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Neuerscheinung
Mörderisches Kammerspiel
Ein Comic begibt sich auf die Spuren der Wannseekonferenz, bei der hochrangige Nazis die industrielle Vernichtung der europäischen Juden planten.
Von Oliver Seifert
Die Lage: mondän, die Kulisse: eindrucksvoll, der Wein: exquisit, die Speisen: üppig, die Zimmer: fein herausgeputzt, nur etwas sehr kalt ist es an diesem 20. Januar 1942. In der herrschaftlichen Villa am Berliner Wannsee ist alles bestens vorbereitet für die Besprechung. Während ein Großteil der geladenen Gäste bereits angeregt plaudert, schneit der Konferenzleiter gerade noch rechtzeitig herein. Er kommt mit Flugzeug aus Prag.
Der französische Comiczeichner und -autor Fabrice Le Hénanff schaut bei seiner „Wannsee"-Version genau hin. - Abbildungen: © Fabrice Le Hénanff/Knesebeck |
Anderthalb Stunden für die geplante industrielle Vernichtung von elf Millionen Menschen
Der Grund: Fünfzehn hochrangige Nationalsozialisten unter ihnen Reinhard Heydrich, Adolf Eichmann und Rudolf Freisler besprechen die Organisation und Koordination des Genozids an den Juden. Anderthalb Stunden. Mehr Zeit ist nicht für elf Millionen Menschen und deren industrielle Vernichtung.
Ein mörderisches Kammerspiel mit peniblen Technokraten als Hauptdarstellern, die sich an ihrem logistischen Meisterstück versuchen. Auf die sogenannte Wannseekonferenz folgen zwei weitere Konferenzen im März und Oktober für offen gebliebene Fragen. Was Adolf Hitler in seiner Reichstagsrede 1939 das erste Mal ankündigte, „die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa", wird nun eifrig und führerhörig vollendet.
Es sind erschreckend harmlos wirkende, rotbäckige Massenmörder
Der französische Comiczeichner und -autor Fabrice Le Hénanff schaut bei seiner „Wannsee"-Version genau hin in detaillierten Darstellungen und matten, dunklen Farben. Seine Protagonisten tragen fast freundliche, sympathische Gesichtszüge. Es sind erschreckend harmlos wirkende, rotbäckige Massenmörder, die bei ihrem nie dagewesenen verbrecherischen Großprojekt mit eiskalter, bürokratischer Sachlichkeit in Inhalt und Sprache darüber befinden, wer alles Jude ist, wer davon noch zum Arbeitsdienst taugt, welche zahlenmäßigen Erfolge neue Tötungsmethoden (Vergasung!) bringen oder wo überhaupt zuerst „aufgeräumt" und „gesäubert" werden soll.
Stellt etwa der New Yorker Art Spiegelman in seinem „Maus"-Comic die Opfer ins Zentrum (am Beispiel seines Vaters), so wagt sich Le Hénanff an die Perspektive der Täter. Der Holocaust ist bei ihm, Anfang 1942, noch megalomaner Plan, die Leichenberge vom Massaker in Babi Jar einige Monate zuvor mit mehr als 3.0000 Erschossenen sind Vorboten und Gegenstand einer Besprechungspause.
Der„Wannsee"-Comic setzt auf einen dokumentarischen Stil
Alliierte Kunst: Wenn der französische Zeichner die tödliche Jagd einer Katze auf eine Maus (bei ihm fast eine Ratte) im vertikalen Raster hineinmontiert, als gerade die Nazi-Elite voll widerlicher Vorfreude den teuflischen Pakt beschließt, ist es gleichzeitig ein Verweis auf den US-amerikanischen Kollegen, in dessen Werk (als Fabel) die Juden als Mäuse und die Deutschen als Katzen dargestellt sind.
Statt maximaler Verfremdung setzt der„Wannsee"-Comic auf einen dokumentarischen Stil, der in düsterer Kolorierung eine apokalyptische Stimmung erzeugt. Wie auf alten Fotos wechselt die Qualität der Abbildungen, mal besser, mal deutlich unscharf, schemenhaft und ziemlich verblasst.
Im trüben Licht sind schablonenhafte, sehr austauschbare Nazi-Granden zu sehen
Der ungenaue Blick auf eine nicht bis ins letzte Detail rekonstruierbare Veranstaltung (nur ein originales Besprechungsprotokoll ist erhalten) wird durch gelblich-grünstichiges, fleckiges Aquarellieren und flächiges, vertikales Schraffieren erzeugt. Im trüben Licht sind so manchmal schablonenhafte, kaum unterscheidbare und damit sehr austauschbare Nazi-Granden zu sehen.
Im ästhetischen Bezug auf den Film „Conspiracy" von 2001 (auf Deutsch „Die Wannseekonferenz"), im Nachwort hingewiesen, als Quelle angegeben, wird allerdings auch inhaltlich eine kritische Haltung des Konferenzteilnehmers Friedrich Wilhelm Kritzinger übernommen, die bis heute unbelegt bleibt. Wie im Film sind auch im Comic die Dialoge rekonstruiert, denn es gibt einfach keine Dokumente über die wortwörtlichen Aussagen der geladenen Schreibtischtäter. Manch aufgegriffene Sachverhalt des Treffens bleibt Spekulation.
Fünf Millionen Juden kostete der Holocaust das Leben. Was aus den daran beteiligten fünfzehn Nazis wurde, zeigen die Kurzbiografien am Ende des Comics. Als Kriegsverbrecher wurden drei hingerichtet. Wegen der Teilnahme an der streng geheimen Wannseekonferenz kam es zu keiner Verurteilung.
Fabice Le Hénanff am Bildtisch - Foto: liguedefensejuive.com - ldj
Fabrice Le Hénanff:
Wannsee, 88 S.,
Knesebeck Verlag,
München 2019, 24 Euro
Text: NEUE WESTFÄLISCHE click here
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ich finde, die bezeichnung "wannsee-comic" für dieses werk geradezu despektierlich. hierfür würde ich die einordnung als "graphic-novel" mal einmal nicht zu sperrig und durchaus angemessen empfinden.
denn fabrice le hénanff hat ja neben den 15 wannsee-konferenz-teilnehmern, von denen es nicht immer authentische bildvorlagen gab, auch noch das "protokoll", den wortlaut und den ablauf dieser streng geheimen sitzung mitrekonstruieren müssen.
und er hat gerade diesen verschwiegenen düsteren charakter der mörderischen performance in seinem grafik-stil versucht einzufangen: mit düsteren sepia-halbtönen und schattenrissen im schummrigen gegenlicht.
das hat le hénanff nun aber nicht überzeichnet ins unwirkliche, ins unrealistisch traumhafte, sondern es hat unsere kollektive vorstellung von dem, was damals wohl abging, gut getroffen.
es war ja eine geheime konferenz, von der nichts nach außen dringen sollte: der beschluss, die europäischen juden gänzlich "niederzuführen" und "auszurotten", und dazu die industriell organisierten arbeitsteiligen ausführungs-abläufe der vergasung und vergiftung auch so stickum zu installieren, dass noch jahrzehnte später zeitzeugen allen ernstes behaupten konnten, davon hätten sie nichts geahnt und nichts gewusst.
und doch hatte man ja bereits von 1939-1941 die vernichtung von "unbrauchbaren" behinderten menschen im zuge des "gnadentod-erlasses", also der sogenannten "euthanasie", über 70.000 mal in 6 eigens dafür eingerichteten vernichtungsanstalten im reichsgebiet hinter sich und entsprechende erfahrungen gesammelt und festgehalten und ausgetauscht, und man wusste durch diesen "probelauf" ja bereits, wie man arbeitsteilig kleinteilig fragmentiert - step by step - und doch rasch und massenhaft im kollektiv ohne späteren einzeltäter-nachweis töten kann.
und die ns-euthanasie-morde gingen nach ihrer "vom führer" befohlenen "offiziellen" schein-einstellung auf lokaler ebene dezentral organisiert, aber mit dem alten zentral-know-how aus berlin, munter weiter: ebenso stickum - und deshalb zumeist in mordanstalten auf okkupierten gebieten z.b. in polen, abseits vom main-stream, so dass es nur noch gerüchteweise als ein "horror-vertelleken" weitergetragen werden konnte.
diese "öffentlich geahnte geheimhaltung" hat le hénanff mit seinem mehrfach überarbeiten illustrations-stil in seiner "wannsee-konferenz", die 1942 stattfand, gut getroffen - und mangels authentischerem bildmaterial nach fast 80 jahren auch gut "in szene" gesetzt.
man sollte für den geschichts-unterricht in schulen "klassensätze" dieser "graphic-novel" anschaffen, um den schülern heutzutage diese verlogene und verhuschte mörderische zeit in ihrer verschwiegenheit und in ihrer ungeheuerlichkeit ganz nahe zu bringen - besonders auch in ihrer mörderischen umsetzung.
sie müssen darin nicht besonders geschont werden - denn durch die "baller-spiele" auf ihrem smartphone sind sie ja bereits einiges "gewohnt"... - sie müssen nur "be-greifen" lernen, dass das was da in der "wannsee-konferenz" beschlossen wurde, kein spiel war, sondern dass es damals um's echte leben und um den echten massenmord ging - auch vielleicht der nachbarn ihrer urgroßeltern von nebenan oder von verwandten als opfer - oder aber auch den befehlszwängen, unter denen uropa oder uroma vor 80 jahren die wannsee-beschlüsse umsetzen mussten - und sich hinterher so merkwürdig ausschwiegen zu dieser zeit...
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