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tianxia - und morgen die ganze welt

MODERNE POLITISCHE PHILOSOPHIE IN CHINA
WAS DIE NEUE „TIANXIA“ FÜR EUROPA BEDEUTEN KÖNNTE


Himmel und Erde

Patentrezept für Frieden oder Feigenblatt des autoritären China? Der einflussreiche Denker  entwickelt eine Theorie, die zu beidem taugt. Jetzt erscheint sie auf Deutsch.

Von Gregor Dotzauer


Zhao Tingyang
Der Philosoph Zhao Tingyang, 1961 in der südchinesischen Provinz Guangdong geboren, dürfte heute der international einflussreichste Intellektuelle der Volksrepublik sein. Mit seiner Tianxia-Theorie einer friedlichen neuen Weltordnung, die ein rund tausend Jahre altes Konzept aus der Zhou-Dynastie wiederbelebt, entwirft Zhao eine Alternative zum liberal geprägten Universalismus des Westens. Sie enthält für Zhao die Einladung an eine übernationale Weltgemeinschaft, wechselseitige Beziehungen zu schaffen, deren geteilter Nutzen den Nutzen der einzelnen Teile übertrifft.

Zhao ist Professor am Philosophischen Institut der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, die dem Staatsrat der Volksrepublik untersteht. Sie ist die bedeutendste Denkfabrik des Landes mit rund 3200 akademischen Mitgliedern.


Was getrennt ist, kann auch verbunden werden. Die Jadebandbrücke im Garten des Neuen Sommerpalasts in Peking.
Foto: Vincent Song/Getty


Was geht uns das eigentlich an?

Gegenfrage: Wie könnte es uns nichts angehen, wenn zwei Jahrhunderte nach Immanuel Kants moralphilosophischer Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795), auf deren Grundideen die Charta der Vereinten Nationen beruht, aus Peking ein zeitgenössisches Gegenkonzept kommt? Nach wie vor wissen die Deutschen wenig über die chinesische Denkweise, während Intellektuelle wie Zhao mit allen Wassern westlicher Theorie gewaschen sind. Mit Thomas Hobbes und Carl Schmitt, Jürgen Habermas und Samuel Huntington knüpft er an die kanonischen Texte seiner Kultur an.

Zhaos Theorie des „Alles unter dem Himmel“, wie man Tianxia (sprich: Tiänchia) gewöhnlich übersetzt, taugt sicher nicht zur philosophischen Bibel des neuen China. Aber Zhao zu lesen hilft zu verstehen, wie anders man Demokratie und Menschenrechte begreifen kann, Selbstgewissheiten infrage zu stellen und Chinas diktatorische Anwandlungen fundiert zu kritisieren.

Worum geht es?

Zhao geht von dem Gedanken aus, dass Nationalstaaten im Zeitalter globaler Probleme ausgedient haben (siehe Auszug - im Anschluss). Er will deshalb das Konzept des Tianxia wiederbeleben: Die Welt wird zur (politischen) Einheit. Darin sieht Zhao ein Mittel gegen den „Imperialismus“ und ein hohes Maß an kultureller Toleranz. Den von der westlichen Philosophie entwickelten Vorrang des Individuums vor der Gemeinschaft lehnt er letztlich ab. Aus seiner Sicht geht die Gemeinschaft dem Einzelnen voraus.

Handelt es sich bei Zhao Tingyangs
Tianxia-Konzept nicht um reine Ideologie?

So einfach darf man es sich nicht machen. Zhao selbst ist ein ernsthafter Denker, dem man keine eilfertige Dienstbarkeit unterstellen sollte. Zugleich hätte er ohne den Segen des Regimes nie seine heutige Prominenz erlangt, wobei er seine Theorie zuerst schon 2005, während der Amtszeit von Hu Jintao vorstellte. Damals gab es noch Hoffnung auf einen zivilgesellschaftlichen Aufbruch. Zwei Dinge sind also auseinanderzuhalten, die man auf einer anderen Ebene nicht trennen kann. Das eine sind die internen Fragwürdigkeiten einer Theorie, die sich nicht durchgängig in westlichen Begriffen rekonstruieren lässt. Darüber lässt Zhao mit sich reden.

Das andere ist die Frage, wie sich die schöne Vision einer weltumspannenden Kooperation zur autoritären Praxis des Chinesischen Traums verhält, den Xi seinem Volk verordnet hat. Da weicht Zhao gerne mit dem Hinweis aus, dass es sich beim Tianxia um eine Utopie handelt, die man nicht am heutigen China messen dürfe. Oder er erklärt, er sei mit aktueller Politik nicht ausreichend vertraut. Zhaos Idee, nationalstaatliche Grenzen zu überwinden, steht in krassem Gegensatz zu Xis Nationalismus. Hierin steckt sowohl enormes kritisches Potenzial als auch ein mögliches Feigenblatt der Regierung - oder die Begleitmusik zur Belt and Road Initiative, dem weltumspannenden Handelsnetz der Neuen Seidenstraße.

Wo ist der Haken?

Rückt die Welt zusammen, so Zhaos Theorie, erledigt sich das Schema von Freund und Feind, Geben und Nehmen, Gewinnen und Verlieren, das heute internationale Konflikte antreibt. Allerdings ist eine globale Win-Win-Welt spieltheoretisch unwahrscheinlich. Auch stehen der Befriedigung aller Interessen fundamentale kulturelle Differenzen im Weg. Die griechische Polis als Ursprung europäischer Politik und das seit jeher aufs Weltpolitische angelegte Konzept des Tianxia mag man noch zusammendenken können. Bei den politischen Theologien, die Zhao, wie auch immer heruntersäkularisiert (im Westen) oder nichttranszendent (im Osten), gegeneinander in Anschlag bringt, wird es deutlich komplizierter.


Tianxia - zei Zeichen, die von jeher "die ganze Welt" bedeuten
Abb. R/D
Monotheistisch aufgeladene Begriffe wie das Individuum kollidieren hier mit metaphysischen, wenngleich nicht als religiös zu verstehenden chinesischen Größen wie dem Himmel, mit einer bestimmten Vorstellung von Natur wie auch von Familie. Zhao Tingyang verweist etwa darauf, dass im antiken China das „Dao der Natur“ den Stellenwert einer göttlichen Instanz besaß: Einssein mit der Natur hieß, so schreibt Zhao, in Übereinstimmung mit dem Himmel zu sein. Die Ordnung von Himmel und Erde wurde außerdem im ,Haus', das heißt in der Familie, gespiegelt. Die Ordnung von Tianxia, Staat und Familie bildete einen Kreislauf von Abbildern, der politisch-theologische Bedeutung gewann. Will der Einzelne seine Situation verbessern, kann er das nicht aus sich heraus, sondern indem er die Gemeinschaft, das Himmelsabbild, verbessert beziehungsweise dessen Ordnung wiederherstellt.

Steckt darin nicht ein logisches Problem?

Es ist ein Zirkelschluss, und zwar einer, der Chinas hierarchischem Denken von Alters her zugrunde liegt. Zhao formuliert nicht ohne Grund seine Skepsis gegenüber einem Gleichheitsbegriff, wie ihn der liberale Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls entfaltet hat. Mit dem Daoisten Laozi plädiert er lieber für den Grundsatz eines sogenannten ontologischen Gleichgewichts. Er versteht darunter nicht „Fürsorge für die Schwachen“ im europäischen Sinn, sondern „Aufrechterhaltung der Lebensfähigkeit aller Menschen und des wechselseitigen Nutzens“. Dieses Prinzip lässt sich auch repressiv auslegen - im Sinne jener in China fortwährend gepredigten gesellschaftlichen Harmonie, die jedem einen Platz im Gefüge zuweist, den er gefälligst nicht zu verlassen hat.

Welche praktischen Konsequenzen hätte das für eine künftige Weltgemeinschaft?

Über westliche Selbstverständlichkeiten wie die Idee der Menschenrechte müsste völlig neu verhandelt werden. „Theoretisch“, so Zhao, „gehören Menschenrechte in der Tat zu den universellen Prinzipien, die das Nationalstaatensystem außer Kraft setzen. Aber sie werden dazu benutzt, die spezifischen Interessen der USA zu schützen. Dazu gehört die hegemoniale Kunstfertigkeit, 'etwas Allgemeines in etwas Besonderes umzuwandeln', d.h. die USA besitzen die privilegierte Deutungsmacht in Bezug auf universelle Werte.“ Das lässt sich nicht ganz von der Hand weisen, funktioniert aber auch als Einwand gegen das Tianxia-System. An anderer Stelle hat sich Zhao, der kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn es darum geht, den „Imperialismus“ der USA zu geißeln, denn auch gegen natürliche Menschenrechte ausgesprochen. Sie sollten nur im Rahmen eines Kreditmodus zur Verfügung stehen.

Zhao hegt auch Vorbehalte gegen die westliche Demokratie. Er sieht sie zur „Publikratie“ verkommen. Diese lässt zwar dem Volk seine Wählerstimme, bringt aber nur wechselnde Meinungsmehrheiten von hoher Manipulationsanfälligkeit hervor. Um der „Volksseele“ gerecht zu werden, schwebt ihm die zusätzliche Herrschaft von Experten vor, die aufgrund ihres Spezialwissens die richtigen Empfehlungen geben. Seltsamerweise verbindet sich diese Kritik an der Publikratie mit einer Philippika gegen hochtechnologische Steuerungssysteme, die Meinungen global kontrollieren. „Der moderne Mensch“, schreibt er, „stürzte durch die Entwicklung des Marktes und der Demokratie die Diktaturen, doch produzieren die voll entfalteten Märkte und Demokratien eine Diktatur neuen Stils.“ Es wäre absurd, diesen Satz nicht auch auf das Land mit dem größten Intranet der Welt anzuwenden.


aus: DER TAGESSPIEGEL - 19.01.2020 - S. 6 Meinung

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tja - nach einem ersten überblick erinnert mich das, was ich da von zhao tingyang und seiner theorie des "tianxia" lese, sympathisch. 

ich war vielleicht 13 oder 14 jahre alt, als mich mein damaliger lehrer in der schule in einen "spin" verwickelte: "stell dir mal eine gute friedliche welt vor - wie würde die aussehen?" und dann habe ich losfantasiert - und was ich erinnere von damals - aber auch mein lebenlang schon mit mir rumschleppe - erinnert mich stark an das, was ich da zu "tianxia" lese.

mir ging es auch schon um die eine welt unter einem himmel, ohne nationale grenzen, nur in regionen sortiert, wo alle menschen egal welcher haut- oder haarfarbe oder sexueller orientierung oder körpergröße überall miteinander zusammen leben können. 

und mir geht es auch damals wie heute um eine universelle religion, die sehr viel hat von einem bezugspunkt der "abrahamitischen religionen" - also judentum, islam und christen = gemeinsam - mit den "achtsamkeits"- und innerlichkeits-prämissen aus hinduismus und buddhismus... - und dem allmählichen ausblenden eines "persönlichen gottes", hin zu einem universelleren gottesbegriff, was ich hier auch wahrnehme in den zeilen von "tianxia"...

weil ich glaube, dass letztlich die 

  • nationalen grenzen, 
  • macht- und besitzansprüche, 
  • die konkurrenz um die rohstoffe zum leben - allerdings noch in einer welt, die der mensch ohne ressourcenaufbau unwiederbringlich ausbeutet - 
  • und die religiösen überzeugungen und prägungen von kleinauf 

die menschen aufeinander loshetzen - und genau darum kriege geführt werden - und vielleicht noch schlichtweg aus langeweile ...

aber davon schreibt tingyang ja wohl weniger: ihm geht es um diese subjetive eine welt: ein satz sei hier angesprochen, der mir besonders ins auge fiel, wohl wegen meiner beruflichen profession bis neulich: 
"Mit dem Daoisten Laozi plädiert er lieber für den Grundsatz eines sogenannten ontologischen Gleichgewichts. Er versteht darunter nicht „Fürsorge für die Schwachen“ im europäischen Sinn, sondern „Aufrechterhaltung der Lebensfähigkeit aller Menschen und des wechselseitigen Nutzens“. 
auf den ersten blick erscheint mir auch darin eine "moderne" weltauffassung zu stecken: die "fürsorge für die schwachen" summiert sich ja unter dem schlussstrich im extremen auf "exklusion" und versorgung in heimen außerhalb der gemeinschaft und arbeit und beschäftigung in einem "geschützten" unterbezahlten klima - wogegen die "aufrechterhaltung der lebensfähigkeit aller menschen und des wechselseitigen nutzens" für mich nach "inklusion" und teilhabe aller mit allen - ein jeglicher mit seinen gaben - schmeckt. 

und auch was er zur universellen deutungsmacht der usa schreibt, erleben wir ja jeden tag zur zeit mit mr. trump und seinem "america first" - "etwas allgemeines in etwas besonderes umzuwandeln": 
 „Theoretisch gehören Menschenrechte in der Tat zu den universellen Prinzipien, die das Nationalstaatensystem außer Kraft setzen. Aber sie werden dazu benutzt, die spezifischen Interessen der USA zu schützen. Dazu gehört die hegemoniale Kunstfertigkeit, 'etwas Allgemeines in etwas Besonderes umzuwandeln', d.h. die USA besitzen die privilegierte Deutungsmacht in Bezug auf universelle Werte.“ 
erdgas ist für mr. trump ja nicht gleich erdgas - sondern nur amerikanisches erdgas, an dem amerika geld verdient, ist erdgas an sich ... -

und auch jetzt, wie mit den chinesischen produkt-marken wie "huawei" und "tiktok" in den usa und im westen umgegangen wird - und was man da mir nichts dir nichts ohne jeden beweis unterstellt, ist nur eine psychologische übertragung der westlichen bösartigkeiten  und machbarkeiten, die bei nsa und google und facebook/twitter - und jetzt jüngst bei der gesichtserkennungs-software "clearview ai" u.a. seit jahren oder immer wieder in neuen varianten getrieben werden, anstatt huawei und tiktok vielleicht als "partner" und mitbewerber auf dem markt willkommen zu heißen ..."

ich jedenfalls bin gespannt, wie es mit der philosophie des "tianxia" weitergeht - und "tianxia" hat jedenfalls weitaus mehr inhaltliche substanz als "hygge", was ja derzeit in aller munde ist ... (oder schon war ???) - aber da muss man ja auch nicht weiter nachdenken und kann den kopf ausschalten - und "die seele baumeln lassen"...


auszug aus dem buch von zhao tingyang - lies weiter mit "weiterlesen">>:


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aus: DER TAGESSPIEGEL - 19.01.2020 - S. 7 Meinung:


MODERNE POLITISCHE PHILOSOPHIE IN CHINA 
AUSZUG AUS DEM NEUEN BUCH VON 
ZHAO TINGYANG

Das vergessene Gen der Kooperation

Wozu Politik, wenn sie das friedliche Zusammenleben der Menschheit nicht verbessert? Das antike chinesische Konzept des Tianxia kann heute dabei helfen

Von Zhao Tingyang

China ist eine Erzählung, Tianxia dagegen eine Theorie. Wohin man auch blickt, ergreift die Globalisierung alle Bereiche sämtlicher Weltregionen und gestattet keine Räume für eine unbeschwerte Existenz außerhalb. Vernachlässigen wir diesen neuen politischen Kontext, sind wir schwerlich in der Lage, Aussagen über die Gegenwart zu treffen. Die Globalisierung bringt nicht nur Veränderungen in politischer Hinsicht mit sich, sondern Veränderungen im Existenzmodus der Welt. Bei der Vorausschau auf die zukünftige Welt benötigen wir eine ihr entsprechende Daseinsordnung, eine Ordnung, welche die Inklusion der Welt realisiert. Das ist es, was ich als das System des „Alles unter dem Himmel“ (Tianxia) bezeichne.

Ohne Frage ist Tianxia ein Begriff der chinesischen Antike, aber kein Begriff, der sich speziell auf China bezieht, die darin aufgeworfenen Fragen reichen weit über China hinaus, es sind universelle Fragen der gesamten Welt. Tianxia verweist auf eine „Welt der Weltheit“. Begreift man Tianxia als einen dynamischen Prozess, dann bedeutet er die „Verweltlichung der Welt“. Das Zhou-zeitliche System des Tianxia gehört der Vergangenheit an, der bis heute lebendige Begriff des Tianxia dagegen ist eine Idee für die Zukunft der Welt.

Auch wenn wir die Zukunft nicht kennen, dürfen wir nicht schweigen, was bedeutet, dass wir uns über eine universell positive Weltordnung Gedanken machen müssen. Das Konzept internationaler Politik, definiert durch die Modelle des Nationalstaaten-Systems, des Imperialismus und des Hegemonialstrebens, gerät allmählich in Widerspruch zu den Tatsachen der Globalisierung. Falls es nicht zu einer Umkehrung der Globalisierung kommt, werden die Nationalstaaten als höchste Machtinstanz und die damit verbundenen Spiele der internationalen Politik früher oder später der Vergangenheit angehören. Die sich abzeichnende Zukunft wird einer die Moderne hinter sich lassenden globalen Macht der Netzwerke und einer globalen Politik gehören.

Das Konzept des Tianxia zielt auf eine Weltordnung, worin die Welt als Ganzes zum Subjekt der Politik wird, auf eine Ordnung der Koexistenz, welche die ganze Welt als eine politische Entität betrachtet. Die Welt unter dem Aspekt des Tianxia zu begreifen, bedeutet, die Welt als Ganzes zum gedanklichen Ausgangspunkt der Analyse zu machen, um eine der Realität der Globalisierung adäquate politische Ordnung entwerfen zu können. Die vergangene und gegenwärtig fortbestehende Dominierung der Welt durch Imperialmächte beruht auf dem Konzept des Staates und des nationalen Interesses. Diese Mächte hoffen auf den Fortbestand einer vom Imperialismus dominierten Welt und betrachten alles, was sich nicht an deren Aufteilung beteiligt, als zu dominierenden „Rest der Welt“.


Segenswünsche eines Staatsmannes. 
Kalligrafie von Sun Yat-sen, dem 
ersten Präsidenten der 1912 
gegründeten 
Republik China. „Tian xia wei gong“ 
(Für das gemeinsame Wohl aller 
unter dem Himmel) steht hier - von 
oben nach unten. 
Abb.: R/D, Foto: Promo


Die imperialistische Weltanschauung betrachtet die Welt als Objekt der Unterwerfung, Beherrschung und Ausbeutung und keinesfalls als politisches Subjekt. „Die Welt zu reflektieren“ und „ausgehend von der Welt zu reflektieren“, sind zwei völlig konträre Grammatiken des Denkens, Erstere begreift die Welt als Objekt, Letztere als Subjekt. Für die politische Frage der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, „als Welt zu existieren“ (to be or not to be a world), ist das entscheidend. Ausgangspunkt der Methodologie des Tianxia ist es, die Welt als politisches Subjekt zu betrachten. Diese Methodologie findet sich sowohl im Guanzi als auch bei Laozi (571-471 v. Chr.): „Behandle die Welt (Tianxia), wie es sich für die Welt geziemt“ (Guanzi), bzw. „Nach dem Charakter der Welt beurteile die Welt (Tianxia“ (Laozi).

Das bedeutet, Weltpolitik muss unter einem größeren Gesichtswinkel als dem des Staates verstanden werden, die Welt als Ganzes muss als Maßstab der Definition politischer Ordnung und politischer Legitimität dienen. Die Welt als Maßstab für das Verstehen der Welt als einer Gesamtheit politischer Existenz ist das Prinzip des „Tianxia kennt kein Außen“, was bedeutet, dass das Tianxia die größte denkbare, jede Art politischer Existenz einschließende politische Welt bezeichnet. Das Prinzip des „Tianxia ohne Außen“ stützt sich auf folgende metaphysische Begründung: Da der Himmel die Gesamtheit alles Existierenden umfasst, muss auch „Alles unter dem Himmel“ die Gesamtheit des Existierenden umfassen, nur so entspricht es dem Himmel. Das ist mit dem Satz „Der Himmel beschirmt alles gleichermaßen ohne eigennützige Bevorzugung, die Erde trägt alles gleichermaßen ohne eigennützige Bevorzugung“ gemeint.

Das Prinzip des „Tianxia kennt kein Außen“ setzt apriorisch die Welt als politisch Ganzes voraus, das System des Tianxia kennt daher nur ein Innen und kein Außen und lässt damit die Begriffe des „außenstehenden Fremden“ und „Feindes“ verschwinden: Keine Person kann als untolerierbarer Außenstehender, kein Staat, keine Nationalität und keine Kultur als antagonistischer Feind angesehen werden. Alle Staaten und Gebiete, die sich noch nicht dem System des Tianxia angeschlossen haben, sind eingeladen, der Ordnung der Koexistenz des Tianxia beizutreten.

Theoretisch betrachtet, umschließt das Konzept des Tianxia apriorisch die Welt als Ganzes, in der Praxis existiert es noch nicht. Das Tianxia-System der Zhou-Dynastie vor 3000 Jahren war zwar nur ein regional begrenztes Experiment, doch demonstrierte es als Praxismodell, wie das Konzept des Tianxia Äußeres in Inneres umwandelt. Darin besteht das wichtigste Erbe des antiken Tianxia. Wenn nun das Konzept des Tianxia verspricht, alles Äußere in Inneres umzuwandeln, dann schließt es logischerweise die Konzepte des unversöhnbaren Todfeindes, des absoluten ideologischen bzw. spirituellen Gegners und damit auch das des Heidentums aus.

Damit steht es im Gegensatz zu monotheistischen Denkmustern. Auch wenn das Christentum in Europa heute zu einer Art spirituellem Symbol regrediert ist und keine Lebensform mehr darstellt, beeinflusst das Konzept des Heidentums als verfestigtes Denkmuster noch immer die politischen und kulturellen Narrative. Das Fehlen von Abweichlern oder Feinden bedeutet für die westliche Politik offenbar den Kompassverlust, bis hin zum Verlust von Leidenschaft und Motivation. Carl Schmitt ist ein Vertreter dieses auf der klaren Unterscheidung von Freund und Feind und eines Lebens in ewig fortdauerndem Kampf beruhenden Konzepts des Politischen. Gleichgültig, ob es sich um den Kampf des Christentums gegen das Heidentum oder den innerchristlichen Kampf gegen Häresien, ob es sich um das Hobbes'sche „Gesetz des Dschungels“ oder die marxistische Theorie des Klassenkampfes handelt, ob es sich um die auf dem System der Nationalstaaten beruhende Theorie internationaler Politik oder um Huntingtons „clash of civilisations“ handelt, alle diese Auffassungen von Kampf stehen mit dem politischen Freund/Feind-Konzept in engem Zusammenhang.

Im Gegensatz dazu beruht das Tianxia-Konzept auf der Annahme, dass es die Möglichkeit geben muss, auf irgendeine Art und Weise jeglichen anderen in die Ordnung der Koexistenz zu integrieren und auf der Basis gegenseitigen Respekts zu koexistieren. (...) Ich versuche zu zeigen, dass das Konzept des antagonistischen Kampfes keineswegs Ausdruck wahrer Politik ist, sondern Konflikt und Krieg bedeutet. Konflikt und Kampf gehören zu den grundlegenden Fakten der Menschheit. Aber wenn Politik sich darin erschöpft, zu erforschen, wie man bis zur letzten Konsequenz kämpft, dann wird sie nicht nur unfähig, Konflikte zu lösen, sie wird im Gegenteil Konflikte verlängern und verstärken. (...)

Worin läge der Sinn von Politik, wenn sie nicht dazu diente, das Zusammenleben der Menschheit zu ermöglichen und eine friedliche Welt zu schaffen? Die Politik des Kampfes missachtet Menschheit und Welt gleichermaßen, daher ist es notwendig, Konzepte des Politischen, in deren Mittelpunkt der Kampf steht, in ihr Gegenteil zu verkehren, sie durch Konzepte des Politischen zu ersetzen, die Koexistenz zum Zentrum zu machen. Mit einem Wort: Politik muss Respekt vor der Welt haben. Ohne gemeinsames Leben gäbe es keine Politik. Um den genetischen Code der Politik zu analysieren, konstruierten die Philosophen das theoretische Experiment eines Ausgangspunktes der Politik, den sogenannten „Urzustand“. Wenn ein Urzustand die Kernelemente, die „Gene“ des Politischen enthält, lassen sich die Geheimnisse der Politik entschlüsseln. Ein Urzustand, der universelles Erklärungspotential besitzt, muss in der Lage sein, sämtliche denkbaren Möglichkeiten abzudecken, er kann daher nicht John Rawls' Annahme eines „Schleiers des Nichtwissens“ oder ähnliche Annahmen verwenden, weil der Schleier des Nichtwissens die schlechteste Möglichkeit ausblendet (z. B. den Hobbes'schen Urzustand), damit die Bedingung von Politik abschwächt und keine universelle Geltung besitzt.

Rawls' Annahme ist bestenfalls auf die Frage von Vertragsverhältnissen beschränkt. Wirklich universelles Erklärungspotential eines Urzustands haben nur die Hypothesen von Hobbes und von Xunzi (313-238 v. Chr.). Hobbes' Annahme eines Naturzustands entspricht zwar nicht der Realität, aber sie enthält einige der wichtigsten Elemente von Politik: 1. Der Begriff des Politischen muss die Möglichkeit des Schlimmsten mit bedenken, andernfalls besitzt er kein universelles Erklärungspotential; 2. Sicherheit ist die erste Notwendigkeit, und 3. keinem anderen ist völlig zu trauen.

Der Vorzug der Hobbes'schen Annahme besteht darin, dass sie das Extrem der schlechtesten aller Welten aufzeigt. Ihre Schwäche besteht darin, dass sie das Gen der Kooperation ausschließt und damit dem Übergang der Menschheit vom Konflikt zur Kooperation die notwendige Basis entzieht. Hobbes' Lösungsvorstellung, dass der Verbund der Starken Ordnung herstellt, ist nach wie vor ein Fehlschluss: Der Verbund der Starken, der die Kraft besitzt, Ordnung herzustellen, ist notwendigerweise ein interner Zusammenschluss. Aber wie soll innerhalb eines solchen Verbunds Kooperation zustande kommen? Wie soll, folgt man der Hobbes'schen Hypothese, dass der Mensch des Menschen Feind sei, ein Verbund der Starken auf der Basis gegenseitigen Vertrauens entstehen?

Offensichtlich kann Konflikt sich nicht automatisch in Kooperation verkehren, es sei denn, es existiert von Beginn an irgendein Grundelement, ein Gen der Kooperation. Darin besteht die von Hobbes vernachlässigte Möglichkeit der Umwandlung des Konflikts in Kooperation. Möglicherweise als Erster, nahezu 2000 Jahre vor Hobbes, diskutierte Xunzi die Frage des Urzustands. Anders als Hobbes sah Xunzis Urzustand ein Grundelement vor, er nahm nämlich die Gruppe als dem Individuum vorangehend an. Er wies darauf hin, dass die Fähigkeiten des Einzelnen schwächer seien als selbst die von Ochsen und Pferden, und daher Kooperation innerhalb der Gruppe für den Einzelnen eine Voraussetzung des Überlebens bildet. Daher geht die Kooperation notwendigerweise dem Konflikt voraus. (...)

Xunzi nahm ein Gen der Kooperation an und vermied auf diese Weise Hobbes' Schwierigkeit. Dennoch ist Xunzis Hypothese nicht in der Lage, das Hobbes'sche Problem zur Gänze abzudecken. Die Hobbes'sche Hypothese ist zwar nicht in der Lage, die Voraussetzung interner Kooperation zu erklären, aber sie liefert eine brillante Erklärung des Problems von Konflikten in anarchischen Zuständen. Daher liefert erst eine sich gegenseitig ergänzende Verbindung von Hobbes und Xunzi eine vollständige Theorie des Urzustands, welche die Frage des Politischen formuliert. ()

Das von mir imaginierte Tianxia-System der Zukunft erfüllt im Wesentlichen die konfuzianische Norm der Toleranz des Kompatiblen oder Leibniz' Richtschnur der Möglichkeit des Miteinanders. Das System des Tianxia ist keine idealistische Illusion, es verspricht nicht die Glückseligkeit jedes Einzelnen, es ist lediglich ein System, das Garantien für Frieden und Sicherheit in Aussicht stellt. Sein Dreh- und Angelpunkt liegt in der Nutzlosigkeit von Konkurrenz und antagonistischen Taktiken, genauer gesagt, in der Nutzlosigkeit von Aktionen, die darauf abzielen, andere zu vernichten, und es ist daher in der Lage, Koexistenz als Voraussetzung von Existenz zu sichern. Einfach gesagt, die Erwartung an das Tianxia-System besteht darin, dass es eine Daseinsordnung der Welt darstellt, deren Prinzip die Koexistenz ist.


  • Zhao Tingyangs Buch „Alles unter dem Himmel - Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung“, aus dem wir hier den Anfang dokumentieren, erscheint am Montag, übersetzt von Michael Kahn-Ackermann, im Suhrkamp Verlag (266 Seiten, 22 ).


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