtem Sendungsbewusstsein, andererseits hochempfindlich, was Kritik angeht, und zugleich besessen davon, dass sich alle „safe“ fühlen, so sieht er sie. Die Anerkennung, die Millennials – geboren je nach Rechnung zwischen 1981 und 1998, erwachsen geworden in der letzten Finanzkrise – ökonomisch nicht mehr erfahren, beziehen sie dafür aus der Selbstdarstellungskultur sozialer Medien, aus Selfies und Likes. Hervorgebracht wurde diese Generation aber in der Sicht von Bret Easton Ellis nicht durch das Internet, was einen als Erklärung auch nicht gewundert hätte, sondern: durch den Zweiten Weltkrieg. Durch die Generationendynamik, die er in Gang gesetzt hat, durch die weitergereichten Prägungen, wie man sie ganz ähnlich aus Sabine Bodes Modell kennt. Nur dass es hier ja um die Nation der Befreier geht.

Die amerikanischen Soldaten der „Greatest Generation“, so rechnet Ellis es sich aus, kehrten 1945 im Triumph aus Europa heim und traten einen beispiellosen Aufstieg an. Deren Kinder, die „Baby Boomer“, wuchsen im Wohlstand auf, aber auch im Umbruch der Sixties und mit dem Trauma Vietnam. Die Kinder dieser Baby Boomer wiederum – die Generation X, zu der sich auch Ellis zählt – schauten auf eine Welt, die ihnen Wohlstand, aber auch das massive Desinteresse ihrer Eltern einbrachte. Ellis beschreibt, hingerissen zwischen Melancholie und Entbehrung, die leeren Bungalows, in denen seine Schulfreunde und er im kalifornischen Suburbia spielten und Horrorfilme schauten, eine Welt ohne Eltern: „Wir genossen den Luxus, zugleich deprimiert und ironisch und cool und kreditwürdig zu sein.“

Aus diesen Schulfreunden der Generation X aber sind endlich jene Helikopter-Eltern geworden, die ihre Kinder, die Millennials, mit jener Aufmerksamkeit überschütteten, die ihre eigenen Eltern ihnen versagt hatten. In den Millennials leben also die Konflikte eines erschütterten Wohlstandsglaubens fort, der sich nie für alle einlöste, die kognitiven Dissonanzen gleich mehrerer Generationen seit Kriegsende.

Derart mit Generationenbegriffen um sich zu werfen, hat der Wahrheitsfindung noch nie gedient. Eigentlich redet Bret Easton Ellis aber, ja, von: Familien. Und das macht sein Modell dann wieder übertragbar, trotz der atlantikweiten Unterschiede der Erfahrung von gerechtem Sieg und fürchterlicher Schuld. Da sind die Urgroßväter und Großväter, die einen fürchterlichen Krieg begannen, den andere Urgroßväter und Väter dann zum Glück gewannen. Was sie erlebten, prägt Kinder, Enkel, Urenkel. Auch wenn die Zeitzeugen langsam von uns gehen, auch wenn die deutschen Millennials, ihre jüngeren Geschwister und deren Kinder damit aufwachsen, dass sie nicht mehr im Gespräch fragen können, wie es dazu kommen konnte: Die Spätfolgen dieser weltweiten Erschütterungen leben fort. Als familiäres Erbe: schwarzweiße Porträts in alten Fotoalben, eine Unruhe, die man nicht verorten kann, aber trotzdem kennt, weil sie immer da war. Heute sind es achtzig Jahre.

Text aus: FAS v. 01.09.2019 - S. 33 Feuilleton

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generationen-konflikte der nachkriegs-kinder: wie im netz verheddert


achtzig jahre nach kriegsbeginn muss man auch auf die indirekten psychologischen "kriegs-gewinnler" und "kriegs-verlierer" hinweisen: die menschen, die den nachkriegs-generationen als kinder und kindes-kinder der täter und opfer "bis in die 3. und 4. generation" angehören - und die das in irgendeiner weise spüren und verarbeiten - der eine mehr - die andere weniger ...

und je nach kommunikationsstand in den familien und der bearbeitung und dem reflexionsvermögen sind da "die deutschen" ja irgendwie deshalb zum guten oder zum schlechten geprägt - je nachdem...

und dann sind sie ja auch im gleichen atemzug kinder der spaltung und (millenium-)kinder der vereinigung zweier deutscher staaten, die ihre existenz jeweils nur von den alliierten siegermächten "verliehen" bekommen hatten - alles in allem nichts halbes und nichts ganzes.

und dann sind diese generationen oft kinder von durch die kriegswirren vertriebenen und geflüchteten, schleppen also fast alle ihre eigenart von migrationserfahrung mit sich herum - schimpfen zwar über die "heutigen flüchtlinge", die alles "in den arsch geschoben" kriegen - wohnen aber im kleinen feinen häuschen, das aus "national-solidarischen" lastenausgleichsmitteln und 1:1-umtausch einer maroden währung in eine "harte währung" herrühren - oder vom erbteil des opas, der während des krieges ein paar "fremdarbeiter" ausbeutete usw. usf.: da hat ein jede*r sein packerl zu tragen - von wegen: "vogelschiss"...

und vielfach ist das gar nicht (mehr) so bewusst, sondern unbewusst schwingt das alles mit - und der text von rüthen oben endet deshalb ja auch mit: 

"Die Spätfolgen dieser weltweiten Erschütterungen leben fort. Als familiäres Erbe: schwarzweiße Porträts in alten Fotoalben, eine Unruhe, die man nicht verorten kann, aber trotzdem kennt, weil sie immer da war. Heute sind es achtzig Jahre." 
  • auf meiner website habe ich auch ein paar texte dazu zusammengestellt: click here & here - u.a.



ein leben lang selbst schwanger - ob mann oder frau

Paarberater über negative Selbstbilder

So verscheuchen Sie die Gespenster Ihrer Kindheit

In unseren ersten Jahren entscheidet sich, wie wir die Welt wahrnehmen. Hier erklärt der Paarberater Michael Mary, warum negative Erfahrungen unser Leben belasten - und was dagegen hilft. 

Von Marianne Wellershoff  | SPIEGEL+


Foto: Alex Linch | GettyImage




SPIEGEL: Herr Mary, wann meldet sich das Innere Kind bei Ihnen?

Mary: Wenn ich mich ärgere, weil ich keinen Parkplatz finde oder meine Freundin keine Zeit hat. Da flammen in einem Moment der Konfusion Gefühle auf und verlöschen dann wieder.

SPIEGEL: Hat jeder Mensch ein Inneres Kind?

Mary: Ja. Das Innere Kind ist ein Begriff, ein Bild für die ganz individuelle, in der frühen Kindheit geprägte Art und Weise, wie man die Welt wahrnimmt und interpretiert. Diese Deutung zeigt sich dann als Emotion und als Körpergefühl.

SPIEGEL: Können Sie das bitte an einem Beispiel erklären?

Mary: Die Ehefrau sieht, wie der Partner eine andere Frau in den Arm nimmt, und hat plötzlich so ein komisches Gefühl im Bauch. Weil sie die Situation deutet: Der will etwas von ihr, sie will etwas von ihm, vielleicht ist er unzufrieden mit unserer Beziehung, vielleicht bin ich ihm langweilig. Und dann entsteht ein Gefühl der Angst. Dabei hat die Umarmung vielleicht einen ganz anderen Grund, der Mann gratuliert möglicherweise einer guten Freundin einfach nur zum Geburtstag.

SPIEGEL: Sie haben gerade ein Buch veröffentlicht mit dem Titel "Frieden schließen mit dem Kind in uns". Sind wir denn zerstritten mit unserem Inneren Kind?

Mary: Es gibt fröhliche Kinder, und es gibt traurige Kinder. Und die traurigen, zornigen, ängstlichen, unglücklichen sind es, die sich bemerkbar machen. Wenn man mit sich selbst nicht mehr klarkommt, wenn es Probleme bei der Arbeit oder in der Partnerschaft gibt, dann ist es Zeit, sich mit den Mechanismen zu befassen, die hier wirken.

SPIEGEL: Was sind das für Mechanismen?

Mary: Unser Verhalten wird von unseren tiefen inneren Überzeugungen, unseren individuellen Wahrheiten gesteuert. Halte ich es für wahr, dass ich mich im Leben anstrengen muss? Dass ich mich unbedingt durchsetzen muss? Dass ich immer den Kürzeren ziehe? Wenn ja, dann muss ich entsprechend reagieren. Diese scheinbaren Wahrheiten sind aber lediglich Kindheitserfahrungen, die ins Erwachsenenleben hinein wirken.

SPIEGEL: Muss man sich dafür präzise an Ereignisse aus der eigenen Kindheit zurückerinnern?

Mary: Nein, es geht nicht darum, in der Erinnerung nach konkreten Situationen zu graben. Sondern darum, die damals erworbenen Überzeugungen aufzudecken, die einen zu einem bestimmten Verhalten treiben. Und diese Überzeugungen sind ja heute noch da.

SPIEGEL: Das klingt nach Tiefenpsychologie. Wie lernt man denn das Innere Kind besser kennen?

Mary: Indem man die Frage stellt: Was ist meine Überzeugung, aus der heraus das, was ich tue, einen Sinn ergibt? Ein Beispiel: Vor Kurzem habe ich einen 74 Jahre alten Herrn getroffen, der gerade 300.000 Euro geerbt hatte. Er hat mir gesagt, er wolle seinen Teilzeitjob weitermachen, mit dem er bis dahin seine Rente aufgebessert hatte. "Ich will doch nicht am Hungertuch nagen", war seine Begründung. Was für ein absurdes Verhalten! Er wird in seinem Alter doch eher Schwierigkeiten haben, die 300.000 Euro überhaupt auszugeben. Verständlich wird seine Aussage erst, wenn man weiß, dass sich durch sein ganzes Leben ein Gefühl der Unsicherheit gezogen hat.

SPIEGEL: Kommen wir mit einem Inneren Kind zur Welt?

Mary: Diese psychischen Strukturen, diese Deutungen entwickeln sich im Wesentlichen in den ersten Lebensjahren, und sie helfen dem Kind dabei, seine Welt zu ordnen und sich in ihr zurechtzufinden. Dabei spielen verschiedene Einflüsse eine Rolle wie konkrete Erlebnisse, Reaktionsmuster der Eltern, es gibt aber auch körperliche Faktoren. Kinder von alkoholabhängigen Müttern haben beispielsweise oft eine höhere Angstbereitschaft. Ich bin auch davon überzeugt, dass es eine Rolle spielen kann, wie die Geburt verlaufen ist. Eine sehr schwere Geburt kann dazu führen, dass ein Mensch sich fremd fühlt in dieser Welt.

SPIEGEL: Wirklich? Alle Menschen haben eine infantile Amnesie, sie können sich daher gar nicht an ihre Geburt erinnern.

Mary: Richtig, es gibt keine bewusste Erinnerung daran. Aber eine körperliche, und diese findet sich dann in den Grundüberzeugungen des Menschen wieder. Entscheidend ist also: Sind es positive oder negative Erfahrungen? Je nachdem resultieren daraus helle oder dunkle Innere Kinder.

SPIEGEL: Helle oder dunkle? Was meinen Sie damit?

Mary: Ein helles Kind fühlt sich geliebt und geborgen. Es traut sich viel zu, und es weiß, es wird auch dann geliebt, wenn es Fehler macht. Das dunkle Kind muss um die Liebe kämpfen, es muss sich Anerkennung über Leistung holen oder über Anpassung. Und wenn es hier versagt, wird es isoliert, geschnitten, nicht geliebt. Das macht das Kind traurig, wütend, verzweifelt. Das helle Kind wird von seinen Eltern unterstützt, und diese geben ihm Raum. Das dunkle Kind muss die Erwartungen der Eltern erfüllen, es soll sich nach deren Vorstellungen entwickeln.

SPIEGEL: Und wie stellt man fest, ob man ein helles oder dunkles Kind in sich trägt?

Mary: Ganz einfach: Das helle Kind macht keine Probleme, es ist mit sich und der Welt im Einklang. Das dunkle Kind ist am Werk, wenn es im Leben nicht gut läuft, wenn man belastet ist, wenn man Dinge tut, zu denen man sich gezwungen fühlt. Warum muss ich mit 74 Jahren und großem Erbe noch einen Tag pro Woche arbeiten? Warum muss ich unbedingt die Karriereleiter immer weiter nach oben klettern, obwohl ich eigentlich total erschöpft bin?

SPIEGEL: Das dunkle Kind kann den Erwachsenen bis zum Burn-out treiben?

Mary: Ja, hinter einem Burn-out steht oft die Überzeugung, immer noch mehr leisten zu müssen, um etwas wert zu sein. Meist geht man mit sich selbst genau so um, wie die Eltern es früher getan haben. Wenn die Eltern gesagt haben, "jetzt stell dich nicht so an", dann wird man auch hart mit sich selbst sein und vermutlich auch mit dem Partner oder der Partnerin. Das führt irgendwann dazu, dass die anderen diesem Menschen aus dem Weg gehen, dass er verlassen wird.

SPIEGEL: Und wie kommt man aus dieser Falle heraus? Wie heilt man das Innere Kind?

Mary: Das Innere Kind ist ja nicht krank, daher kann es auch nicht geheilt werden. Es agiert auf Basis seiner Erfahrungen sinnvoll, weil Selbstkritik, Leistungsanspruch, Bockigkeit oder Panik in der Kindheit zur automatisierten Reaktion geworden sind. Man muss die Haltung zu sich selbst verändern. Stellen Sie sich die Schlüsselfrage: Warum glaube ich, mich so verhalten zu müssen? Welche Überzeugung erzwingt dieses Verhalten? So dringt man zu den scheinbaren, zu den inneren Wahrheiten vor.

SPIEGEL: Das klingt sehr einfach und rational: Ich reflektiere über mich, erkenne mein Problem und ändere mein Verhalten. So simpel funktioniert das doch nicht.

Mary: Im Prinzip schon. Das Innere Kind ist eine Konstruktion. Man gibt dem Problem eine Identität, man kann es beschreiben: Mein Inneres Kind hat Angst, von anderen abgelehnt zu werden. Deshalb passt es sich übermäßig an. Und dann versucht man, in Kontakt mit diesem Kind zu kommen, eine emotionale Beziehung zu entwickeln. Und schließlich verhält man sich gegenüber diesem Kind wie gute Eltern, die dieses Kind lieben. Man sagt ihm: Ich liebe dich genau so, wie du bist. Du musst keine Erwartungen erfüllen. Mir ist es wichtig, dass es dir gut geht.

SPIEGEL: Möglicherweise geht das am besten, wenn man tatsächlich eine gute Mutter oder ein guter Vater ist?

Mary: Ich habe schon oft Klienten, die mit sich sehr hart sind, die Frage gestellt: Würden Sie zu Ihrer fünfjährigen Tochter sagen, sie soll jetzt mal die Zähne zusammenbeißen? Da bekomme ich jedes Mal die empörte Antwort, dass sie das nie tun würden und dass sie diesen Erziehungsstil ablehnten. Ich antworte dann, dass sie bitte auch mit sich selbst umgehen sollen wie mit ihren Kindern.

SPIEGEL: Und was passiert dann?

Mary: Manchmal nehmen die Klienten in der Therapie eine Puppe auf den Schoß, die das Innere Kind symbolisiert. Ich fordere sie auf, einen Satz zu suchen, der sie emotional berührt. Diesen sollen sie dann zu der Puppe sagen, also beispielsweise: "Du darfst auch schwach sein." Da kommen dann oft die Tränen, weil die alten, destruktiven Wahrheiten infrage gestellt werden. In diesem sehr emotionalen Moment erkennen die Klienten, dass sie ganz andere Wahrnehmungs- und Lebensmöglichkeiten haben. Sie treten sich selbst liebevoll gegenüber, so wie sie mit einem realen Kind, das sie sehr lieben, umgehen.








Michael Mary: Frieden schließen mit dem Kind in 
uns: Wie wir uns von Einflüssen der Vergangenheit befreien
Piper Verlag, München; 224 Seiten; 16 Euro



SPIEGEL: Das Bonmot stimmt also: Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit.

Mary: Schön formuliert, aber die Kindheit bleibt, wie sie war. Die Deutungen, die man auf Basis des Erlebten entwickelt hat, die kann man verändern. Diese Deutungen können ja übrigens auch ganz falsch sein. Nehmen wir mal an, jemand hat seinen Vater nie kennengelernt, und die Mutter hat dem Kind immer gesagt: "Der wollte dich nicht und ist abgehauen." Dann fühlt sich dieser Mensch sein Leben lang als Halbwaise und ist überzeugt, er sei auch nur halb geliebt worden. Als er 50 ist, trifft er seinen alten Vater, und der sagt: "Ich habe dich jahrelang gesucht, aber deine Mutter hat den Kontakt verhindert."

SPIEGEL: Das ist die Chance zur Umdeutung?

Mary: Genau. Jemand ist 50 Jahre lang mit einem Loch im Bauch durchs Leben gelaufen, und plötzlich steht da der Vater und zeigt Emotionen: Ich habe dich vermisst. Daraus ergibt sich von selbst eine Umdeutung in Richtung: Ich bin doch liebenswert.

SPIEGEL: Braucht man für so einen Prozess der Neuinterpretation einen Psychotherapeuten?

Mary: Das kommt auf die Fähigkeit an, Kontakt zu sich selbst aufzunehmen und seine Gefühle mit Abstand zu betrachten. Wenn jemandem diese Fähigkeit fehlt oder wenn jemand in einer schweren Lebenskrise ist, kann er oder sie nicht die Frage beantworten, was diese Gefühle ausgelöst hat, warum das Innere Kind so unglaublich wütend oder traurig ist. Da braucht man jemanden, der die Distanz und damit den Blick von außen hat.

SPIEGEL: Alle anderen könnten selbst in den Dialog treten? Besteht da nicht die Gefahr, dass das Innere Kind Antworten gibt, die eine Krise erst auslösen?

Mary: Sie wollen andeuten, der Dialog mit dem Inneren Kind könnte gefährlich sein, wenn kein Therapeut danebensitzt? Das klingt wie eine Argumentation von Psychotherapeuten, die eine Kassenzulassung besitzen und Kompetenz und Zuständigkeit für alles behaupten. Ich sage: Nein, bei normalen Lebensproblemen sollen sie sich raushalten, die haben sie im Zweifelsfall selbst und nehmen dafür auch keine Unterstützung in Anspruch. An denen kann jeder selbst arbeiten. Das Gespräch mit dem Inneren Kind ist eine Methode der Selbstregulation, mit der die meisten Menschen sehr gut allein zurechtkommen.


  • Zum Umgang mit dem Inneren Kind bietet der Paarberater Michael Mary auch Videokurse an. Anhand von praktischen Beispielen erläutert er, wie man in den Dialog mit sich selbst und den in der Kindheit gelernten Überzeugungen tritt. 
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ich habe hier im blog aber auch auf der website schon oft beiträge zu den themen: "familiengeheimnisse" und "transgenerationales erbe" weitergegeben, eben weil ich glaube, dass das zu einer gesunden und reifen aufarbeitung unserer vergangenheit auch über generationen hinweg vonnöten sein kann.

das hier im beitrag beschriebene system vom umgang mit dem eigenen "inneren kind" ist dazu eine ergänzung, denn das kleinkind wächst ja mit seinen sensiblen antennen auf, für etwas, was vielleicht in der familie "nicht stimmt" - und warum opa immer so "mürrisch" ist - oder auch ganz vernarrt in seinen enkel und ihn mit geschenken überschüttet.

der erste adressat für solche mängelerlebnisse oder solch ein "overprotection" sind die kinder selbst - und oft fragt man sich erst später als erwachsener, welche "botschaften" uns damals direkt oder indirekt "mitgeteilt" wurden. oder auch wenn immer gesagt wird: "dein vater hatte es als kind auch ganz schwer" - oder: "unser oma schleppt da noch einiges mit von zuhause"...

dann sollten wir hellhörig werden und anfangen zu forschen und zu graben in der eigenen familienarchäologie. und die ersten anhaltspunke sind dann oft die eigenen "macken" oder "blinden flecke", denen man auf den grund gehen kann, indem man sein eigenes "inneres kind" in sich aufsucht - und die licht- und schattenseiten davon betrachtet und erarbeitet, indem man in sich hineinhört und in den inneren "dialog" tritt.

übrigens halte ich die durchaus in der psychologie (z.b. c.g.jung) verwendeten begriffe von "licht & schatten" für weniger semantisch belastet als das "helle" und "dunkle" kind in einem, was dann schnell assoziationen zu hautfarben auslösen kann.


das gefühlserbteil

Soweit ich mich zurückerinnere, fühle ich eine Schwere in mir. Eine Traurigkeit, die schon immer Teil von mir ist, sich gleichzeitig anfühlt, als gehöre sie gar nicht zu mir,
als sei sie mir auferlegt worden. Eine dunkle Melancholie, die nicht greifbar ist und mich vom Leben zurückhält, es manchmal kaum ertragbar macht.

das sind sehr selbstehrliche und tiefreichende zeilen der autorin lilli heinemann aus einem bericht über die "dunklen seiten" in ihrer familiengeschichte - abgedruckt im  "ZEIT-MAGAZIN" 27/2019 vom 27.06.2019:

aus: ZEIT-MAGAZIN | 27/2019 | vom 27.06.2019 | S. 27

frau heinemann beschreibt ausführlich und authentisch, wie sie die dunklen wolken innerhalb ihres geteilten mehrpersonalen familienverbandes immer mal wieder einholten und belasteten - dieses "stille erbe", diese erbschaft von gefühlen - von gefühlen, die die jeweiligen altvorderen zumeist unbewusst oft als reflex und hilfe entwickelten, um erlebte persönliche katastrophen zu bewältigen, zu überwinden oder auch nur zu verdrängen - und die nun epigenetisch in der nachkommenschaft über mehrere generationen mehr oder weniger stark ausgebildet oder gar zyklisch weitergereicht oder "abgeguckt" und "abgespürt" wurden mit den dafür hoch sensibilisierten antennen im heranreifen.

mit hilfe ihres berichts über die von ihr recherchierten tatsächlichen traumatischen ereignisse besonders auch im leben ihres großvaters kurz nach ende des krieges hat frau heinemann diese belastungen bearbeitet und tatsächlich damit eine ent-lastung erfahren, eine verarbeitung durch einordnung und durch die allmähliche offenlegung dieser familientabus mit allmählicher integration und bewältigung.

gerade "wir deutschen" - aber auch sicherlich all die "aus"-länder, die am schrecken des krieges miteinbezogen wurden - haben sich wahrscheinlich alle mehr oder weniger in ihren beteiligten familiengeschichten mit solchen "dunklen aspekten" bewusst oder unbewusst auseinanderzusetzen. das problem ist, dass durch verschweigen, durch scham - und schlicht aus unwissenheit und unsensibilität - es oft zu einer vernünftigen aufarbeitung der eigenen herkunfts-familiengeschichte durch schonungslose recherche erst gar nicht kommt.

ich habe von einem gestalttherapeuten vor jahren bereits seine definition des wortes: "ge-schichte" gehört: ge-schichte ist das - wie das wort schon andeutet - in uns aufgetürmte, ge-schichtete selbst erfahrene und überkommene, vererbte, weitergegebene, erspürte erleben in uns, das sich als ureigene "erfahrung" wie jahresringe über- und durcheinander "schichtet" und uns individuell prägt und unser verhalten bestimmt - "bis ins 3. und 4. generationsglied" - wie die bibel in 2. mose 20 feststellt - eine zeitspanne, die in psychologischen studien zur "trans-generationalen übertragung" in den heutigen zeiten voll bestätigt wird (click = bundestags-drucksache der 'wissenschaftlichen dienste' zu diesem thema). 

und genauso gibt es diesen begriff für "ge-schichte" sicherlich auch für länder und nationen und regionen, der sich immer aus den individuellen erleben und erfahren seiner bewohner zusammenpuzzelt und speist.

wir operieren mit solchen hehren begriffen wie "nationalstolz" und "national-bewusstsein" und "nationale identität" in den narrativen unserer alltäglichen diskurse - und diese begriffsumschreibungen sind ja nur abgeleitet und übertragen von innerpsychisch spezifischen emotionalen individual-persönlichen empfindungen, denn "eine nation" als ein unpersönliches abstraktes gebilde und eher geografisch-politisches hilfskonstrukt kann nicht stolz sein - oder tatsächlich ein bewusstsein entwickeln - und auch keine quasi persönliche identität ausbilden. 

aber schon in der bibel wird die "gemeinde", die gemeinschaft mit einem "leib" verglichen: "denkt zum vergleich an den ´menschlichen` körper! er stellt eine einheit dar, die aus vielen teilen besteht; oder andersherum betrachtet: er setzt sich aus vielen teilen zusammen, die alle miteinander ein zusammenhängendes ganzes bilden"... heißt es in 1. kor. 12 in der neuen genfer übersetzung.

das fühlen, denken und das daraus resultierende jeweilige handeln sind aufeinanderbezogene aspekte von körper, geist und seele, die in diesen reflexiven abläufen als eine "einheit" funktionieren.

dieser begriff der "nation" oder der gesellschaft/gemeinschaft - also um in dem biblischen gleichnis zu bleiben: des "leibes" - setzt sich aus seinen "teilen", seinen "gliedern", den bewohnern, zusammen. und wenn alle bewohner in ihrem bewusstsein zu ganz bestimmten ge-schichts-epochen blinde flecken im inneren wissen und erspüren aufweisen und sich in "verschweigen" und "ignorieren" üben oder von einer posttraumatischen belastung bestimmt werden, dann ist das in der summe im lande "draußen" sicherlich ebenso.

und ich behaupte inzwischen, dass die zerrissenheit im bewusstsein der menschen hier, 30 jahre nach dem mauerfall, auch auf solche "blinden flecken" und bewussten oder unbewussten verdrängungen in den jeweiligen familienbiografien zurückzuführen sind: in ost und in west gleichermaßen, denn das aufgepfropfte und aus weltmarkt-ökonomisch neo-liberalen gründen gesponserte "wirtschaftswunder" im westen und die ebenso aufgepfropften das vakuum füllenden "sozialistischen staats-eskapaden" im osten erstickten - auch "von oben" gewollt ("der rubel musste ja rollen") - einen notwendigen individuellen "kassensturz" in den einzelnen herkunfts-familien und damit eine kollektive "aufrechnung" all der verstricktheiten und der schuld oder eine befreiung der unterdrückten opferrolle auch in den regionen und nationen.

und das führt dann zu den extremistischen weil unbearbeiteten entgleisungen - z.b. der raf, des nsu und der einzel(?)-attentäter und -mörder wie breivik in norwegen und jetzt stephan ernst in kassel - und zu dem herumschwadronieren von unreflektiertem rechten getöse im politischen alltag. 

um mit lebensfreude, spontaneität und enthusiasmus im „hier und jetzt" zu leben, ist es notwendig, diese z.b. von der gestalttherapie so genannten „unerledigten geschäfte" (fritz perls) schonungslos aufzuarbeiten, um damit (im übertragenen sinn) offene "rechnungen" und nichtbearbeitete ereignisse endlich abzuschliessen und "abzurunden" - und so zu bearbeiten und zu integrieren und positiv zu "verdauen", sich zu befreien von der last.

der familienbericht von frau heinemann unterstreicht da die fähigkeit jeder person bei sich selbst und in den familien - und damit auch in den ländern - zur "selbstheilung" - zu dieser ent-lastung und be-freiung, wobei körper, geist und gefühle, die sich im "leib" aus verschiedenen quellen reproduzieren, zur einübung einer "ver-änderung" genutzt werden können.

so wird dem wahrgenommenen "un-wohlsein" eine antwort entgegengesetzt: man übernimmt "ver-antwort-ung" für sich, für die familie, für die gesellschaft.


wir machen uns auf die suche, wie wir uns selbst beim erkennen und verwirklichen eigener lebensziele im wege stehen und erfahren uns schließlich selbst, als brücke und dem "weg hindurch": vom aktuellen sein zu dem zu werden „der wir wirklich sind", um ver-antwort-ung für ein selbstbestimmtes, glücklicheres leben zu übernehmen.

und persönliches und "(inter)nationales" gesellschaftliches wachstum ist wohl hier das richtigere wort für eine solche entwicklung und einen solchen "fort-schritt" - anstatt therapie ...




den aufsatz dazu von 

familiengeheimnisse & transgenerationale weitergabe: miriam gebhardt

auf meiner website beschäftige ich mich ja auch auf seiten mit dem phänomen "familiengeheimnisse" bzw. "transgenerationale weitergabe" - traumata-erlebnisse wie z.b. holocaust, genozid, nazi-'euthanasie', vergewaltigungen, katastrophen, identitätsverluste, verlust von nächsten angehörigen usw., die manchmal auch unbewusst "bis ins 3. und 4. glied", wie die bibel das schon wusste, weitergegeben und zumindest als disposition oder als "kleine macke" regelrecht "vererbt" werden können. 

hier nun in einem ttt-beitrag der ard spricht die historikerin und autorin miriam gebhardt sogar von "feinstofflichen" genetischen dispositionen und weitergaben: der bericht endet sinngemäß mit dem satz: auch über 70 jahre danach ist der 2. weltkrieg noch längst nicht überwunden...

video-still: click here