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die interne auseinandersetzung mit dem "frieden" nach einem verheerenden krieg

Zeitungs-Schlagzeilen vom 08.Mai 1945
„Eine große Zäsur, aber keine Stunde Null“

Der Historiker Daniel Siemens über das Endes des Weltkrieges vor 75 Jahren, wie eine moderne Gedenkkultur aussehen könnte und warum es so schwer ist, aus der Geschichte zu lernen. Der 8. Mai sollte in Deutschland zu keinem Feiertag werden. Der aus Bielefeld stammende Historiker Daniel Siemens lehrt und forscht an der Universität von Newcastle. 

Herr Siemens, was geht uns das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren heute noch an?

Daniel Siemens: Für die allermeisten Menschen ist das zunächst einmal ein historisches Datum und nichts, was man noch aus eigenem Erleben kennt. Dennoch ist es nach wie vor sehr wichtig für die politische Kultur dieses Landes. An das unermessliche Leid, die 60 Millionen Toten des Zweiten Krieges, dem Holocaust und die deutsche Verantwortung zu erinnern, bleibt zentral. Das Ende des Krieges ist ein für die Geschichte des 20. Jahrhunderts bedeutender Einschnitt, der übrigens auch positive Seiten hatte.

Wie meinen Sie das?

Siemens: Damals wurden ja tatsächlich Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen. Es galt, eine dauerhafte Friedensarchitektur zu schaffen, also durch internationale Kooperationen weitere weltumspannende Kriege in Zukunft nach Möglichkeit zu verhindern. In diesem Sinne könnte man am 8. Mai auch an diese optimistische Phase des Neubeginns erinnern, etwa die Gründung der Vereinten Nationen im Juni 1945. Aus diesem Geist sind dann später noch viele weitere internationale Organisationen entstanden, etwa der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Aus meiner Sicht ein Weg, auf dem die Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts recht gut unterwegs gewesen ist.

Nun scheint aber das Zeitalter der globalen Kooperationen gerade zu verblassen, wenn nicht gar zu enden?

Siemens: Es sieht tatsächlich so aus, als ob hier gerade etwas in die Brüche geht. Aber noch sitzen die USA, China, Russland und die anderen Vetomächte im Sicherheitsrat der UN gemeinsam an einem Tisch. Was auch immer man über diese Art der Weltregierung denkt, es ist jedenfalls eine Ordnung, die unmittelbar mit dem Kriegsende vor 75 Jahren zusammenhängt. 1945 war eine große Zäsur für die Welt, wenn auch keine Stunde Null.

Warum war der 8. Mai keine Stunde Null, wie oft behauptet wird?

Siemens: Obwohl das Ende des Zweiten Weltkrieges in vielen Ländern tiefe Einschnitte zur Folge hatte, haben die Menschen natürlich nicht einfach ihre Einstellungen, weder ihre guten noch ihre schlechten, über Bord geworfen. Wie sollten sie auch? Von einer Stunde Null im Sinne von Tabula rasa, einem Neubeginn ohne die Prägungen der Vergangenheit, kann daher keine Rede sein.

Die deutsche Erinnerungskultur, die spät, aber dann sehr intensiv Fahrt aufnahm, gilt vielen heute als vorbildlich. Wie bewerten Sie diese?

Siemens: Nach der bedingungslosen Kapitulation war klar, dass die Deutschen ihre Handlungsmacht weitgehend eingebüßt hatten und zudem durch die Verbrechen des NS-Regimes schwer kompromittiert waren. Wollte man international Respektabilität zurückgewinnen, musste man sich dieser Situation stellen und etwa materielle Wiedergutmachung leisten. Westdeutschland bemühte sich daher seit den frühen 1950er Jahren um einen Ausgleich mit Israel und jüdischen Organisationen wie der Claims Conference. In Ostdeutschland galt das Hauptaugenmerk fast ausschließlich den politisch Verfolgten, etwa den von den Nazis verfolgten Kommunisten. Moralische Erwägungen standen anfangs deutlich weniger im Vordergrund bei der Überlegung, sich der Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust zu stellen. Das änderte sich erst mit der nächsten Generation, die die Frage der moralischen Schuld annahm, intensiv in den Fokus rückte und die deutsche Erinnerungskultur fortan prägen sollte.

Wie vorbildhaft ist diese?

Siemens: Ich finde, das ist eine Frage, die – wenn überhaupt – Menschen anderer Länder beurteilen sollen. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Generation der Kinder und Enkel der NS-Täter sich diese Frage der moralischen Schuld tatsächlich intensiv angenommen hat. Der deutsche Philosoph Karl Jaspers hatte dies schon unmittelbar nach Kriegsende gefordert, fand damit aber zunächst wenig Gehör. Offenbar ist etwas zeitlicher Abstand nötig, um kritisches Erinnern in Gang zu bringen.

In den vergangenen Jahren ist die Forderung nach einem Schlussstrich unter der Auseinandersetzung mit den Themen Zweiter Weltkrieg, Holocaust und NS-Regime immer lauter geworden und hat durch die AfD neuen Auftrieb erfahren. Muss wirklich mal Schluss sein nach 75 Jahren im Büßergewand, wie manche fordern?

Siemens: Die meisten, die heute so argumentieren, haben das Büßergewand nie getragen. Das ist zunächst einfach mal eine politische Behauptung zu politischen Zwecken. In diesem Diskurs geht es gar nicht um das Gedenken an die Vergangenheit. Vielmehr ist es ein kalkulierter Angriff auf einen Grundpfeiler der bundesdeutschen Demokratie. Über Formen des Gedenkens kann man natürlich streiten – aber nicht alle sind dazu gleichermaßen legitimiert.

Wie kann denn die Erinnerung lebendig gehalten werden, denn mit jedem Jahr rückt sie ein Stück weiter weg von uns?

Stolperstein Erna Kronshage
Siemens: Wir müssen uns in der Tat Gedanken darüber machen, wie sich jede Generation neu mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzen kann. Die Muster der vorhergehenden Generationen sind nicht für alle Zeit in Stein gemeißelt. Wenn heute junge Leute sagen, die Art und Weise, wie wir der NS-Vergangenheit gedenken, das sagt mir nichts mehr, dann liegt darin auch eine Chance, über neue Wege der Vermittlung nachzudenken. Da heißt aber eben nicht, einen Schlussstrich zu ziehen.

Wie kann Erinnerung heute aussehen?

Siemens: Das Herausgreifen von Einzelschicksalen ist eine sehr gute Methode, um Menschen die NS-Verbrechen, aber auch die politische und moralische Ordnung, die diese Verbrechen hervorgebracht hat, nahezubringen. So wird Geschichte anschaulich und bleibt nicht abstrakt. Wichtig ist es aus meiner Sicht aber auch, den internationalen Jugendaustausch stärker zu intensivieren. Menschen mit unterschiedlichen Vorprägungen über die Vergangenheit miteinander in Gespräche zu verwickeln, ist ein sehr taugliches Mittel, um das Gedenken auf europäischer Ebene lebendig zu halten und über unterschiedliche Sichtweisen und Standpunkte zu debattieren.

Sollte der 8. Mai, der Tag der Befreiung, hierzulande zum Feiertag erklärt werden, um ihn stärker ins Bewusstsein zu rücken?

Siemens: Auch wegen der Ambivalenz dieses Datums denke ich nicht, dass wir diesen Tag zum Feiertag erklären sollten. Über das Kriegsende und das Ende der NS-Herrschaft kann man auch ohne Feiertag nachdenken.

Wenn wir Erinnerungstage wie den 8. Mai begehen, dann schwingt immer auch die Hoffnung mit, dass wir Menschen aus der Geschichte etwas lernen. Geht das überhaupt?

Siemens: Natürlich ist der Mensch lernfähig, sonst gäbe es zum Beispiel überhaupt keine Wissenschaften. Daher können Menschen natürlich auch aus der Geschichte lernen, aber eben nicht im Sinne einer konkreten Handlungsanweisung. Die Analyse der Vergangenheit stellt uns allenfalls Argumente bereit, die wir daraufhin überprüfen können, ob sie für uns in unserer aktuellen Situation hilfreich sein könnten. Aber die Entscheidung selbst, welche Wege wir einschlagen, kann uns die Geschichte niemals abnehmen.

Obwohl der Holocaust von diesem Land ausging und es die schon erwähnte starke Erinnerungskultur gibt, erleben wir seit einigen Jahren einen wiedererstarkenden Antisemitismus. Wie erklären Sie sich das?

Siemens: Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Antisemitismus zuletzt wirklich angewachsen ist. Der war ja auch in Jahrzehnten zuvor virulent. Ich habe eher den Eindruck, dass jetzt manche beginnen, beflügelt durch den Aufstieg der Rechtspopulisten, ihre antisemitischen Einstellungen offener zu äußern. Man sollte hier keine falschen Hoffnungen haben: Egal wie viel Aufklärungs- und Bildungsarbeit wir betreiben, es wird auch in Zukunft Menschen mit antisemitischen und rechtsradikalen Einstellungen geben. Es muss darum gehen, dass diese Menschen den gesellschaftlichen Diskurs in Deutschland nicht bestimmen dürfen. Das ist der Gedanke der „wehrhaften Demokratie“. Toleranz ist wahrlich nicht angesagt in der Auseinandersetzung mit Rechtsradikalen und Antisemiten.

Ist das Ende des Zweiten Weltkrieges ein Ereignis, das für immer zentral sein wird?

Siemens: Historiker sind meist schlechte Prognostiker. Dennoch: Auch in Hunderten von Jahren werden der Zweite Weltkrieg und der Holocaust noch zentrale Ereignisse der Menschheitsgeschichte sein. Diese Ereignisse sind viel zu groß, als dass wir je mit ihnen ganz fertig werden könnten.

Das Interview führte Stefan Brams | NEUE WESTFÄLISCHE
aus: NW, 06.Mai 2020, Seite 3

Zur Person 
Daniel Siemens, geboren 1975 in Bielefeld, ist seit 2017 Professor für Europäische Geschichte an der Universität von Newcastle in Großbritannien. 
Auf deutsch erschien von ihm zuletzt das Buch „Sturmabteilung. Die Geschichte der SA“ (Siedler Verlag, München, 2019, 592 S.). 
Aktuell arbeitet Siemens an einer Biografie des Journalisten Hermann Budzislawski sowie an der Geschichte der United Restitution Organization (URO), einer nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten jüdischen Rechtsschutzorganisation für Opfer des Holocausts und ihrer Angehörigen.
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jede generation wird ihre geschichten erzählen oder denken müssen zum 2. weltkrieg. mit seinen verwüstungen und massenmorden und seinem verantwortungslosen beginn und seinem erbärmlichen ende. und den folgen mit den historischen umwälzungen in der welt - mit den neuordnungen, vertreibungen, flucht, ansiedlungen, urbarmachungen - und all den "neuen ufern", die so ein tiefgreifendes umpflügen alles bisher dagewesenen im (er)leben mit sich bringt.

und jede generation wird sich auf ihre art & weise erinnern und erzählen - oder auch schweigen, weil es ihr die sprache verschlagen hat - aber es dann in ihren herzen bewegen müssen.

jede generation wir sich stellen müssen, wird stellung beziehen müssen zu diesem komplexen konglomerat aus nationalistischen verirrungen, blut & boden denken, herrisches rassedenken (..."über alles in der welt..."), dem "ausmerzen" der weniger leistungsfähgigen und kranken als "ballastexistenzen", dem verleumden und denunzieren und anschwärzen des "andersdenkenden" von nebenan - aber auch die verstrickung der eigenen familie in all dem wust von aspekten, die diese ereignisse mit sich brachten und bringen - "bis ins 3. und 4. glied", wie es die bibel in der übersetzung luthers formuliert - und was die modernen psychodynamischen forschungen auch der transgenerationalen weitergabe und übertragung traumatischer erfahrungen über die generationen voll bestätigt.

also mit dem 8. mai 1945 war zwar historisch der krieg zu ende, aber in den generationen setzt er sich jeweils in irgendeiner weise fort in der verarbeitung, in den schrecken, in den (tag)träumen, in den ängsten, in den späten rechtfertigungen.

bei aller verdrängung ist also irgendwie doch jede und jeder mit der eigenen familiengeschichte mitbeteiligt. und für alle "war da was", was nach worten und begriffen und stellungnahmen und "haltung" ringt, schon zur eigenen psychosomatischen prophylaxe - vergleichbar vielleicht aktuell in der corona-pandemie mit einer virtuell anzulegenden innerpsychischen "mund-/nasenmaske" zum schutz - im erwachsen einer ureigenen haltung im leben mit all den innerpsychischen kriegsfolgen und -verarbeitungen - in der eigenen person und in der familie - in der gesellschaft - ein jeglicher nach seiner art & weise ...

wannsee - graphic novel

Einzelbilder aus der Graphic-Novel - JLT ® - ligne claire - click


Neuerscheinung

Mörderisches Kammerspiel

Ein Comic begibt sich auf die Spuren der Wannseekonferenz, bei der hochrangige Nazis die industrielle Vernichtung der europäischen Juden planten.

Von  Oliver Seifert

Die Lage: mondän, die Kulisse: eindrucksvoll, der Wein: exquisit, die Speisen: üppig, die Zimmer: fein herausgeputzt, nur etwas sehr kalt ist es an diesem 20. Januar 1942. In der herrschaftlichen Villa am Berliner Wannsee ist alles bestens vorbereitet für die Besprechung. Während ein Großteil der geladenen Gäste bereits angeregt plaudert, schneit der Konferenzleiter gerade noch rechtzeitig herein. Er kommt mit Flugzeug aus Prag.
Der französische Comiczeichner
und -autor Fabrice Le Hénanff
schaut bei seiner „Wannsee"-Version genau hin. -
Abbildungen: © Fabrice Le Hénanff/Knesebeck
Was an der auserwählten Männerrunde irritiert, sind anfangs vielleicht die Uniformen, dann die Inhalte der lockeren Gespräche, die vor derben Scherzen nicht halt machen. Als plötzlich die „Endlösung der Judenfrage" ins Spiel kommt, fast beiläufig anfangs, ist klar, dass dieses Treffen eine fatale Dimension besitzt. Es gilt absolute Verschwiegenheit! Die Konferenz hat niemals stattgefunden! Die Bänder des Stenografen sowie die Sitzungsprotokolle sind zu vernichten!

Anderthalb Stunden für die geplante industrielle Vernichtung von elf Millionen Menschen
Der Grund: Fünfzehn hochrangige Nationalsozialisten unter ihnen Reinhard Heydrich, Adolf Eichmann und Rudolf Freisler besprechen die Organisation und Koordination des Genozids an den Juden. Anderthalb Stunden. Mehr Zeit ist nicht für elf Millionen Menschen und deren industrielle Vernichtung.

Ein mörderisches Kammerspiel mit peniblen Technokraten als Hauptdarstellern, die sich an ihrem logistischen Meisterstück versuchen. Auf die sogenannte Wannseekonferenz folgen zwei weitere Konferenzen im März und Oktober für offen gebliebene Fragen. Was Adolf Hitler in seiner Reichstagsrede 1939 das erste Mal ankündigte, „die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa", wird nun eifrig und führerhörig vollendet.

Es sind erschreckend harmlos wirkende, rotbäckige Massenmörder

Der französische Comiczeichner und -autor Fabrice Le Hénanff schaut bei seiner „Wannsee"-Version genau hin in detaillierten Darstellungen und matten, dunklen Farben. Seine Protagonisten tragen fast freundliche, sympathische Gesichtszüge. Es sind erschreckend harmlos wirkende, rotbäckige Massenmörder, die bei ihrem nie dagewesenen verbrecherischen Großprojekt mit eiskalter, bürokratischer Sachlichkeit in Inhalt und Sprache darüber befinden, wer alles Jude ist, wer davon noch zum Arbeitsdienst taugt, welche zahlenmäßigen Erfolge neue Tötungsmethoden (Vergasung!) bringen oder wo überhaupt zuerst „aufgeräumt" und „gesäubert" werden soll.

Stellt etwa der New Yorker Art Spiegelman in seinem „Maus"-Comic die Opfer ins Zentrum (am Beispiel seines Vaters), so wagt sich Le Hénanff an die Perspektive der Täter. Der Holocaust ist bei ihm, Anfang 1942, noch megalomaner Plan, die Leichenberge vom Massaker in Babi Jar einige Monate zuvor mit mehr als 3.0000 Erschossenen sind Vorboten und Gegenstand einer Besprechungspause.

Der„Wannsee"-Comic setzt auf einen dokumentarischen Stil

Alliierte Kunst: Wenn der französische Zeichner die tödliche Jagd einer Katze auf eine Maus (bei ihm fast eine Ratte) im vertikalen Raster hineinmontiert, als gerade die Nazi-Elite voll widerlicher Vorfreude den teuflischen Pakt beschließt, ist es gleichzeitig ein Verweis auf den US-amerikanischen Kollegen, in dessen Werk (als Fabel) die Juden als Mäuse und die Deutschen als Katzen dargestellt sind.

Statt maximaler Verfremdung setzt der„Wannsee"-Comic auf einen dokumentarischen Stil, der in düsterer Kolorierung eine apokalyptische Stimmung erzeugt. Wie auf alten Fotos wechselt die Qualität der Abbildungen, mal besser, mal deutlich unscharf, schemenhaft und ziemlich verblasst.

Im trüben Licht sind schablonenhafte, sehr austauschbare Nazi-Granden zu sehen
Der ungenaue Blick auf eine nicht bis ins letzte Detail rekonstruierbare Veranstaltung (nur ein originales Besprechungsprotokoll ist erhalten) wird durch gelblich-grünstichiges, fleckiges Aquarellieren und flächiges, vertikales Schraffieren erzeugt. Im trüben Licht sind so manchmal schablonenhafte, kaum unterscheidbare und damit sehr austauschbare Nazi-Granden zu sehen.

Im ästhetischen Bezug auf den Film „Conspiracy" von 2001 (auf Deutsch „Die Wannseekonferenz"), im Nachwort hingewiesen, als Quelle angegeben, wird allerdings auch inhaltlich eine kritische Haltung des Konferenzteilnehmers Friedrich Wilhelm Kritzinger übernommen, die bis heute unbelegt bleibt. Wie im Film sind auch im Comic die Dialoge rekonstruiert, denn es gibt einfach keine Dokumente über die wortwörtlichen Aussagen der geladenen Schreibtischtäter. Manch aufgegriffene Sachverhalt des Treffens bleibt Spekulation.

Fünf Millionen Juden kostete der Holocaust das Leben. Was aus den daran beteiligten fünfzehn Nazis wurde, zeigen die Kurzbiografien am Ende des Comics. Als Kriegsverbrecher wurden drei hingerichtet. Wegen der Teilnahme an der streng geheimen Wannseekonferenz kam es zu keiner Verurteilung.
Fabice Le Hénanff am Bildtisch - Foto: liguedefensejuive.com - ldj


Fabrice Le Hénanff: 
Wannsee, 88 S., 
Knesebeck Verlag,
München 2019, 24 Euro
Text: NEUE WESTFÄLISCHE click here








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ich finde, die bezeichnung "wannsee-comic" für dieses werk geradezu despektierlich. hierfür würde ich die einordnung als "graphic-novel" mal einmal nicht zu sperrig und durchaus angemessen empfinden.

denn fabrice le hénanff hat ja neben den 15 wannsee-konferenz-teilnehmern, von denen es nicht immer authentische bildvorlagen gab, auch noch das "protokoll", den wortlaut und den ablauf dieser streng geheimen sitzung mitrekonstruieren müssen.

und er hat gerade diesen verschwiegenen düsteren charakter der mörderischen performance in seinem grafik-stil versucht einzufangen: mit düsteren sepia-halbtönen und schattenrissen im schummrigen gegenlicht.

das hat le hénanff nun aber nicht überzeichnet ins unwirkliche, ins unrealistisch traumhafte, sondern es hat unsere kollektive vorstellung von dem, was damals wohl abging, gut getroffen.

es war ja eine geheime konferenz, von der nichts nach außen dringen sollte: der beschluss, die europäischen juden gänzlich "niederzuführen" und "auszurotten", und dazu die industriell organisierten arbeitsteiligen ausführungs-abläufe der vergasung und vergiftung auch so stickum zu installieren, dass noch jahrzehnte später zeitzeugen allen ernstes behaupten konnten, davon hätten sie nichts geahnt und nichts gewusst.

und doch hatte man ja bereits von 1939-1941 die vernichtung von "unbrauchbaren" behinderten menschen im zuge des "gnadentod-erlasses", also der sogenannten "euthanasie", über 70.000 mal in 6 eigens dafür eingerichteten vernichtungsanstalten im reichsgebiet hinter sich und entsprechende erfahrungen gesammelt und festgehalten und ausgetauscht, und man wusste durch diesen "probelauf" ja bereits, wie man arbeitsteilig kleinteilig fragmentiert - step by step - und doch rasch und massenhaft im kollektiv ohne späteren einzeltäter-nachweis töten kann.

und die ns-euthanasie-morde gingen nach ihrer "vom führer" befohlenen "offiziellen" schein-einstellung auf lokaler ebene dezentral organisiert, aber mit dem alten zentral-know-how aus berlin, munter weiter: ebenso stickum - und deshalb zumeist in mordanstalten auf okkupierten gebieten z.b. in polen, abseits vom main-stream, so dass es nur noch gerüchteweise als ein "horror-vertelleken" weitergetragen werden konnte.

diese "öffentlich geahnte geheimhaltung" hat le hénanff mit seinem mehrfach überarbeiten illustrations-stil in seiner "wannsee-konferenz", die 1942 stattfand, gut getroffen - und mangels authentischerem bildmaterial nach fast 80 jahren auch gut "in szene" gesetzt.

man sollte für den geschichts-unterricht in schulen "klassensätze" dieser "graphic-novel" anschaffen, um den schülern heutzutage diese verlogene und verhuschte mörderische zeit in ihrer verschwiegenheit und in ihrer ungeheuerlichkeit ganz nahe zu bringen - besonders auch in ihrer mörderischen umsetzung.

sie müssen darin nicht besonders geschont werden - denn durch die "baller-spiele" auf ihrem smartphone sind sie ja bereits einiges "gewohnt"... - sie müssen nur "be-greifen" lernen, dass das was da in der "wannsee-konferenz" beschlossen wurde, kein spiel war, sondern dass es damals um's echte leben und um den echten massenmord ging - auch vielleicht der nachbarn ihrer urgroßeltern von nebenan oder von verwandten als opfer - oder aber auch den befehlszwängen, unter denen uropa oder uroma vor 80 jahren die wannsee-beschlüsse umsetzen mussten - und sich hinterher so merkwürdig ausschwiegen zu dieser zeit...


Christo: Die Verhüllung des Triumphes - "Burka" contra "Striptease"

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Der Verpackungskünstler Christo nimmt sich als nächstes den Arc de Triomphe vor: Das Pariser Wahrzeichen wird vom 6. bis 19. April 2020 unter speziell beschichteten blausilbrigen, wiederverwertbaren Stoffbahnen verschwinden, wie das Centre des Monuments nationaux und das Centre Pompidou bekannt gaben. Etwa zeitgleich von Mitte März bis Mitte Juni zeigt das Centre Pompidou eine Ausstellung über die Pariser Zeit des Künstlerpaares Christo und Jeanne-Claude, die sich bereits mit der Verhüllung des berühmten Pont Neuf 1985 in der französischen Hauptstadt verewigt hatten.

Christo verhüllt den Triumphbogen

Genehmigung erteilt: Kommenden April wird der Künstler das weltberühmte Denkmal in silberblauen Stoff schlagen. Die Kosten in Höhe von rund zwölf Millionen Euro trägt der 83-Jährige selber Paris. Die ersten Zeichnungen stammen aus dem Jahr 1962. Bereits vor 57 Jahren träumten Christo und seine 2009 verstorben Frau Jeanne-Claude davon, den Pariser Triumphbogen zu verhüllen. Vergangene Woche nun gab das französische Zentrum Nationaler Denkmäler bekannt, dass es diesem Vorhaben des international bekannten Verpackungskünstlers zugestimmt hat.

„Ich habe alle Genehmigungen in Rekordzeit erhalten und freue mich wie ein kleines Kind“, bestätigte der in New York lebende 83-Jährige jetzt der Pariser Zeitung Journal du Dimanche.

Fünf Tage und Nächte kann das Kunstwerk besichtigt werden

Die Arbeiten des in Bulgarien geborenen Christo Wladimirow Jawaschew und seiner französischen Frau Jeanne-Claude haben immer wieder für weltweites Aufsehen gesorgt. 


Das war auch 1995 so, als sie den Berliner Reichstag verpackten oder 1985, als sie die älteste Brücke von Paris, den Pont Neuf, in sandfarbenes Tuch hüllten. „Ich bin ein Optimist und sehr hartnäckig“, erklärt Christo heute und erinnert daran, dass sich die Verhandlungen für die Verhüllung des Reichstages über 23 Jahre hinzogen und der damalige Pariser Bürgermeister sowie spätere Staatspräsident Jacques Chirac dem Verpacken des Pont Neuf erst nach neunjährigem Zögernseinen Segen gab.

Doch diesmal lief es ganz anders. Im vergangenen Herbst war Christo nach Paris gereist, um eine ihm gewidmete Ausstellung im Centre Pompidou vorzubereiten, die im April 2020 eröffnet wird. Bei dieser Gelegenheit fragte ihn Philippe Bélaval, der Direktor des Zentrums Nationaler Denkmäler, ob er nicht auch ein eigenes Projekt auf dem großen Platz vor dem Museum für Moderne Kunst verwirklichen wolle. „Nicht dort“, will Christo geantwortet haben, „aber mich interessiert es schon lange, etwas mit dem Triumphbogen zu machen“.

Laut dem Künstler soll Bélaval die Idee sofort aufgegriffen und auch die Zustimmung von Präsident Emmanuel Macron sehr rasch erwirkt haben.

Frankreich wird Christo den Triumphbogen vom 6. bis zum 19. April 2020 gänzlich überlassen. Acht Tage sind vorgesehen, um das Kunstwerk in Szene zu setzten. Solange dürfte eine halbe Hundertschaft von Alpinisten benötigen, um das 50 Meter hohe, 45 Meter breite und 22 Meter tiefe Denkmal in rund 25.000 Quadratmeter silberblauen Polyamid-Stoff zu verpacken.

Fünf Tage und Nächte soll der verhüllte Triumphbogen anschließend zu besichtigen sein. Natürlich weiß Christo, dass die Gelbwesten das berühmte Denkmal Anfang Dezember verwüsteten, was umfangreiche Restaurierungsarbeiten nötig machte. Ebenso wisse er um die Bedeutung des „Arc de Triomphe“ als nationales Symbol, fügt der Künstler hinzu, „und um die Bedeutung dieser mir erwiesenen Geste“.

Eine finanzielle Unterstützung erhält Christo allerdings nicht. Er verpflichtete sich stattdessen, die von ihm auf zwölf Millionen Euro geschätzten Kosten der Verhüllung aus eigener Tasche zu bezahlen

Ein „außergewöhnliches Schauspiel“ verspricht der Künstler den Pariser Einwohnern und Touristen aus aller Welt, die kommendes Frühjahr den Place de l’Etoile im Herzen der Seine-Metropole besuchen.

Das Polyamid-Tuch soll von roten Seilen gehalten werden. Da das silberblaue, von dem Grevener Unternehmen Setex angefertigte Polyamid-Tuch nicht auf den Triumphbogen geklebt, sondern von roten Seilen gehalten werden soll, dürfte die Verhüllung die Konturen des Triumphbogens laut Christo „gleichzeitig betonen und verfremden. Und sollte Wind aufkommen, wird sich die Form des Denkmals ständig verändern, ja der Eindruck entstehen, dass es sich bewegt“.

Christos einziges Bedauern ist es, dass seine Frau diese Augenblicke nicht mehr erleben kann. „Wir haben uns seit den ersten Zeichnungen immer wieder vorgestellt, den Triumphbogen zu verpacken. Aber wirklich in Angriff nehmen wollten wir das Projekt nie, weil wir überzeugt waren, dass die Behörden es niemals zulassen würden. Wenn ich es jetzt dennoch verwirkliche, tue ich das auch in ihrem Namen“, betont der 83-jährige Künstler.






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Film: „Christo – Walking on Water“ 

Im Sommer 2016 ermöglichte die Installation „The Floating Piers“ von Christo 16 Tage lang einen Spaziergang über das Wasser des Iseosees nahe Brescia. 
Der dramaturgisch versierte Dokumentarfilm „Christo – Walking on Water“ von Andrey Paounov zeichnet die Entstehung der 15 Millionen Dollar teuren Installation nach und porträtiert den bulgarischen Künstler als Realisator eines hochkomplexen, von vielen Hindernissen erschwerten Großprojekts, ohne sich in der filmischen Konservierung der zeitlich limitierten Aktion zu erschöpfen. 
Neben dem Kunstprojekt geht es um den Künstler zwischen Beruf und Berufung, Inspiration und Energie, Stille und Trubel sowie um eine überwältigende Schönheit zwischen Orange und Dahlienblau. Sehenswert.
christo projekt "floating piers" in brescia/norditalien



Text: NEUE WESTFÄLISCHE, Dienstag 09. 04.2019 - S. Kultur/Medien



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statt einer eigenen neuen umfassenden "interpretation" und "deutung" möchte ich hier einige richtungsweisende oder "enthüllende" zitate über die jahre von und zu den christos bringen: 

„Er begann zu verhüllen. Christo verhüllte Dosen, Flaschen, Stühle, ein Auto – einfach alles, was er finden konnte, Alltagsgegenstände, die weder besonders schön noch interessant waren. Stillschweigend setzte er voraus, daß jedes, aber auch jedes Objekt seinen Platz in der Kunst haben konnte. Es gab für ihn keine Hierarchien der künstlerischen Ausdrucksformen und Inhalte.“Jacob Baal-Teshuva: Christo & Jeanne-Claude. Köln 1995, S. 17.


Auf die schon 1975 gestellte Frage: „Mit Ihren ‚Empaquetagen’ spielen Sie auch auf die vorherrschende Rolle der Verpackung in unserer Zeit an. Ist darin eine Kritik an unserer Konsumgesellschaft enthalten?“, antwortete Christo: „Nein, ich will damit nicht kritisieren, sondern gewisse Evidenzen aufzeigen. […] Ein Kunstwerk hat ein eigenes Leben, und es ist – wie das Leben selbst – äusserst komplex. Man könnte meine Arbeit eher als Humor bezeichnen. Der Mensch sucht sein Privatleben zu verbergen. […]. Die Bäume bedecken sich im Sommer mit Blättern, das ist dasselbe. Es ist dies eine sehr tiefe Frage der Existenz“.

„Ja, die Vieldeutigkeit ist das Wichtigste in der Kunst. Nichts ist bestimmt, alles ist verwickelt“ - neudeutsch: "was für ein 'wiggel'".

Das Ergebnis der Projekte und damit auch die Bedeutungen, die von vielen darin gesehen werden, wurden von dem Künstler in den 1970er Jahren bereits als „offen“ bezeichnet, „wenn das Werk fertig ist, kann jeder, der es sieht, seine eigenen Schlüsse daraus ziehen. Ich will mich da nicht einmischen. […]. Ich kenne seine Entfaltung selbst nicht, ich muss es sich organisch entwickeln lassen“. 

Und mehr als zwanzig Jahre später hat sich daran wenig geändert. Zur Reichstagsverhüllung sagte Christo: „Unsere Arbeiten übersteigen unsere Vorstellungskraft. Wir können die ganze Bedeutung des Projektes nicht festlegen. […] Genauso kann ich nicht vorhersehen, wie die Deutschen den Reichstag sehen werden. Deshalb sind unsere Projekte offen und lassen jede Interpretation zu“. Jeanne-Claude ergänzte: „Das Projekt ist ein Spiegel, alle Interpretationen sind denkbar. Auch die Ablehnungen sind Teil dieses Spiegels“.


etwas vehüllen, etwas einpacken, ist ja heutzutage in jedem supermarkt zum leidwesen für den umweltschutz gang und gäbe. jede gurke wird heute an der salattheke in plasik gesteckt - und alle gegenstände sind wegen der vorteilhaften platzsparenden container-verpackung oft aufwendig in kartonagen verpackt und in folien geschweißt - sogar aufgrund detaillierter europaweiter normverordnungen.

etwas verpacken, verhüllen, etwas verbergen, verschleiern oder ummanteln oder eine burka tragen bzw. etwas hinter einem vorhang verschwinden lassen, verschämtheit und geheimnis - ist immer das gegenteil von: entblößen, offenlegen, ausziehen, striptease, klarheit und eindeutigkeit - und vielleicht sogar von ehrlichkeit und überprüfbarkeit... 

aber das trifft den kern der botschaft der christos nur peripher: denn ihnen geht es in erster linie darum, die verwandlung von "alltäglichen" routine-anblicken und innerlich "eingebrannten" silhouetten und fassaden zu erschüttern und neu herauszufordern mit sich im wind nochmal verwehenden folien-verschnürungen auch großer und prominenter monumente und bauprojekte.

mal in der realität etwas ganz neu "wahr"-nehmen - woran sich ja vielleicht ganz neue innerpsychische assoziationsketten bahn brechen - in jeder/jedem anders - je nach sozialisation und kulturellem background.

die verhüllungswerte lassen also im tätigen "verbergen" und "vergehen" gleichzeitig im inneren kino etwas neues entstehen ... - wenn frau/man die kraft haben, sich auf einen solchen inneren trip einzulassen ...

also - nix für ungut - und chuat choan ...