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tianxia - und morgen die ganze welt

MODERNE POLITISCHE PHILOSOPHIE IN CHINA
WAS DIE NEUE „TIANXIA“ FÜR EUROPA BEDEUTEN KÖNNTE


Himmel und Erde

Patentrezept für Frieden oder Feigenblatt des autoritären China? Der einflussreiche Denker  entwickelt eine Theorie, die zu beidem taugt. Jetzt erscheint sie auf Deutsch.

Von Gregor Dotzauer


Zhao Tingyang
Der Philosoph Zhao Tingyang, 1961 in der südchinesischen Provinz Guangdong geboren, dürfte heute der international einflussreichste Intellektuelle der Volksrepublik sein. Mit seiner Tianxia-Theorie einer friedlichen neuen Weltordnung, die ein rund tausend Jahre altes Konzept aus der Zhou-Dynastie wiederbelebt, entwirft Zhao eine Alternative zum liberal geprägten Universalismus des Westens. Sie enthält für Zhao die Einladung an eine übernationale Weltgemeinschaft, wechselseitige Beziehungen zu schaffen, deren geteilter Nutzen den Nutzen der einzelnen Teile übertrifft.

Zhao ist Professor am Philosophischen Institut der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, die dem Staatsrat der Volksrepublik untersteht. Sie ist die bedeutendste Denkfabrik des Landes mit rund 3200 akademischen Mitgliedern.


Was getrennt ist, kann auch verbunden werden. Die Jadebandbrücke im Garten des Neuen Sommerpalasts in Peking.
Foto: Vincent Song/Getty


Was geht uns das eigentlich an?

Gegenfrage: Wie könnte es uns nichts angehen, wenn zwei Jahrhunderte nach Immanuel Kants moralphilosophischer Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795), auf deren Grundideen die Charta der Vereinten Nationen beruht, aus Peking ein zeitgenössisches Gegenkonzept kommt? Nach wie vor wissen die Deutschen wenig über die chinesische Denkweise, während Intellektuelle wie Zhao mit allen Wassern westlicher Theorie gewaschen sind. Mit Thomas Hobbes und Carl Schmitt, Jürgen Habermas und Samuel Huntington knüpft er an die kanonischen Texte seiner Kultur an.

Zhaos Theorie des „Alles unter dem Himmel“, wie man Tianxia (sprich: Tiänchia) gewöhnlich übersetzt, taugt sicher nicht zur philosophischen Bibel des neuen China. Aber Zhao zu lesen hilft zu verstehen, wie anders man Demokratie und Menschenrechte begreifen kann, Selbstgewissheiten infrage zu stellen und Chinas diktatorische Anwandlungen fundiert zu kritisieren.

Worum geht es?

Zhao geht von dem Gedanken aus, dass Nationalstaaten im Zeitalter globaler Probleme ausgedient haben (siehe Auszug - im Anschluss). Er will deshalb das Konzept des Tianxia wiederbeleben: Die Welt wird zur (politischen) Einheit. Darin sieht Zhao ein Mittel gegen den „Imperialismus“ und ein hohes Maß an kultureller Toleranz. Den von der westlichen Philosophie entwickelten Vorrang des Individuums vor der Gemeinschaft lehnt er letztlich ab. Aus seiner Sicht geht die Gemeinschaft dem Einzelnen voraus.

Handelt es sich bei Zhao Tingyangs
Tianxia-Konzept nicht um reine Ideologie?

So einfach darf man es sich nicht machen. Zhao selbst ist ein ernsthafter Denker, dem man keine eilfertige Dienstbarkeit unterstellen sollte. Zugleich hätte er ohne den Segen des Regimes nie seine heutige Prominenz erlangt, wobei er seine Theorie zuerst schon 2005, während der Amtszeit von Hu Jintao vorstellte. Damals gab es noch Hoffnung auf einen zivilgesellschaftlichen Aufbruch. Zwei Dinge sind also auseinanderzuhalten, die man auf einer anderen Ebene nicht trennen kann. Das eine sind die internen Fragwürdigkeiten einer Theorie, die sich nicht durchgängig in westlichen Begriffen rekonstruieren lässt. Darüber lässt Zhao mit sich reden.

Das andere ist die Frage, wie sich die schöne Vision einer weltumspannenden Kooperation zur autoritären Praxis des Chinesischen Traums verhält, den Xi seinem Volk verordnet hat. Da weicht Zhao gerne mit dem Hinweis aus, dass es sich beim Tianxia um eine Utopie handelt, die man nicht am heutigen China messen dürfe. Oder er erklärt, er sei mit aktueller Politik nicht ausreichend vertraut. Zhaos Idee, nationalstaatliche Grenzen zu überwinden, steht in krassem Gegensatz zu Xis Nationalismus. Hierin steckt sowohl enormes kritisches Potenzial als auch ein mögliches Feigenblatt der Regierung - oder die Begleitmusik zur Belt and Road Initiative, dem weltumspannenden Handelsnetz der Neuen Seidenstraße.

Wo ist der Haken?

Rückt die Welt zusammen, so Zhaos Theorie, erledigt sich das Schema von Freund und Feind, Geben und Nehmen, Gewinnen und Verlieren, das heute internationale Konflikte antreibt. Allerdings ist eine globale Win-Win-Welt spieltheoretisch unwahrscheinlich. Auch stehen der Befriedigung aller Interessen fundamentale kulturelle Differenzen im Weg. Die griechische Polis als Ursprung europäischer Politik und das seit jeher aufs Weltpolitische angelegte Konzept des Tianxia mag man noch zusammendenken können. Bei den politischen Theologien, die Zhao, wie auch immer heruntersäkularisiert (im Westen) oder nichttranszendent (im Osten), gegeneinander in Anschlag bringt, wird es deutlich komplizierter.


Tianxia - zei Zeichen, die von jeher "die ganze Welt" bedeuten
Abb. R/D
Monotheistisch aufgeladene Begriffe wie das Individuum kollidieren hier mit metaphysischen, wenngleich nicht als religiös zu verstehenden chinesischen Größen wie dem Himmel, mit einer bestimmten Vorstellung von Natur wie auch von Familie. Zhao Tingyang verweist etwa darauf, dass im antiken China das „Dao der Natur“ den Stellenwert einer göttlichen Instanz besaß: Einssein mit der Natur hieß, so schreibt Zhao, in Übereinstimmung mit dem Himmel zu sein. Die Ordnung von Himmel und Erde wurde außerdem im ,Haus', das heißt in der Familie, gespiegelt. Die Ordnung von Tianxia, Staat und Familie bildete einen Kreislauf von Abbildern, der politisch-theologische Bedeutung gewann. Will der Einzelne seine Situation verbessern, kann er das nicht aus sich heraus, sondern indem er die Gemeinschaft, das Himmelsabbild, verbessert beziehungsweise dessen Ordnung wiederherstellt.

Steckt darin nicht ein logisches Problem?

Es ist ein Zirkelschluss, und zwar einer, der Chinas hierarchischem Denken von Alters her zugrunde liegt. Zhao formuliert nicht ohne Grund seine Skepsis gegenüber einem Gleichheitsbegriff, wie ihn der liberale Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls entfaltet hat. Mit dem Daoisten Laozi plädiert er lieber für den Grundsatz eines sogenannten ontologischen Gleichgewichts. Er versteht darunter nicht „Fürsorge für die Schwachen“ im europäischen Sinn, sondern „Aufrechterhaltung der Lebensfähigkeit aller Menschen und des wechselseitigen Nutzens“. Dieses Prinzip lässt sich auch repressiv auslegen - im Sinne jener in China fortwährend gepredigten gesellschaftlichen Harmonie, die jedem einen Platz im Gefüge zuweist, den er gefälligst nicht zu verlassen hat.

Welche praktischen Konsequenzen hätte das für eine künftige Weltgemeinschaft?

Über westliche Selbstverständlichkeiten wie die Idee der Menschenrechte müsste völlig neu verhandelt werden. „Theoretisch“, so Zhao, „gehören Menschenrechte in der Tat zu den universellen Prinzipien, die das Nationalstaatensystem außer Kraft setzen. Aber sie werden dazu benutzt, die spezifischen Interessen der USA zu schützen. Dazu gehört die hegemoniale Kunstfertigkeit, 'etwas Allgemeines in etwas Besonderes umzuwandeln', d.h. die USA besitzen die privilegierte Deutungsmacht in Bezug auf universelle Werte.“ Das lässt sich nicht ganz von der Hand weisen, funktioniert aber auch als Einwand gegen das Tianxia-System. An anderer Stelle hat sich Zhao, der kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn es darum geht, den „Imperialismus“ der USA zu geißeln, denn auch gegen natürliche Menschenrechte ausgesprochen. Sie sollten nur im Rahmen eines Kreditmodus zur Verfügung stehen.

Zhao hegt auch Vorbehalte gegen die westliche Demokratie. Er sieht sie zur „Publikratie“ verkommen. Diese lässt zwar dem Volk seine Wählerstimme, bringt aber nur wechselnde Meinungsmehrheiten von hoher Manipulationsanfälligkeit hervor. Um der „Volksseele“ gerecht zu werden, schwebt ihm die zusätzliche Herrschaft von Experten vor, die aufgrund ihres Spezialwissens die richtigen Empfehlungen geben. Seltsamerweise verbindet sich diese Kritik an der Publikratie mit einer Philippika gegen hochtechnologische Steuerungssysteme, die Meinungen global kontrollieren. „Der moderne Mensch“, schreibt er, „stürzte durch die Entwicklung des Marktes und der Demokratie die Diktaturen, doch produzieren die voll entfalteten Märkte und Demokratien eine Diktatur neuen Stils.“ Es wäre absurd, diesen Satz nicht auch auf das Land mit dem größten Intranet der Welt anzuwenden.


aus: DER TAGESSPIEGEL - 19.01.2020 - S. 6 Meinung

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tja - nach einem ersten überblick erinnert mich das, was ich da von zhao tingyang und seiner theorie des "tianxia" lese, sympathisch. 

ich war vielleicht 13 oder 14 jahre alt, als mich mein damaliger lehrer in der schule in einen "spin" verwickelte: "stell dir mal eine gute friedliche welt vor - wie würde die aussehen?" und dann habe ich losfantasiert - und was ich erinnere von damals - aber auch mein lebenlang schon mit mir rumschleppe - erinnert mich stark an das, was ich da zu "tianxia" lese.

mir ging es auch schon um die eine welt unter einem himmel, ohne nationale grenzen, nur in regionen sortiert, wo alle menschen egal welcher haut- oder haarfarbe oder sexueller orientierung oder körpergröße überall miteinander zusammen leben können. 

und mir geht es auch damals wie heute um eine universelle religion, die sehr viel hat von einem bezugspunkt der "abrahamitischen religionen" - also judentum, islam und christen = gemeinsam - mit den "achtsamkeits"- und innerlichkeits-prämissen aus hinduismus und buddhismus... - und dem allmählichen ausblenden eines "persönlichen gottes", hin zu einem universelleren gottesbegriff, was ich hier auch wahrnehme in den zeilen von "tianxia"...

weil ich glaube, dass letztlich die 

  • nationalen grenzen, 
  • macht- und besitzansprüche, 
  • die konkurrenz um die rohstoffe zum leben - allerdings noch in einer welt, die der mensch ohne ressourcenaufbau unwiederbringlich ausbeutet - 
  • und die religiösen überzeugungen und prägungen von kleinauf 

die menschen aufeinander loshetzen - und genau darum kriege geführt werden - und vielleicht noch schlichtweg aus langeweile ...

aber davon schreibt tingyang ja wohl weniger: ihm geht es um diese subjetive eine welt: ein satz sei hier angesprochen, der mir besonders ins auge fiel, wohl wegen meiner beruflichen profession bis neulich: 
"Mit dem Daoisten Laozi plädiert er lieber für den Grundsatz eines sogenannten ontologischen Gleichgewichts. Er versteht darunter nicht „Fürsorge für die Schwachen“ im europäischen Sinn, sondern „Aufrechterhaltung der Lebensfähigkeit aller Menschen und des wechselseitigen Nutzens“. 
auf den ersten blick erscheint mir auch darin eine "moderne" weltauffassung zu stecken: die "fürsorge für die schwachen" summiert sich ja unter dem schlussstrich im extremen auf "exklusion" und versorgung in heimen außerhalb der gemeinschaft und arbeit und beschäftigung in einem "geschützten" unterbezahlten klima - wogegen die "aufrechterhaltung der lebensfähigkeit aller menschen und des wechselseitigen nutzens" für mich nach "inklusion" und teilhabe aller mit allen - ein jeglicher mit seinen gaben - schmeckt. 

und auch was er zur universellen deutungsmacht der usa schreibt, erleben wir ja jeden tag zur zeit mit mr. trump und seinem "america first" - "etwas allgemeines in etwas besonderes umzuwandeln": 
 „Theoretisch gehören Menschenrechte in der Tat zu den universellen Prinzipien, die das Nationalstaatensystem außer Kraft setzen. Aber sie werden dazu benutzt, die spezifischen Interessen der USA zu schützen. Dazu gehört die hegemoniale Kunstfertigkeit, 'etwas Allgemeines in etwas Besonderes umzuwandeln', d.h. die USA besitzen die privilegierte Deutungsmacht in Bezug auf universelle Werte.“ 
erdgas ist für mr. trump ja nicht gleich erdgas - sondern nur amerikanisches erdgas, an dem amerika geld verdient, ist erdgas an sich ... -

und auch jetzt, wie mit den chinesischen produkt-marken wie "huawei" und "tiktok" in den usa und im westen umgegangen wird - und was man da mir nichts dir nichts ohne jeden beweis unterstellt, ist nur eine psychologische übertragung der westlichen bösartigkeiten  und machbarkeiten, die bei nsa und google und facebook/twitter - und jetzt jüngst bei der gesichtserkennungs-software "clearview ai" u.a. seit jahren oder immer wieder in neuen varianten getrieben werden, anstatt huawei und tiktok vielleicht als "partner" und mitbewerber auf dem markt willkommen zu heißen ..."

ich jedenfalls bin gespannt, wie es mit der philosophie des "tianxia" weitergeht - und "tianxia" hat jedenfalls weitaus mehr inhaltliche substanz als "hygge", was ja derzeit in aller munde ist ... (oder schon war ???) - aber da muss man ja auch nicht weiter nachdenken und kann den kopf ausschalten - und "die seele baumeln lassen"...


auszug aus dem buch von zhao tingyang - lies weiter mit "weiterlesen">>: