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die ewige präsenz der vergangenheit: je gestern - desto heute - umso morgen


Aus der Serie SINN & VERSTAND

Erinnerungskultur

Was kann man von den Deutschen lernen?

Trotz Hanau – kein anderes Land der Welt hat sich seiner Vergangenheit so ermutigend gestellt.

Von Susan Neiman in der ZEIT 11/2020



Die Vergangenheit ist präsent: Foto von Klaus Pichler aus der Serie "Staub", 2010. © Klaus Pichler/​Anzenberger (aus der Serie "Dust" 2010)




Wer im Frühjahr 2020 in Deutschland behauptet, die Welt könne etwas von den Deutschen lernen, erntet nicht nur Verwunderung, sondern Spott; vor allem, wenn es um den originärsten aller deutschen Exporte geht: die Vergangenheitsaufarbeitung. Der Begriff "Erinnerungskultur" ist mir zu euphemistisch: Es sind schließlich nicht beliebige Erinnerungen, die hier wachgehalten werden sollen. Im Vordergrund steht das Erinnern an Traumata, und zwar in erster Linie an solche, die das eigene Land produziert hat. Bewältigt werden können solche Traumata vermutlich nie, doch ähnlich wie Schuld können sie aufgearbeitet werden, auch wenn eine Restschuld immer bleibt. Meine These: Kein anderes Land der Welt hat sich annähernd einer solchen Aufgabe gestellt. Um sie vollständig erfüllen zu können, muss man zuerst würdigen, was bisher geleistet worden ist.

Schon lange vor den jüngsten Terroranschlägen begegnete ich immer wieder Deutschen, die diese These als Beweis dafür sehen, dass Amerikaner hoffnungslos naiv bleiben. Ob ich denn nicht wisse, wie lange die Deutschen gebraucht hätten, um sich statt als größte Opfer als größte Täter zu betrachten? Ob ich denn nicht wisse, dass es immer noch Rassismus in Deutschland gebe, wofür gegenwärtig die AfD stehe? Der NSU? Halle?

Da ich seit 1982 überwiegend in Berlin lebe, ist mir das alles nicht entgangen. Zwar bin ich weder Historikerin noch Soziologin, sondern Philosophin. Doch habe ich seit Jahrzehnten diese Nation intensivst beobachtet – zunächst, um herauszufinden, ob Berlin ein Ort sei, an dem ich jüdische Kinder erziehen wollte. Ende 1988 habe ich mich dagegen entschieden. Im Jahr 2000 – nach der Wahl der rot-grünen Regierung, nach der Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes und einigen Entwicklungen mehr – kehrte ich mit meiner Familie zurück, denn die zaghafte Aufarbeitung, die in den Achtzigerjahren angestoßen wurde, hatte sich verwurzelt.

Heißt das, dass Deutschland die oft ersehnte Normalität erreicht hatte? Natürlich nicht. Es gibt zu viel Geschichte, zu wenig Selbstbewusstsein, zu viel Bewusstsein dessen, wie man von außen wahrgenommen wird, als dass dieses Land als normal gelten könnte. Doch das Wehklagen darüber, (noch) nicht normal zu sein, ist erstaunlich kurzsichtig. Auch Israel sehnt sich nach Normalität; Irland war dabei, sie zu erlangen, bevor der Brexit einen Strich durch die Rechnung machte. Apropos Brexit: Ist Großbritannien – diese einstige Weltmacht, die sich über Fragen ihrer Identität geradezu zerreißt – normal? Statt nach einer vermeintlichen Normalität zu suchen, die kaum ein Land, genau betrachtet, wirklich besitzt, sollte Deutschland eher schätzen lernen, was es in seiner Art, nicht normal zu sein, tatsächlich erreicht hat.

Nun verstehe ich deutsches Selbstmisstrauen, auch wenn es die Kehrseite von deutschem Größenwahn ist. Schon der Anstand verbietet es, sich mit der gelungenen Aufarbeitung der eigenen Schuld zu brüsten. Zugleich gilt es als Tabu, die nationalsozialistischen Verbrechen mit Verbrechen in anderen Ländern zu vergleichen, wohl auch deshalb, weil die Nationalsozialisten selbst gern Vergehen anderer Länder ins Feld führten, um die eigenen zu relativieren. So sollte etwa der Mord an den Native Americans den deutschen Drang nach osteuropäischem Lebensraum legitimieren.

Ich versuche, mich an Tzvetan Todorovs weise Maxime zu halten: Deutsche sollten über die Singularität des Holocausts reden, Juden über seine Universalität. Nur wer meint, Aussagen erschöpften sich in ihrem Wahrheitswert, wird Todorovs Ausspruch problematisch finden. Wie uns die Sprachphilosophie lehrt, sind Aussagen nicht nur Feststellungen, sondern Handlungen. Deutsche, die von der Singularität des Holocausts sprechen, übernehmen Verantwortung; Deutsche, die von seiner Universalität sprechen, suchen Entlastung.

Nachhilfestunde aus dem Herzen der Finsternis

Als Jüdin darf ich aber über die Universalität des Holocausts nachdenken und mit Sorge feststellen, dass "Nazi" außerhalb Deutschlands weniger eine politische als eine metaphysische Kategorie geworden ist. Nazi heißt einfach: der Inbegriff des Bösen, der Abgrund im Herzen der Geschichte. In einer Welt, in der jede moralische Aussage mit zunehmender Skepsis betrachtet wird, mag man froh sein, auch irgendwo Einigkeit zu finden. Doch ein Symbol für das absolut Böse liefert einen Superlativ, an dem gemessen jede andere Gräueltat wie ein Kavaliersdelikt wirkt. Um es psychoanalytisch auszudrücken: Der Fokus auf Auschwitz ist eine Verschiebung dessen, was wir über andere nationale Verbrechen nicht wissen wollen.

Diese Verschiebung ist in England wohl noch stärker ausgeprägt als in den USA, doch mir war es vor allem wichtig, den Amerikanern zu sagen, sie könnten eine Nachhilfestunde aus dem Herzen der Finsternis gebrauchen. Der unmittelbare Anlass, ein Buch darüber zu schreiben, war das Massaker von South Carolina, bei dem 2015 neun schwarze Kirchenbesucher während einer Bibelstunde erschossen wurden. Der Täter war ein junger weißer Mann, der auf Fotos stolz rassistische Symbole wie die Fahne der Konföderation präsentierte. "Reißt die Fahne herunter!", rief Präsident Obama bei der Trauerrede. Schon lange hatte man gegen seine Präsidentschaft mit dem Mantra gepöbelt, das Weiße Haus solle weiß bleiben.

Doch die Morde in einer Kirche, die Würde der Hinterbliebenen und die Eloquenz des Präsidenten einigten die Nation zunächst. Zwei republikanische Gouverneure folgten Obamas Appell und überließen die Fahnen den Museen. Amerikas größtes Warenhaus verkündete, keine Symbole der Konföderation mehr zu führen. Das Land schien begriffen zu haben: Wenn Rassismus und Gewalt in der Geschichte verschwiegen und verharmlost werden, leben sie in der Gegenwart fort. Später würden wir erfahren, dass Trumps Berater Steve Bannon seine Leser ermunterte: Haltet die Fahnen hoch! Doch wer achtete damals auf Steve Bannon?

Eine amerikanische Vergangenheitsaufarbeitung war im Gang, und ich wollte dazu beitragen. Mir war bewusst, dass die Erfahrung eines Landes nie direkt auf ein anderes übertragen werden kann, und so verbrachte ich ein halbes Jahr in Mississippi, um die dortigen Auseinandersetzungen mit dem Rassismus der Geschichte und der Gegenwart zu reflektieren, bevor ich Lektionen aus der deutschen Nachkriegszeit weitergab. Zwar ist der amerikanische Rassismus nicht nur im Süden vorhanden, doch der Umgang mit der Geschichte ist dort allgegenwärtig.

Allerdings ist die Geschichte, die dort erzählt wird, eine Opfergeschichte: Im Bürgerkrieg waren die Südstaatler Freiheitskämpfer, die ihre Heimat verteidigen wollten, aber sie wurden von der Übermacht des Nordens geschlagen. Wie nobel die Demut dieser Opfer war, wie schrecklich ihre Demütigungen: Schlimm genug, dass die Städte in Schutt und Asche lagen, die überlebenden Männer verwundet oder gefangen, die Frauen und Kinder dem Hungertod nah. Doch am allerschlimmsten waren die fremden Besatzer. So vulgär wie unwissend, schoben sie ihnen die Kriegsschuld in die Schuhe! Wer die Untertöne der frühen Bundesrepublik wahrgenommen hat, dem wird es nicht schwerfallen, hier Parallelen zur deutschen Geschichte zu erkennen.

Richard von Weizsäckers berühmteste Rede ist immer wieder kritisiert worden, weil sie eine Befreiung ausrief, die wenige Deutsche 1945 begrüßten. Doch wer die Stimmung, die 1985 herrschte, begriffen hat, kann die Bedeutung jener Rede ermessen. Der Zusammenbruch, wie es vorher in der Bundesrepublik hieß, war Gegenstand der Trauer gewesen; nach der Rede war er eine Rettung, die gefeiert werden konnte. Dieser Perspektivwechsel ist eine Leistung, die dem amerikanischen Süden nach 150 Jahren noch nicht gelungen ist. Dort wird am Opfernarrativ festgehalten, tausendmal verewigt in Denkmälern für Soldaten, in Fahnen, die vor Staatsgebäuden wehen, in Liedern, die ahnungslos gesungen werden, in Geschichten, die über Generationen hinweg erzählt werden.

Neuerdings kann man den Anfang einer solchen perspektivischen Wende in der amerikanischen Öffentlichkeit wahrnehmen: Ja, der Süden hat im Krieg gelitten, aber er hat den Krieg auch angefangen, und zwar nicht aus dem vagen Wunsch heraus, "die Rechte der Bundesstaaten" zu verteidigen, sondern das Recht, andere Menschen auf ewig zu versklaven.

Scham tut gut, denn nur durch Scham wird eine Gesellschaft verändert

Diese aktuelle Auseinandersetzung um das wichtigste Ereignis der US-amerikanischen Geschichte hat mit der Gegenwart zu tun. Seit Ende 2016 kommt es nicht nur im Süden, sondern landesweit zu Hakenkreuzschmierereien, werden jüdische Synagogen und afroamerikanische Kirchengemeinden angegriffen, und im Weißen Haus sitzt ein Mann, der tobende Nazis in Fackelzügen "sehr feine Leute" nennt. Auf einmal wurde es klar: Nazis sind nicht nur ein deutsches Problem. Vergleiche, die einst provozierend wirkten, sind Amerikanern nicht mehr fremd. Anstatt abzuwehren, wollen sie wissen: Wie haben es die Deutschen geschafft, aus Nazis Demokraten zu machen?

Scham tut gut, denn nur durch Scham wird eine Gesellschaft verändert, erzählte mir Bryan Stevenson, dessen National Lynching Memorial das wichtigste Zeugnis eines neuen amerikanischen Bewusstseins ist. Der Anwalt, der vor allem schwarze Gefangene vor der Todesstrafe rettet, war beeindruckt von der Weise, in der die Reflexion der Vergangenheit auf die deutsche Gegenwartspolitik einwirkt. In Deutschland haben ihn Denkmäler wie die Stolpersteine beeinflusst; die von ihm ins Leben gerufene Gedenkstätte zur Erinnerung an die Opfer der rassistischen Lynchjustiz will ein Gegenstück zu den noch herrschenden Narrativen in die Landschaft schreiben.

Paradoxerweise ist für Aktivisten wie ihn geradezu ermutigend, was Deutsche zu Recht beklagen: wie viel Zeit es brauchte, bis ein echter Perspektivwechsel eintrat und sich das Selbstbild der Deutschen vom Kriegsopfer zum Kriegstäter wandelte. Diese Ermutigung wirkt umso stärker, als von außen betrachtet kaum nachzuvollziehen ist, dass die Täternation einst in Selbstmitleid versank. Denn das Nachkriegsbild, das um die Welt ging, war das Bild, das das Ausland sehen wollte: Willy Brandt auf den Knien in Warschau, 1970.

Die Geste der Reue war die Geste, die erwartet wurde. Wer wusste schon, dass Brandt in Deutschland in breiten Bevölkerungskreisen als Vaterlandsverräter galt; dass die Emigration, die ihn in unseren Augen zum guten Deutschen machte, ihn zu Hause zum schlechten Deutschen abstempelte? Von diesen Widerständen auf dem Weg der Vergangenheitsaufarbeitung zu hören hat meine amerikanischen Kollegen erleichtert.

Wenn selbst die Nazis und ihre Mitläufer Jahrzehnte brauchten, um den Wahrnehmungswandel vom Opfer zum Täter zu vollziehen, gibt es Hoffnung, dass auch andere diesen Weg erfolgreich zurücklegen können. Die Tendenz, das eigene Leid über alles zu stellen, ist so universell wie die Abwehr von Schuld und Scham. Wenn Deutschland beides – zum großen Teil – überwinden konnte, dann könnte es anderen Länder auch gelingen. Dennoch wird in Deutschland immer wieder das Unbehagen an der eigenen Vergangenheitsaufarbeitung formuliert. Sie sei zu ritualisiert, zu theatralisch, zu rhetorisch; zu wirkungsarm, um die AfD zu beseitigen, oder umgekehrt so allgegenwärtig, dass sie jedes gesunde Nationalgefühl ersticke. Mit anderen Worten: Sie ist unvollkommen. Wie denn auch nicht?

Die zivilisatorische Leistung, die sie darstellt, ist erstmalig in der Geschichte und sollte als work in progress verstanden werden. Es ist eine Aufgabe, an der kontinuierlich gearbeitet werden muss, gerade weil es keine narrensichere Schutzimpfung gegen Rassismus und Reaktion gibt. Während die AfD Jahrzehnte der Bemühungen, die Nazi-Vergangenheit aufzuarbeiten, als beschämend denunziert, ist es uns anderen aufgegeben, darauf zu bestehen, dass Scham der erste und notwendige Schritt zu einem demokratischen Selbstbewusstsein einer Nation ist.

Die größte Lücke der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung wird allerdings selten erwähnt: die nahtlose Aufnahme von Kerngedanken der Nazi-Ideologie durch das, was Willi Winkler in seinem Buch Das braune Netz "verordneter Antikommunismus" nennt. Danach seien Kommunismus und Faschismus zwei Seiten einer Medaille. Es geht letzten Endes um Entlastung: Je übler die Bolschewiki erschienen, desto besser sehen die Nazis im Rückblick aus. Wenn Kommunismus und Faschismus gleich böse sind, haben auch Papa und Opa nicht das Böse bekämpft?

Antifaschismus war mit gutem Grund Staatsräson der DDR

Trotz einer kurzen Pause während des Historikerstreits herrschte in dieser Weltsicht in der BRD Konsens. Das beeinflusst bis heute unsere Sicht auf die DDR und führt zur gängigen Meinung, die DDR habe sich nicht wirklich mit der Nazi-Zeit auseinandergesetzt. Doch was heißt hier wirklich? Der Vorwurf, dass es dort bestenfalls einen verordneten Antifaschismus gab, ist kurios. War es etwa nicht richtig, einem faschismusdurchseuchten Land den Antifaschismus zu verordnen? Auch die Westalliierten taten dies, bis der Kalte Krieg den Vorrang vor der Entnazifizierung bekam.

Antifaschismus war Staatsräson der DDR, mit gutem Grund: Als Herzstück des Nazi-Gedankenguts war der Antikommunismus mindestens so zentral wie der Antisemitismus. Auch wenn der Staat den Antifaschismus instrumentalisierte, wurde die antifaschistische Grundhaltung selbst von DDR-Bürgern als aufrichtig erlebt, die alles andere an diesem Staat kritisierten. Zahlen belegen, wie viele Altnazis vor Gericht gestellt oder verurteilt wurden, wie viele Altnazis in den Ämtern geblieben sind, wie viele Denkmäler und Gedenkstätten errichtet wurden, wie viele Unterrichtsstunden über den Holocaust auf dem Lehrplan der Schulen standen. Der 8. Mai wurde in der DDR, schon 40 Jahre bevor Weizsäcker seine Rede hielt, als Tag der Befreiung gefeiert. Nun lautet ein Vorwurf, die DDR habe ihren Bürgern den Eindruck vermittelt, immer auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden zu haben. Selbst wenn es manchmal so gewesen ist, war wenigstens dort immer klar, welche Seite der Geschichte die richtige war.

Nichts provoziert den Widerstreit zwischen Ost und West wie der Vorwurf, die andere Seite führe das Schlimmste aus dem Nazi-Erbe ununterbrochen fort. Wenn ich darauf bestehe, dass der Antifaschismus der DDR ein aufrichtiger Versuch war, die Nazi-Zeit aufzuarbeiten, will ich nicht behaupten, dieser Weg sei makellos gewesen. Lieber sollten wir die Mängel vergleichen: Während die Aufarbeitung im Osten von oben kam, musste im Westen im Nachgang von unten gemacht werden, was von oben fehlte. Doch wenn der östliche und der westliche Teil Deutschlands heute anerkennen könnten, dass jede Seite (unterschiedliche) Fortschritte gemacht hat, diese Kontinuität zu durchbrechen, während sie diese (auch auf unterschiedliche Weise) aufrechterhielt, wäre eine geistige Wiedervereinigung endlich möglich.

Dass die Gleichsetzung von links und rechts nicht nur von historischem Belang ist, wurde bei der Landtagswahl in Thüringen deutlich. Sie wird umso bedeutungsvoller, als die rechtsradikalen Terroranschläge Deutschland nun zu einer bitteren Form der heutigen Normalität verhelfen. Auch wenn die Zahl der Ermordeten (noch) nicht diejenige von Norwegen, Neuseeland oder den USA erreicht, haben die Morde in Kassel, Halle und Hanau vieles mit diesen anderen gemeinsam: vor allem ideologisch. Von linken Morden gibt es in den letzten Jahrzehnten auch international keine Spur, während die Zahl von ermordeten people of color durch rassistische Rechtsradikale weiter steigt. Angesichts dessen ist es längst an der Zeit, mit dem Gerede von Rechts- und Linkspopulismus aufzuhören und die wirklichen Gefahren beim Namen zu nennen: Von Vergangenheitsaufarbeitung könnte sonst kaum die Rede sein.

  • SUSAN NEIMAN - Die Philosophin, 64, ist gebürtige US-Amerikanerin. Sie leitet seit dem Jahr 2000 das Einstein Forum in Potsdam. Ihr Buch Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können erscheint im März bei Hanser Berlin.
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Nationalsozialismus

In der DDR wurde die NS-Zeit verdrängt

Die Erinnerungskultur in Ost- und Westdeutschland ist sehr unterschiedlich. Die DDR war kein antinazistischer Staat. Eine Replik auf Susan Neiman

Ein Kommentar von Micha Brumlik in der ZEIT 11/2020

Dieser Artikel ist eine Replik auf Susan Neimans Beitrag über die Erinnerungskultur der Deutschen.

Als in Westdeutschland aufgewachsener Jude, der als junger Mann das Land verlassen hat, um nach zwei Jahren in Israel (reumütig?) zurückzukehren, kann ich Susan Neiman weitgehend zustimmen, muss ihr aber in einem Punkt deutlich widersprechen: ihrer Hochschätzung der DDR als einer antifaschistischen, einer antinationalsozialistischen Gesellschaft. Nein – die DDR hat noch stärker verdrängt als die Bundesrepublik.

Während in der Bundesrepublik die sogenannte "Aufarbeitung" – von "Bewältigung" lässt sich in keiner Hinsicht sprechen – schleppend, aber immerhin doch seit dem von Fritz Bauer 1963 eingeleiteten ersten Frankfurter Auschwitzprozess in Gang kam, um schließlich im Protest der Studenten 1968 gegen ehemalige nationalsozialistische Hochschullehrer einen ersten Höhepunkt zu erreichen, ließ die damalige Führung der DDR zwar in ihren Anfängen einige ehemalige Nationalsozialisten anklagen, verurteilen und erschießen. Sie beteiligte sich sogar – namens siebzehn in der DDR wohnender Überlebender – mit dem Rechtsanwalt Kaul als Nebenkläger am Frankfurter Auschwitzprozess, um gleichwohl beinahe alle ehemaligen NSDAP-Mitglieder in Partei, Staatsdienst und Wirtschaft zu integrieren – und das nach dem Motto: "Die Partei vergibt, aber sie vergisst nicht."

Damit wurden alle ehemaligen Nationalsozialisten zu erpressbaren und umso leichter kontrollierbaren, willfährigen Funktionsträgern. Und dennoch – oder ebendeshalb – existierte in der DDR eine von der Geschichtswissenschaft nach wie vor nicht ernst genommene antisemitische Szene, die von der Staatssicherheit teils argwöhnisch beobachtet, teils geheimdienstlich genutzt wurde.

Das belegt penibel die noch immer skandalöserweise viel zu wenig wahrgenommene Studie des Berliner Historikers Harry Waibel, die 2017 unter dem Titel Die braune Saat. Antisemitismus und Neonazismus in der DDR erschien. Waibel, der sich vor allem aus 2000 als "streng geheim" klassifizierten Quellenmaterialien – nicht zuletzt des Ministeriums für Staatssicherheit – informiert hat, konnte daher schon zu Beginn seiner Studie mitteilen: "Die Anzahl neonazistischer Vorfälle liegt bei etwa 7000, und etwa 725 Vorfälle betreffen Rassismus, und 900 Straftaten sind antisemitischer Natur, wovon etwa 145 die Schändungen jüdischer Friedhöfe und Gräber betreffen. Bei über 200 gewalttätigen Angriffen wurden durch Pogrome und pogromartige Angriffe tausende Personen aus über 30 Ländern verletzt, und mindestens 10 Personen wurden zum Teil in Lynchjustiz getötet. [...] Die Angriffe wurden in den allermeisten Fällen von jüngeren Männern durchgeführt und fanden in über 400 Städten und Gemeinden der DDR statt."

Auch ein Blick in die Schulgeschichtsbücher der DDR lässt wenig Zweifel offen, dass Antisemitismus und Schoah dort kaum angemessen behandelt wurden.

Wer davon immer noch nicht überzeugt ist, lese nur das 2019 erschienene Buch der ehemaligen DDR-Weltklassesprinterin Ines Geipel Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass. Dort ist zu lesen: "Der Osten [...] blendete in Wissenschaft, Bildung und Öffentlichkeit die Verfolgung und Ermordung von sechs Millionen Juden weitgehend aus, ja zog sie nicht einmal ernsthaft in Betracht."

Dem ist – nach den Erfolgen der AfD im Osten, nach Halle und Erfurt – nichts hinzuzufügen.


  • MICHA BRUMLIK - 72, ist Publizist und war Professor für Erziehungswissenschaft. Sein Buch Antisemitismus ist soeben erschienen.
Stolpersteine



dem oben gesagten ist aus der jeweiligen sicht kaum etwas hinzuzufügen. aber auch unbedingt die kontroverse zur erinnerungskultur in der ddr muss wohl so, wie sie der jude micha brumlik kurz & knapp formuliert hat, so unter der lobeshymne der amerikanischen jüdin susan neiman stehen, deren lobesduktus gerade auch im vergleich mit den nationalen gedenk-aufarbeitungen in den usa und anderswo zwar verständlich ist, aber doch zurechtgerückt werden muss. es gibt noch keinen grund, uns die absolution zu erteilen.

in der aufarbeitung der ns-"euthanasie"-verbrechen zum beispiel hat man jetzt zwar inzwischen einen groben "globalen" überblick erarbeitet: welche vernichtungsphasen, welche deportationstransporte von wo nach wo - welche tötungsarten - aber die details und die verwirrspiele der mörder zur vertuschung während ihres tuns aber auch noch danach sind noch nicht restlos aufgearbeitet. die holocaust- und euthanasie-morde waren so industriell kleinteilig organisiert und ausgeführt und brauchten ein so diffiziles fachliches "know-how", dass jede gewalttat von vielen "tätern" und mitwissern und den weisungen der jeweiligen fach-experten begangen wurde.

die allerschlimmsten nazitäter sind zwar schon in den 50-er jahren in ost und west abgeurteilt worden - aber dann ging es auch schon ans endgültige vergessen und abspalten, was heute noch vorherrscht oder aber jetzt, nach dem verschwinden der zeitzeugen, erst recht einsetzt. denn die "kleinen" und "kleineren" leb(t)en ja zum teil noch mitten unter uns und genossen ihren lebensabend mit voller rente, oder waren wieder zu rang und (neuen) namen gekommen, waren in die "richtigen" parteien eingetreten oder z.b. aber in den örtlichen schützen- oder karnevalsverein, bauten sich ihr klein-häuschen und hätschelten ihre familien oder zogen ihre kinder mit "starker hand" groß - je nachdem ...

da kann man auch heute nicht mehr "nachkarten", diese unterlassungssünden muss sich aber dieser staat und seine bewohner mit in die annalen schreiben - und daraus lernen. die nsu-morde aber z.b. zeigen zunächst wieder genau die alten reflexe: "vertuschen" aller umstände, akten dazu 120 jahre einmotten - jetzt lassen sich schon seit fast zwei jahren die richter zeit mit der abschließenden  urteilsbegründung, was ja nun nicht für souveränität und exakter rechtsstaatlichkeit spricht - andere mögen genau das andersherum sehen... solange keine urteilsbegründung da ist, ist der prozess nicht abgeschlossen - und am 22. april endet die frist zur erstellung der der urteilsbegründung - wenn sie bis dahin nicht vorlieht, fliegt alles auf und alles fängt von vorn an - und frau zschäpe wird erst einmal auf freien fuß gesetzt: das ist die deutsche wirklichkeit... - in 80 jahren kaum etwas dazugelernt...: umständlich und kleinpatschig. ich meine, bei den raf-urteilen war man wesentlich konsequenter ...

und was nutzen dann am 27.01. jeweils der festakt im bundestag mit den erschütterndsten zeitzeugenberichten oder die ritualisierten kranzniederlegungen oder vorträge der historiker an den gedenkstätten.

man hat die historische chance vertan, als nachkriegs-gesellschaft auch innerhalb der familien und ortschaften und regionen mal "reinen tisch" zu machen, stattdessen schwieg man sich aus, ließ die akribisch geführten akten in den archiven, soweit noch vorhanden, einfach vergammeln und z.t. verschimmeln, wie z.b. die rund 30.000 krankenakten von in der ersten, sogenannten "t4"-phase ermordeten opfer des systematischen patienten-massenmordes (ns-euthanasie), die 1990 im ehemaligen “ns-archiv” in einem unfrequentierten nebenraum des ministeriums für staatssicherheit der ddr gefunden wurden, wo sie wohl für anstehende denunziations- und erpressungszwecke abgelegt wurden.


und auch diese akten wurden dann nach ihrem auffinden 1990 nicht etwa unverzüglich der öffentlichkeit zu nachforschungen vielleicht auch noch zu den jeweils verantwortlichen und tätern zugänglich gemacht. nein - ausgerechnet eine israelische organisation iaapa stellte 2003 zunächst die klarnamen zu diesen 30.000 opfern nach rechtsprechung der bundesrepublik "illegal" ins internet, denn man monierte in falscher deutscher gründlichkeit datenschutz- und archivrechte. und erst seit august 2018 (also 28 jahre nach dem auffinden) kann man diese namen "offiziell" auch beim bundesarchiv online recherchieren, nachdem wohl auch noch die letzten damit im zusammenhang stehenden mitwisser und helfershelfer, also z.b. ärzte, nsv-schwestern, deportationsverantwortliche, verwaltungsbeamte usw. endlich verstorben sind.

susan neiman geht auf dieses immer noch anhaltende "vergessen" und "beschweigen" kaum ein, die zu einer ungeschönten beschreibung der deutschen vergangenheits-aufarbeitung dazugehören müsste. 

und mit den noch so monumentalen gedenkstätten oder auch den kleinen inzwischen über 70.000 stolpersteinen mit den namen jeden opfers ist es noch immer nicht getan, solange es moralische "pflicht-rituale" bleiben. denn durch die aufgesetzten trauerblicke und die tragende musik von arvo pärt ändert sich das notwendige tatsächliche erfassen und be-greifen kaum - auch nicht in der eigenen familiären hemisphäre - damit entsteht noch keine innere "läuterung" der gesellschaft insgesamt.

all die schandtaten von urgroßeltern oder großeltern waren keine "dazugehörenden kavaliersdelikte", das waren vollendete rassistisch konnotierte morde & totschlagsdelikte oder folterungen und das war lynchjustiz - und dazu waren diese menschen mit ein paar simplen tricks der propagandistischen verführung und der massenhysterie fähig: millionen haben dabei mitgemacht - und nur eine kleine handvoll hat dagegen aufbegehrt.

es bleibt noch viel zu tun.