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Umfrage zur Erinnerungskultur

ein einziger buchstabe - das vorangestellte "v" - macht aus "er-innern" ein "v"er-innern" ein "ver-innerlichen". und dieses verinnern ist es, was die ereignisse in der lebensbiografie dieser gesellschaft hier über die generationen hinweg von "äußerlichkeiten" (vielleicht: "die mir nichts angehen"), umwandeln in ein "sich-einlassen-können", etwas an sich herankommen lassen, um es aufzunehmen, um es zu verinnerlichen, um es mit zu durchleben.

durch-leben, zu was menschen in relativ kurzer zeit (12 jahre) mit ein paar einfachen stellschrauben-änderungen aus der propagandaabteilung der diktatur fähig sind, als mitläufer, als denunzianten, als weggucker, als verräter, als mittäter, als vollstrecker...

ein klitzekleines eigentlich harmloses aber bezeichnendes phänomen davon wurde dieser tage sichtbar gemacht, als die medien darüber berichteten, dass es anrufe bei der polizei gab: "hier gehen fünf menschen eng nebeneinander über den rasen auf dem gesperrten spielplatz, trotz-corona-kontaktsperre, und reden laut miteinander - kommen sie mal vorbei und rufen sie die bitte zur ordnung"...

das ist das klassische phänomen: ich will "regelkonform" zu den "guten" gehören - und ich schwärze die an, die sich offensichtlich fehlverhalten - gegen welche obrigkeit auch immer ...

zu den "guten" zu gehören, die offensichtliche "mehrheitsmeinung" mitzutragen, und "brav" zu sein gegenüber der obrigkeit, ist den menschen von der wiege zumeist anerzogen worden.

aber das ausmaß, das eine solche zustimmung zur nsdap zum beispiel tatsächlich hatte, schlägt nun, einige generationen danach, mit der gleichen soziologischen mechanik um: da ich zu den "guten" gehören will, leugne ich natürlich, dass uropa oder opa seinerzeit voll mitgemacht haben und dabei waren - und sogar das braune parteibuch in der tasche hatten.

und wie bei pippi langstrumpf - die dieser tage auch schon 75 wird, das buch von astrid lindgren erschien also, als der krieg justement zu ende ging - kann sich die heutige generation einfach unbelastet ohne jede skrupel die welt so malen, "wie sie ihr gefällt" - 

und (ur-)oma und (ur-)opa und großtante und großonkel einfach neu erfinden, wie sie es gelernt haben ja auch in den sozialen netzwerken - mit nicknames jeweils eine neue identität zumindest fantasievoll virtuell nebenher zu "leben" - und wieder nach der postmodernen prämisse: "ich bin viele"... - mal so und mal so...

und darum kommt es so auf dieses "verinnerlichen" an, dass man seinem eigenen gewissen wenigstens nichts vormacht und sich nicht selbst belügt oder seine altvorderen einfach verleugnet.

ein großteil der in dieser umfrage hier zur "erinnerungskultur in deutschland" befragten tut das aber: macht sich selbst und anderen etwas vor - und lügt sich selbst in die tasche. verinnerlichen heißt auch, offenen auges "wahr"zunehmen, was in der familie damals tatsächlich los war.

und da helfen auch nicht die stammelnden ersatzhandlungen: das stelenfeld in berlin zu besuchen - aus einer art reue, mit dem bus und der abschlussklasse nach auschwitz und majdanek fahren, und ein referat halten zu einem einzelschicksal der euthanasie-morde - und dann hat man ja wohl genug gebüßt: ich mal mir die welt, wie sie mir gefällt ... 

das problem ist, dass durch verschweigen, durch scham - und schlicht aus unwissenheit und unsensibilität - es oft zu einer vernünftigen aufarbeitung der eigenen herkunfts-familiengeschichte durch schonungslose recherche erst gar nicht kommt.

von einem gestalttherapeuten habe ich vor jahren bereits seine definition des wortes: "ge-schichte" gehört: 

ge-schichte ist das - wie das wort schon andeutet - in uns aufgetürmte, ge-schicht-ete selbst erfahrene und überkommene, vererbte, weitergegebene, erspürte erleben in uns, das sich als ureigene "erfahrung" wie jahresringe über- und durcheinander "schichtet", verstrickt und verkettet und uns individuell prägt und unser verhalten bestimmt - "bis ins 3. und 4. (generations)glied" - wie die bibel in "exodus 20" feststellt - eine zeitspanne, die in psychologischen studien zur "trans-generationalen übertragung" in den heutigen zeiten voll bestätigt wird (click = bundestags-drucksache der 'wissenschaftlichen dienste' zu diesem thema).

geschichte durchläuft also "phasen" des geschehens, die der mensch sich in seinem leben zu eigen machen muss - zumindest muss er sich aktiv damit auseinandersetzen - und sie "lagern sich ab" in seinem inneren erfahrungsschatz - und üben durch ihn ihre choreografie in und an ihm aus, als "designs" und "performances".

und oftmals bestehen diese performances der persönlichen erinnerungkultur im lauf der jahre sicherlich auch aus mancherlei "pirouetten" und "purzelbäumen" und der "schraube rückwärts" in einem ansonsten vielleicht relativ überschaubaren "geschichtsdesign".

und für jede verhaltens-entscheidung gibt es eben tausend andere möglichkeiten - die hat uns unsere uns eingeborene und mitgegebene "freiheit" eingeräumt - und da ist mein eingebautes und mir überkommenes "navi" für "moral" und "gut" und "schlecht" ein guter wegweiser - wenn wir seine inneren signale überhaupt wahrnehmen können - evtl auch als ad-hoc-"bauchentscheidung", wo ja das verinnerlichte [!] "ge-schichte-te" eingelagert erscheint.

und da kommt dann unsere jeweilige "antwort" auf die geschehnisse in und um uns herum ins spiel - unsere "ver-antwort-ung" - also quasi unsere gewählten bewegungsabläufe- und entscheidungsantworten auf die jeweiligen situationen im äußeren und inneren, im uns prägenden hier und jetzt: ecce homo - siehe: ein mensch...

und ob die "zuschauer" im saal, also unsere umwelt, nun mehrheitlich nach jeder sequenz dazu beifall klatschen oder doch trampeln und pfeifen oder sich gar zum "standing ovation" aus ihren sesseln erheben für das jeweilig irgendwie aufgestülpte oder gewählte oder verantwortete "design" - und für die performance und die choreografie-"antwort" dazu - das sei mal dahingestellt.


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Geschichte · Christian Staas
Das Ende der Selbstgewissheit

Eine von der ZEIT in Auftrag gegebene Umfrage zeigt: Der Umgang mit der NS-Vergangenheit ist so umkämpft wie lange nicht. Und die jüngsten Attacken von rechts treffen auf eine Erinnerungskultur, die fragiler ist, als es scheint
Wie halten es die Deutschen mit der Geschichte, 75 Jahre nach dem 8. Mai 1945, nach den Verheerungen des Weltkrieges, nach Zusammenbruch und Befreiung?

Ein paar Antworten:

53 Prozent der Bundesbürger wollen einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen.

77 Prozent halten es für ihre Pflicht, Diktatur und Holocaust nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

66 Prozent möchten mehr über die Geschichte des Nationalsozialismus wissen.

59 Prozent finden es übertrieben, dass ihnen das Thema »fast täglich in den Medien vorgehalten wird«.

Im Auftrag der ZEIT hat das Institut policy matters am Anfang dieses Jahres 1044 Frauen und Männer ab 14 Jahren nach ihren Einstellungen zur NS-Zeit befragt. Die Ergebnisse könnten, selbst wenn man sie mit der gebotenen Skepsis betrachtet, widersprüchlicher kaum sein: Die Deutschen wollen sich erinnern und wollen es doch nicht.

Historische Fragen sind Identitätsfragen, und seit je ist die Haltung zur NS-Vergangenheit hierzulande ein Gradmesser für den Zustand der politischen Kultur. Daran hat sich nichts geändert, auch wenn die großen Geschichtsdebatten vorbei sein mögen. Die sogenannte Neue Rechte hat unterdessen der Erinnerungskultur selbst den Kampf angesagt, und spätestens seit die AfD in den Bundestag eingezogen ist, erfolgen ihre Angriffe auf großer Bühne. Dass zugleich die letzten Zeugen sterben, ist eine bittere Koinzidenz: Die kollektive Erinnerung wird schon bald ohne jene auskommen müssen, die sich noch erinnern können.

Das Bild, das die Umfragedaten zeichnen, kann man da, je nach Gemütslage, als beruhigend oder beunruhigend empfinden. Immerhin sprechen sich stabile 77 Prozent der Befragten für Erinnern und Gedenken aus. Aber meinen sie, was sie sagen? Oder bestätigt sich hier der finstere Verdacht, den der Gießener Politologe Samuel Salzborn kürzlich in seinem Buch Kollektive Unschuld geäußert hat: dass die Erfolgsstory von der Aufarbeitung eine »Lüge« sei, ein dünner Firnis, unter dem sich ein Abgrund von Unbelehrbarkeit, Rassismus und Antisemitismus auftut wie zuletzt in Halle und Hanau?

Sieht man genauer hin, trifft weder das eine noch das andere zu: Es gibt nichts zu beschönigen – und nicht viel zu entlarven. Stattdessen scheinen sich in den Zahlen diffuse Affekte abzubilden, die durchaus in einer Brust wohnen können. Es schließt sich nicht aus, die historische Auseinandersetzung für wichtig zu halten, eine vage Sehnsucht nach »Normalität« zu verspüren (56 Prozent meinen »voll und ganz« oder »eher«, dass ständiges Erinnern »ein gesundes Nationalbewusstsein« verhindere) und, vielleicht aus Unwissenheit, zu denken: »Die Masse der Deutschen hatte keine Schuld, es waren nur einige Verbrecher, die den Krieg angezettelt und die Juden umgebracht haben« (insgesamt 53 Prozent Zustimmung).

Womöglich spiegelt sich in solcher Ambivalenz sogar ein deutscher Normalzustand. Denn sosehr man, wie jüngst die Philosophin Susan Neiman in ihrem Buch Von den Deutschen lernen, die Erinnerungskultur dieser Republik als Errungenschaft begreifen darf, war und ist sie dies im Wortsinn: ein unablässiges Ringen der Gesellschaft (und jedes Einzelnen) mit sich selbst. Die stolze Gewissheit, es im »Aufarbeiten« gleichsam zum Weltmeister gebracht zu haben, hat darüber zuletzt recht großzügig hinweggetäuscht.

Anfechtungen gab es immer wieder: In den Achtzigerjahren – die Deutschen lernten gerade das Wort Holocaust zu buchstabieren, und auch die Konservativen feierten nun den 8. Mai als »Tag der Befreiung« – entbrannte über die relativierenden Thesen Ernst Noltes der Historikerstreit. In den späten Neunzigern litt Martin Walser öffentlich unter der »unaufhörlichen Präsentation unserer Schande«, und der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein erblickte im geplanten Holocaust-Mahnmal in Berlin ein von außen aufgezwungenes »Schandmal«. Die Gleichzeitigkeit von Schuldabwehr und dem Bekenntnis »Nie wieder!« scheint geradezu das Signum der deutschen Haltung zur NS-Geschichte zu sein.

Besonders im Familiengedächtnis haben sich die alten Muster konserviert. Opa ist heute weniger Nazi denn je: Gerade einmal drei Prozent geben in der aktuellen Umfrage an, ihre Vorfahren hätten das Hitler-Regime befürwortet; 30 Prozent dagegen glauben, aus Familien von Nazi-Gegnern zu stammen. Selbst wenn man die Maßstäbe für die Anhängerschaft sehr eng und die für die Gegnerschaft sehr weit fasst, stehen diese Zahlen in keinem Verhältnis zur historischen Realität.

Die Schlussstrich-Forderung dagegen hat über die Jahre an Zugkraft verloren. Während die Akzeptanz eines selbstkritischen Geschichtsbildes wuchs, schrumpfte die Jetzt-ist-auch-mal-gut-Fraktion nach Befragungen des Allensbach-Institutes von 66 Prozent im Jahr 1986 auf 48 Prozent 2009.

Deuten die nun ermittelten 53 Prozent eine Wende an? Dafür fehlt es an validen Daten. Die Selbstverständigungsdebatte über die NS-Geschichte aber, so viel lässt sich sagen, ist nicht dabei, sich zu harmonisieren. So übertreffen die Rede vom »Vogelschiss« und die Forderung nach einer »erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad« frühere Einwürfe nicht nur an Grobschlächtigkeit.

Die nach Parteipräferenz aufgeschlüsselten Umfragedaten lassen außerdem keinen Zweifel daran, dass die AfD-Wähler nicht anders denken als die Partei-Demagogen. 80 Prozent und mehr teilen folgende Aussagen »ganz und gar« oder »eher«: dass, »gemessen an der langen Geschichte unseres Landes«, der Nationalsozialismus einen »viel zu großen« Raum einnehme; dass man als Deutscher »wegen der NS-Geschichte nicht mehr offen über bestimmte Themen diskutieren« könne; dass es Zeit für einen »Schlussstrich« sei. Die Liste ließe sich fortsetzen. Für 39 Prozent ist die Judenverfolgung »sehr weit weg« und nicht von Interesse. 58 Prozent finden, der Nationalsozialismus werde zu negativ dargestellt; er habe »auch positive Seiten« gehabt.

Der rechte Rand hat sicherlich einen polarisierenden Effekt auf das Gesamtbild. Gänzlich zu erklären aber ist das widersprüchliche Umfrageergebnis damit nicht. Vielmehr zeigt sich, dass der Angriff von rechts kein festgefügtes Bollwerk des »Schuldkults« trifft, wie die Rechte insinuiert, sondern ein fragiles Gebilde, das in stetem Wandel begriffen ist.

Verschoben hat sich in den vergangenen Jahren nicht nur der politische Rahmen. Auch was 59 Prozent der Befragten beklagen – dass der Nationalsozialismus in den Medien übermäßig präsent sei –, ist kaum mehr der Fall (wenn es denn jemals zutraf). Der Spiegel etwa, notorisch im Ruf stehend, mit Hitler Auflage zu machen, hat seit 2016 keine einzige NS-Geschichte mehr auf dem Titel gehabt.

»Hitler sells«, spottete der Freiburger Historiker Ulrich Herbert 2015 in dieser Zeitung. Das stimmte schon damals nicht mehr. Bei den großen Verlagen wie S. Fischer und C. H. Beck haben es NS-Titel seit mindestens zehn Jahren schwer. Selbst im ZDF, wo Guido Knopp den Zuschnitt sämtlicher Aspekte auf Hitler bis an die Grenzen der Selbstparodie getrieben hat, sind Dokumentationen zum »Dritten Reich« deutlich seltener geworden. Das Thema verlagert sich mehr und mehr in Spartenkanäle und Mediatheken. Keiner muss mehr »wegschauen«, wie Martin Walser es 1998 für sich reklamierte. Es genügt, nicht hinzusehen.

Die erinnerungskulturelle Hochphase zwischen 1990 und 2010, sagt Stefan Brauburger, Knopps Nachfolger beim ZDF, »wurde maßgeblich durch die Archivöffnungen in Osteuropa und Russland nach dem Ende des Kalten Krieges ausgelöst«. Zu heben gab es vor allem Quellen über den Krieg und den Holocaust; nicht zuletzt deshalb hätten diese Themen viele Jahre lang überwogen. Diese Welle sei gebrochen, die Einschaltquoten seien danach zurückgegangen. Von »Müdigkeit« und »Sättigung« sprechen auch Brauburgers Kollegen in den Buchverlagen.

An anderer Stelle dagegen ist der Zulauf überwältigend: in den Gedenkstätten. Bevor sie infolge der Corona-Pandemie schließen mussten, vermeldeten sie vielerorts Besucherrekorde.

»Eine Ursache ist der boomende internationale Tourismus«, sagt Volkhard Knigge, der seit 1994 die KZ-Gedenkstätte Buchenwald leitet (nun folgt ihm Jens-Christian Wagner nach, der bisherige Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten). Buchenwald und andere ehemalige Lager seien aber auch mehr denn je Orte der gesellschaftspolitischen Debatte – und der Konfrontation.

Mindestens einmal pro Monat haben es Knigges Mitarbeiter mit rechtsextremen Provokationen, Schmierereien oder Vandalismus zu tun. Seit 2015 registrieren sie bei der Zahl der Vorfälle dramatische Ausschläge nach oben (ZEIT Nr. 27/19). Auch das Schweigen halte wieder Einzug. Nicht das entsetzte, sprachlose, sondern das kalte, unerschütterbare. Mitunter trügen es gesamte Schulklassen zur Schau, als wollten sie sagen: »Wir machen das hier nicht mit.« An manchen ostdeutschen Schulen, sagt Knigge, dominierten rechte Lehrer die Kollegien.

Er sehe allerdings auch eine erstarkende Gegenbewegung. Vor allem junge Leute suchten Buchenwald als einen »Ort ethischer, politischer und historischer Vergewisserung« auf und wollten wissen: Was genau ist geschehen? Was hat das mit heute zu tun?

Eine ähnliche politische Wachheit nimmt Florian Dierl wahr, der das Dokumentationszentrum auf dem früheren Reichsparteitagsgelände in Nürnberg leitet. Die rechtsextremen Übergriffe seien sogar rückläufig. »Vermutlich«, sagt er, »ist das Provokationspotenzial hier einfach geringer als in einer KZ-Gedenkstätte.«

Diese Beobachtung verrät etwas über die deutsche Erinnerungskultur als Ganzes: In den vergangenen 40 Jahren hat sie sich gleichsam von Nürnberg nach Buchenwald verlagert, von der Frage nach dem Regime, nach dessen Aufstieg und Machterhalt, hin zum millionenfachen Massenmord. Wer den Geschichtsdiskurs an seinem neuralgischen Punkt treffen will, zeigt daher nicht auf der Zeppelintribüne den Hitlergruß, sondern ritzt ein Hakenkreuz in die Leichenwanne eines Lager-Krematoriums.

Über allem, sagt der Jenaer Zeithistoriker Norbert Frei, stehe seit je die Frage: »Wie konnte es dazu kommen?« Bis in die Siebzigerjahre habe sie den 30. Januar 1933 gemeint. Seit den Achtziger- und Neunzigerjahren meine sie den Holocaust.

Diese Verschiebung ging mit der Stabilisierung der westdeutschen Demokratie einher – und mit einer allmählichen empathischen Hinwendung der Täterkinder zu den Opfern des Nazi-Terrors. An die Stelle der Faschismus-Analysen der 68er trat die Analyse von Antisemitismus und Rassismus; statt die zwölf NS-Jahre von ihren Anfängen her zu begreifen, erklärt man sie mehr und mehr von ihrem Ende her, den Erschießungsgruben und Todeslagern.

So wichtig dieser Wandel war, hat er mitunter zu einer fragwürdigen Verkürzung des Nationalsozialismus auf den Holocaust geführt. Ein Paradigma, das heute, da die Erinnerung an Weimar wieder wach wird, an Grenzen stößt. So lassen sich mit dem Fingerzeig auf die deutschen Verbrechen zwar der Rassismus und Antisemitismus der neuen Völkischen als das benennen, was sie sind: eine tödliche Gefahr. Um die neurechte Attacke auf Demokratie und Liberalismus mit historischer Tiefenschärfe zu erfassen, ist der Hinweis auf die Leichenberge von Auschwitz jedoch eher ungeeignet.

Der verengte Blick auf Mord und Lagerterror hat zudem eine Tendenz zur emotionalen Überwältigung begünstigt, die in Reinform wenig dazu taugt, die historische Urteilskraft zu stärken. Vermutlich liegt hier auch eine Ursache für das in der Umfrage bekundete Unbehagen an einem gewissen erinnerungspolitischen Konformitätsdruck. »Man kann seine Meinung über die NS-Vergangenheit in Deutschland nicht ehrlich sagen« – diesem Satz schließen sich immerhin 42 Prozent der Befragten an. Knapp die Hälfte gibt zu Protokoll: »Ich habe den Eindruck, dass man, wann immer von den Verbrechen des Nationalsozialismus die Rede ist, Betroffenheit zeigen muss, und das nervt mich.« Die oft abwehrend vorgetragene Selbsteinschätzung, doch schon so viel über die NS-Zeit zu wissen, könnte ähnliche Gründe haben: Die »richtige« Haltung einzunehmen lernen schon Schüler, ohne sich mit allzu vielen Fakten belasten zu müssen. Betroffensein geht schnell.

Vielleicht, sagt Norbert Frei, habe auch der Ruf nach einem »Schlussstrich« vor diesem Hintergrund einen anderen Klang als früher. Entspringe er heute doch nicht mehr dem Bedürfnis der NS-Zeitgenossen, in Ruhe gelassen zu werden, sondern dem Gefühl der Nachgeborenen, das abverlangte Bewältigungspensum erfolgreich absolviert zu haben. Das Wissen über die Zerstörung der Weimarer Republik sei in der Öffentlichkeit unterdessen weithin verschüttet worden. Neuere Forschungen dazu? Gibt es kaum.

Im Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände plant man derzeit eine neue Dauerausstellung; in drei bis vier Jahren soll sie fertig sein. Man wolle sich in Zukunft noch stärker auf den Ort selbst besinnen, sagt Florian Dierl, und weniger in der Breite erzählen. Dafür soll, am konkreten Beispiel Nürnberg, der Zeithorizont erweitert werden – von den Anfängen der NS-Bewegung in Weimar bis zur Nachgeschichte in der Bundesrepublik.

Lange Linien ziehen und mehr historische Konkretion wagen, lautet auch Volkhard Knigges Antwort. »Die Politikerreden, wie dieses Jahr zum Auschwitztag«, findet er, »sind in dieser Hinsicht besser geworden.« Die Zeiten des »selbstgefälligen Stolzes auf die eigene Aufarbeitungsleistung« seien jedenfalls vorbei. Es herrsche ein »neuer Ernst«. Seit die AfD in den Parlamenten sitze, sagt Knigge, sei die Mahnung, einer Wiederholung der Geschichte vorzubeugen, keine Floskel mehr.

Ob der rechte Angriff die Ambivalenten, die Müden, die Selbstgefälligen und Gelangweilten gleichgültig lassen, wachrütteln oder in ihren Ressentiments bestärken wird, ist nicht ausgemacht. Anzeichen liefert die aktuelle Umfrage für alles zugleich.

Ein vorsichtiger Optimismus ist allerdings erlaubt: 74 Prozent der Befragten geben an, dass die Beschäftigung mit der NS-Diktatur sie für Ausgrenzung und Ungerechtigkeit sensibilisiert habe. 53 Prozent ziehen aus der Vergangenheit die klare Konsequenz, dass »wir Deutsche eine besondere Verantwortung gegenüber Verfolgten aus anderen Ländern« haben. Auch die Hoffnung, aus der Geschichte lernen zu können (76 Prozent), scheint ungebrochen.

Bewirkt die Neue Rechte mit ihren Attacken am Ende das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt? Wird die Erinnerungskultur aus den gegenwärtigen Konflikten gestärkt hervorgehen?


Wandeln müssen wird sie sich so oder so – um das Ende der Zeitzeugenschaft zu verkraften und um Antworten zu finden für eine neue Generation und eine politische Welt, die sich von der nach 1945 geschaffenen transnationalen Ordnung schneller entfernt denn je. In der Vergangenheit war das Erinnern oft in Phasen des Streits besonders lebendig. Dass sich im deutschen Selbstgespräch die Widersprüche verschärfen, ist so gesehen eine gute Nachricht.

Ambivalenz und Abwehr
Ergebnisse der ZEIT-Umfrage zur Erinnerungskultur

Schlusstrich ziehen?

"75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sollten wir einen Schlussstrich unter die Vergangenheit des Nationalsozialismus ziehen."

Nicht vergessen?

"Es ist für uns Deutsche Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Geschichte des Nationalsozialismus und der Holocaust nicht vergessen werden."


Mehrheit unschuldig?

"Die Masse der Deutschen hatte keine Schuld, es waren nur einige Verbrecher, die den Krieg angezettelt und die Juden umgebracht haben."







(aus DIE ZEIT 19/2020, S.17 Geschichte)

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dieser gesamttext bildet auch eine neue unterseite auf der "sinedi-website": click here

Nicht mehr Pünktchen sondern Anton!

Freiheit trotz Corona-Pandemie

Wollt ihr alle nur kleine Pünktchen sein?

Was wir noch dürfen, entscheidet dieser Tage der Staat. Er sagt, er will uns das Leben retten. Aber mit denkenden, freien Menschen geht das so nicht.

Ein Gastbeitrag in der ZEIT von Alfred Nordmann

  • Alfred Nordmann ist Professor für Wissenschafts- und Technikphilosophie an der TU Darmstadt. Er ist zudem derzeit Gastprofessor an den Technischen Universitäten in Sankt Petersburg (SPbPU) und im südchinesischen Guangzhou (SCUT).
Jeder von uns ein Risikofaktor. Wenige Kontakte, seltene Ansteckung. Doch in einer Demokratie kann das nicht alles sein. © Klaus Vedfelt/​Getty Images



Wollt ihr alle nur kleine Pünktchen sein?

Was sind wir noch? Seitdem Corona die Welt im Griff hat, sind wir eine Anhäufung kleiner Punkte. Sie irren im Raum umher und kollidieren zufällig mit anderen Punkten. So jedenfalls stellt es eine Grafik der Washington Post dar. Einer dieser Punkte ist mit dem Virus infiziert und gibt die Infektion bei jedem Zusammenstoß weiter. In exponentieller Windeseile verbreitet sich die Seuche, und bald schon hat sie die ganze Population erfasst. Wenn nur die Bewegungsfreiheit der Punkte eingeschränkt wird, lässt sich die Ansteckungsrate unter Kontrolle bringen. So eindrucksvoll, so überzeugend. Und doch befremdlich.  

Dass Läden und Restaurants geschlossen sind und Menschen Kontakte meiden müssen, scheint bereits etwas zu verändern. Darum soll bald entschieden werden, wie es weitergehen soll. Das ist eine politische Entscheidung, die sich auf Wissen und Wissenschaft stützt. Dazu gehört das derzeit tonangebende Wissen um die kleinen Punkte, die jeden von uns als ein Risiko definieren, das es einzudämmen gilt.

Erkennen wir uns darin wirklich wieder? Sind wir nichts weiter als blind agierende Partikel, die sich scheinbar ohne Sinn und Verstand durchs Leben bewegen, beobachtet aus der Vogelperspektive einer Regierungskunst, die die Bevölkerung als Ganze schützen und kontrollieren will? Vielleicht gibt es ja ein anderes Wissen, das wir Bürgerinnen und Bürger ins Spiel bringen können. Schließlich verstehen wir das Problem inzwischen genauso gut wie die Epidemiologen und Politikerinnen und haben vielleicht auch Lösungen zu bieten.

Hier stehen verschiedene Wissensformen und Denkweisen in Konkurrenz: Einerseits die im 19. Jahrhundert geprägte Epidemiologie, andererseits die im 21. Jahrhundert aufkommenden Bürgerwissenschaften, hervorgegangen aus der Umweltbewegung und den Open-Source-Idealen der Hackerkultur. 

Der Statistik verdanken wir viel. Mit ihr tritt das Populationsdenken in die Wissenschaften des 19. Jahrhunderts – also die Betrachtung einer möglichst großen Anzahl von Teilchen oder Individuen. Dies kennen wir von den physikalischen Gasgesetzen, aus der Thermodynamik und der Evolutionsbiologie, der Demografie und eben auch der Epidemiologie, also der Wissenschaft der sich weit verbreitenden Krankheiten. 

Dabei repräsentiert die Ansammlung punktförmiger Teilchen die Wahrscheinlichkeiten der Sterblichkeit oder der Kriminalität, der Kollision oder Ansteckung. Der moderne Staat und der heutige Umgang mit der Corona-Krise beruhen hierauf.

Wir können selber denken und Verantwortung übernehmen

Das Wissen selbstverantwortlicher Bürgerinnen besteht darin, dass sie unterscheiden können und angemessene Verhaltensweisen entwickeln. Moralische Konsumenten kaufen fair produzierte Waren, Vereine organisieren Selbsthilfe, Kommunalpolitik schafft Modelle für Nachhaltigkeit. Tagtäglich trennen wir unseren Müll und üben uns dabei in sorgsame Umgangsweisen ein, stellen unsere Verantwortlichkeit unter Beweis. 

Die Chinesinnen führen uns eine ähnlich wissensbasierte Technik vor, wenn sie ihren Mundschutz vom Ohr streifen, behutsam ablegen und dann so wieder umlegen, dass sie die vielleicht infizierte Außenseite gewiss nicht berührt haben. Diese kleinen Alltagsrituale bedeuten viel. Wir können uns problemorientiert organisieren, effektiv handeln und mehr Verantwortung übernehmen, als einfach nur daheim zu bleiben: Wer Mülltrennung beherrscht, kriegt auch Abstandhalten hin. Maschinen können den Müll besser trennen als wir. Aber es ist gut für Gesellschaft und Umwelt, dass fehlbare Menschen das tun. Dies gilt ähnlich für die Maskenpflicht. Sie wäre vor allem ein Wachsamkeitsritual.

Die ausdrücklich so genannten Bürgerwissenschaften gehen weiter. An sie richtete sich kürzlich ein Aufruf der Bundesregierung: "Sei mit deinen Fähigkeiten dabei, wenn wir Lösungen aus der Gesellschaft für die Gesellschaft entwickeln." Innerhalb von 48 Stunden haben über 28.000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen mit mehr als 1.500 Projektideen geantwortet. Im #WirVsVirus-Hackathon präsentieren sich schon die Corona-Tracking-Apps, Projekte zu Hilfsmittelverteilung, Krisenmanagement und Kinderbetreuung. 

Auch die Verbesserung von Schnelltests stand auf dem Plan. Nachbarschaftlich einfach einsetzbar sollen sie sein, global frei und schnell verfügbar. Dafür fanden sich nach wenigen Tagen schon internationale Partnerschaften mit Unternehmen und biochemischen Forschungslaboren, wurden Verwertungsrechte geklärt und Kostenpläne entwickelt. Vorbildliche Technik mit globaler Ausrichtung – aus dem Stand heraus?

Das eine tun, ohne das andere zu lassen

Hackathons schöpfen aus dem Überfluss guter Ideen. Um das Virus zu isolieren, können wir Abstand halten und selbstgemachten Mundschutz tragen und Risikogruppen separieren und flächendeckende Schnelltests anbieten und Fieber messen und gedrängte Menschenmengen vermeiden und Kapazitäten ausbauen und Apps entwickeln. Auf keine dieser Maßnahmen ist Verlass und nichts ist so wirksam wie Ladenschließung und Kontaktverbot. Im Zusammenspiel der unvollkommenen Maßnahmen entfaltet sich aber ein großes Instrumentarium, mit dem sich Ansteckungsrisiken fein abgestimmt deutlich reduzieren lassen.

Viel ist in den letzten Wochen passiert und scheint zu funktionieren. Dafür gibt es nun zwei Erklärungen. Es hat Schließungen und Kontaktverbote gegeben, gleichzeitig gehen Menschen jetzt anders, umsichtig miteinander um. Wenn wir die Ansteckungskurve weiterhin flach halten wollen: Muss es bei den Schließungen, den Kontaktverboten bleiben oder sind die neu geregelten Umgangsweisen und vielseitigen Vorkehrungen gegen eine Tröpfcheninfektion hinreichend? Die Epidemiologie hat eine Antwort darauf, das bürgerliche "Wir schaffen das" eine andere.

"Wie lange noch?" Die Antwort darauf gibt die Epidemiologie selbst. Sie wird gebraucht, solange es noch keinen Impfstoff und keine Therapie gibt. Nur in Abwesenheit eines besseren Wissens über Ursachen und Wirkungen, nur wenn ein fein abgestimmtes Handeln unmöglich ist, bieten statistische Bevölkerungsmodelle die beste Orientierung. Solange uns das Virus einfach nur fremd ist, müssen seine Träger ausgegrenzt und weggesperrt werden. Aber das Coronavirus ist uns nicht mehr fremd, keine unbekannte Gefahr. Es handelt sich bei ihm um Tröpfchen, die ganz gesund aussehende Mitmenschen beim Sprechen, Husten und Niesen absondern. Wir verfügen über viele und immer weitere Sozialtechniken, um uns und besonders Gefährdete vor dieser Gefahr zu schützen.

Auch dies ist eine bewährte Sozialtechnik: Um Menschen gefügig zu machen, müssen sie nicht gefoltert werden. Es reicht oft schon, ihnen die Folterwerkzeuge vorzuführen. So können wir unsere jetzige Situation verstehen: Wir durften uns die Kontaktverbote und Schließungen ein paar Wochen lang aus der Nähe anschauen. Lang genug. Das Angstbild des Risikofaktors Mensch aus der Washington Post im Hinterkopf, die Sozialtechniken verantwortlicher Mitgestaltung vor Augen, gehen wir gerne noch 18 Monate geduldig mit Mundschutz und abgezähltem Einkaufswagen in den Supermarkt, wenn sich dadurch ein funktionierendes Gemeinwesen erhalten lässt, einschließlich Theaterabend, Einkaufsparadies und Biergarten.

Oft heißt es, dass die Einschränkungen des öffentlichen Lebens einen Demokratieverlust bedeuten. Dieser wäre aber nicht vor allem der Selbstherrlichkeit plötzlich ermächtigter Politikerinnen und Politiker geschuldet. Vielmehr verdankt er sich der uneingeschränkten Geltung einer Wissenschaft, die Menschen auf Risikofaktoren reduziert und die Bevölkerung kontrollieren muss. Jetzt sollten wir uns fragen, ob eine bürgerwissenschaftlich demokratisierte Epidemiologie möglich ist. Eine Seuchenbekämpfung also, die nicht von oben herab regiert, sondern unsere geschulten Verhaltensweisen und wache Erfindungskraft mobilisiert.

Müssen wir zum Beispiel akzeptieren, dass wir per App im Namen der Gesundheit digital überwacht werden? So eine App sollte Nutzerinnen und Nutzern lieber helfen, selbstverantwortlich durch eine Welt zu navigieren, in der es das Coronavirus gibt. Es geht nicht darum, strenge Maßnahmen zu früh zu lockern. Aber es geht darum, mit dem Risiko gemeinsam umzugehen. Wir sind ein soziales und freies Land, wirtschaftlich stark, verantwortungsbewusst, kreativ und digitalisiert. Warum gehen wir nicht auch diese Krise nicht genauso an – wie eine Gesellschaft, die Zukunft hat?

das waren natürlich überzeugende grafiken zur pandemie: die mit den tanzenden pünktchen, die sich bei einem zusammenstoß alle verfärbten im verhältnis von ca. 1:3 - und die quasi grafisch bewiesen, wie recht doch die "obrigkeit" und virologen mit ihren rigorosen verfügungen und kontaktverboten hatten. mich hatte das wenigstens nach anfänglicher skepsis auch schweren herzens überzeugt - und ich bin - selbst zur risikogruppe gehörend - nun seit 3-4 wochen in selbstquarantäne zu hause und tippe hier in meinen blogs rum und bastele grafiken, die ich manchmal auch gern zumindest als "meine kunst" bezeichne.

ab und zu bin ich zwar einkaufen gewesen, obwohl wir genug toilettenpapier hatten, aber wir brauchten ja trotzdem noch das ein oder andere zu essen - aber mehr war da nicht: einmal bin ich ohne einkauf durch einen kurort hier in der gegend geschlendert, aber als ich die verbarrikadierte stammeisdiele dort sah, blutete mir das herz - also wieder ab nach hause...

und doch regte sich in mir hier und da bei allen aufgegebenen vehaltensmaßregelungen auch hin und wieder mein mir schon vor zig jahren von meiner mutter apostrophiertes "kritikastertum" - und ich dachte mir: das müsste doch auch alles anders gehen - der staat nimmt mir mit seinen verordnungen ja jegliche selbstverantwortung ab - und ich laufe - ganz im gegensatz zu meinem in den 68-er jahren ausgebildeten protestpotenzial - einfach so mit, schüttele mein weißgewordenes haupt - und staune über geradezu "zwanghafte" maskenträger im aldimarkt, denen die 2 m abstand immer noch zu wenig sind und die regelrecht flüchten vor mir im regalgang, der ich keine schutzmaske angelegt habe und auch nicht anlegen möchte - aber wo ich sowieso nicht weiß, woher ich die beziehen sollte.

ich habe beschlossen, solange man mir nicht amtlicherseits eine schutzmaske in den briefkasten wirft oder anderweitig überstellt, muss ich wohl auf diese "wohltat" angeblich für mich und andere verzichten.

und nun lese ich hier diesen hoffnungsvollen und erfrischenden artikel von professor nordmann, der mein unbestimmtes unbehagen der letzten tage gekonnt und mit umsicht und verantwortung in worte und eigentlich nicht zu wiederlegende argumentationen fasst.

und solange mir meine "obrigkeit" nicht vorschreiben muss, wen ich bei der nächsten wahl anzukreuzen habe und mir das als "mündigen bürger" überlässt, wo ich mein kreuz setze, kann er auch wirklich - solange ich kann  - mit mir rechnen, dass ich mich höchst (selbst-)verantwortlich im weiteren verlauf der krise mit rücksicht bewegen werde.

und vielleicht darf ich dann ja doch noch in ein paar wochen in mein für mich gesperrtes ferienbundesland schleswig-holstein fahren, um mich von dem ganzen trubel zu erholen: vergelt's gott...

die ewige präsenz der vergangenheit: je gestern - desto heute - umso morgen


Aus der Serie SINN & VERSTAND

Erinnerungskultur

Was kann man von den Deutschen lernen?

Trotz Hanau – kein anderes Land der Welt hat sich seiner Vergangenheit so ermutigend gestellt.

Von Susan Neiman in der ZEIT 11/2020



Die Vergangenheit ist präsent: Foto von Klaus Pichler aus der Serie "Staub", 2010. © Klaus Pichler/​Anzenberger (aus der Serie "Dust" 2010)




Wer im Frühjahr 2020 in Deutschland behauptet, die Welt könne etwas von den Deutschen lernen, erntet nicht nur Verwunderung, sondern Spott; vor allem, wenn es um den originärsten aller deutschen Exporte geht: die Vergangenheitsaufarbeitung. Der Begriff "Erinnerungskultur" ist mir zu euphemistisch: Es sind schließlich nicht beliebige Erinnerungen, die hier wachgehalten werden sollen. Im Vordergrund steht das Erinnern an Traumata, und zwar in erster Linie an solche, die das eigene Land produziert hat. Bewältigt werden können solche Traumata vermutlich nie, doch ähnlich wie Schuld können sie aufgearbeitet werden, auch wenn eine Restschuld immer bleibt. Meine These: Kein anderes Land der Welt hat sich annähernd einer solchen Aufgabe gestellt. Um sie vollständig erfüllen zu können, muss man zuerst würdigen, was bisher geleistet worden ist.

Schon lange vor den jüngsten Terroranschlägen begegnete ich immer wieder Deutschen, die diese These als Beweis dafür sehen, dass Amerikaner hoffnungslos naiv bleiben. Ob ich denn nicht wisse, wie lange die Deutschen gebraucht hätten, um sich statt als größte Opfer als größte Täter zu betrachten? Ob ich denn nicht wisse, dass es immer noch Rassismus in Deutschland gebe, wofür gegenwärtig die AfD stehe? Der NSU? Halle?

Da ich seit 1982 überwiegend in Berlin lebe, ist mir das alles nicht entgangen. Zwar bin ich weder Historikerin noch Soziologin, sondern Philosophin. Doch habe ich seit Jahrzehnten diese Nation intensivst beobachtet – zunächst, um herauszufinden, ob Berlin ein Ort sei, an dem ich jüdische Kinder erziehen wollte. Ende 1988 habe ich mich dagegen entschieden. Im Jahr 2000 – nach der Wahl der rot-grünen Regierung, nach der Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes und einigen Entwicklungen mehr – kehrte ich mit meiner Familie zurück, denn die zaghafte Aufarbeitung, die in den Achtzigerjahren angestoßen wurde, hatte sich verwurzelt.

Heißt das, dass Deutschland die oft ersehnte Normalität erreicht hatte? Natürlich nicht. Es gibt zu viel Geschichte, zu wenig Selbstbewusstsein, zu viel Bewusstsein dessen, wie man von außen wahrgenommen wird, als dass dieses Land als normal gelten könnte. Doch das Wehklagen darüber, (noch) nicht normal zu sein, ist erstaunlich kurzsichtig. Auch Israel sehnt sich nach Normalität; Irland war dabei, sie zu erlangen, bevor der Brexit einen Strich durch die Rechnung machte. Apropos Brexit: Ist Großbritannien – diese einstige Weltmacht, die sich über Fragen ihrer Identität geradezu zerreißt – normal? Statt nach einer vermeintlichen Normalität zu suchen, die kaum ein Land, genau betrachtet, wirklich besitzt, sollte Deutschland eher schätzen lernen, was es in seiner Art, nicht normal zu sein, tatsächlich erreicht hat.

Nun verstehe ich deutsches Selbstmisstrauen, auch wenn es die Kehrseite von deutschem Größenwahn ist. Schon der Anstand verbietet es, sich mit der gelungenen Aufarbeitung der eigenen Schuld zu brüsten. Zugleich gilt es als Tabu, die nationalsozialistischen Verbrechen mit Verbrechen in anderen Ländern zu vergleichen, wohl auch deshalb, weil die Nationalsozialisten selbst gern Vergehen anderer Länder ins Feld führten, um die eigenen zu relativieren. So sollte etwa der Mord an den Native Americans den deutschen Drang nach osteuropäischem Lebensraum legitimieren.

Ich versuche, mich an Tzvetan Todorovs weise Maxime zu halten: Deutsche sollten über die Singularität des Holocausts reden, Juden über seine Universalität. Nur wer meint, Aussagen erschöpften sich in ihrem Wahrheitswert, wird Todorovs Ausspruch problematisch finden. Wie uns die Sprachphilosophie lehrt, sind Aussagen nicht nur Feststellungen, sondern Handlungen. Deutsche, die von der Singularität des Holocausts sprechen, übernehmen Verantwortung; Deutsche, die von seiner Universalität sprechen, suchen Entlastung.

Nachhilfestunde aus dem Herzen der Finsternis

Als Jüdin darf ich aber über die Universalität des Holocausts nachdenken und mit Sorge feststellen, dass "Nazi" außerhalb Deutschlands weniger eine politische als eine metaphysische Kategorie geworden ist. Nazi heißt einfach: der Inbegriff des Bösen, der Abgrund im Herzen der Geschichte. In einer Welt, in der jede moralische Aussage mit zunehmender Skepsis betrachtet wird, mag man froh sein, auch irgendwo Einigkeit zu finden. Doch ein Symbol für das absolut Böse liefert einen Superlativ, an dem gemessen jede andere Gräueltat wie ein Kavaliersdelikt wirkt. Um es psychoanalytisch auszudrücken: Der Fokus auf Auschwitz ist eine Verschiebung dessen, was wir über andere nationale Verbrechen nicht wissen wollen.

Diese Verschiebung ist in England wohl noch stärker ausgeprägt als in den USA, doch mir war es vor allem wichtig, den Amerikanern zu sagen, sie könnten eine Nachhilfestunde aus dem Herzen der Finsternis gebrauchen. Der unmittelbare Anlass, ein Buch darüber zu schreiben, war das Massaker von South Carolina, bei dem 2015 neun schwarze Kirchenbesucher während einer Bibelstunde erschossen wurden. Der Täter war ein junger weißer Mann, der auf Fotos stolz rassistische Symbole wie die Fahne der Konföderation präsentierte. "Reißt die Fahne herunter!", rief Präsident Obama bei der Trauerrede. Schon lange hatte man gegen seine Präsidentschaft mit dem Mantra gepöbelt, das Weiße Haus solle weiß bleiben.

Doch die Morde in einer Kirche, die Würde der Hinterbliebenen und die Eloquenz des Präsidenten einigten die Nation zunächst. Zwei republikanische Gouverneure folgten Obamas Appell und überließen die Fahnen den Museen. Amerikas größtes Warenhaus verkündete, keine Symbole der Konföderation mehr zu führen. Das Land schien begriffen zu haben: Wenn Rassismus und Gewalt in der Geschichte verschwiegen und verharmlost werden, leben sie in der Gegenwart fort. Später würden wir erfahren, dass Trumps Berater Steve Bannon seine Leser ermunterte: Haltet die Fahnen hoch! Doch wer achtete damals auf Steve Bannon?

Eine amerikanische Vergangenheitsaufarbeitung war im Gang, und ich wollte dazu beitragen. Mir war bewusst, dass die Erfahrung eines Landes nie direkt auf ein anderes übertragen werden kann, und so verbrachte ich ein halbes Jahr in Mississippi, um die dortigen Auseinandersetzungen mit dem Rassismus der Geschichte und der Gegenwart zu reflektieren, bevor ich Lektionen aus der deutschen Nachkriegszeit weitergab. Zwar ist der amerikanische Rassismus nicht nur im Süden vorhanden, doch der Umgang mit der Geschichte ist dort allgegenwärtig.

Allerdings ist die Geschichte, die dort erzählt wird, eine Opfergeschichte: Im Bürgerkrieg waren die Südstaatler Freiheitskämpfer, die ihre Heimat verteidigen wollten, aber sie wurden von der Übermacht des Nordens geschlagen. Wie nobel die Demut dieser Opfer war, wie schrecklich ihre Demütigungen: Schlimm genug, dass die Städte in Schutt und Asche lagen, die überlebenden Männer verwundet oder gefangen, die Frauen und Kinder dem Hungertod nah. Doch am allerschlimmsten waren die fremden Besatzer. So vulgär wie unwissend, schoben sie ihnen die Kriegsschuld in die Schuhe! Wer die Untertöne der frühen Bundesrepublik wahrgenommen hat, dem wird es nicht schwerfallen, hier Parallelen zur deutschen Geschichte zu erkennen.

Richard von Weizsäckers berühmteste Rede ist immer wieder kritisiert worden, weil sie eine Befreiung ausrief, die wenige Deutsche 1945 begrüßten. Doch wer die Stimmung, die 1985 herrschte, begriffen hat, kann die Bedeutung jener Rede ermessen. Der Zusammenbruch, wie es vorher in der Bundesrepublik hieß, war Gegenstand der Trauer gewesen; nach der Rede war er eine Rettung, die gefeiert werden konnte. Dieser Perspektivwechsel ist eine Leistung, die dem amerikanischen Süden nach 150 Jahren noch nicht gelungen ist. Dort wird am Opfernarrativ festgehalten, tausendmal verewigt in Denkmälern für Soldaten, in Fahnen, die vor Staatsgebäuden wehen, in Liedern, die ahnungslos gesungen werden, in Geschichten, die über Generationen hinweg erzählt werden.

Neuerdings kann man den Anfang einer solchen perspektivischen Wende in der amerikanischen Öffentlichkeit wahrnehmen: Ja, der Süden hat im Krieg gelitten, aber er hat den Krieg auch angefangen, und zwar nicht aus dem vagen Wunsch heraus, "die Rechte der Bundesstaaten" zu verteidigen, sondern das Recht, andere Menschen auf ewig zu versklaven.

Scham tut gut, denn nur durch Scham wird eine Gesellschaft verändert

Diese aktuelle Auseinandersetzung um das wichtigste Ereignis der US-amerikanischen Geschichte hat mit der Gegenwart zu tun. Seit Ende 2016 kommt es nicht nur im Süden, sondern landesweit zu Hakenkreuzschmierereien, werden jüdische Synagogen und afroamerikanische Kirchengemeinden angegriffen, und im Weißen Haus sitzt ein Mann, der tobende Nazis in Fackelzügen "sehr feine Leute" nennt. Auf einmal wurde es klar: Nazis sind nicht nur ein deutsches Problem. Vergleiche, die einst provozierend wirkten, sind Amerikanern nicht mehr fremd. Anstatt abzuwehren, wollen sie wissen: Wie haben es die Deutschen geschafft, aus Nazis Demokraten zu machen?

Scham tut gut, denn nur durch Scham wird eine Gesellschaft verändert, erzählte mir Bryan Stevenson, dessen National Lynching Memorial das wichtigste Zeugnis eines neuen amerikanischen Bewusstseins ist. Der Anwalt, der vor allem schwarze Gefangene vor der Todesstrafe rettet, war beeindruckt von der Weise, in der die Reflexion der Vergangenheit auf die deutsche Gegenwartspolitik einwirkt. In Deutschland haben ihn Denkmäler wie die Stolpersteine beeinflusst; die von ihm ins Leben gerufene Gedenkstätte zur Erinnerung an die Opfer der rassistischen Lynchjustiz will ein Gegenstück zu den noch herrschenden Narrativen in die Landschaft schreiben.

Paradoxerweise ist für Aktivisten wie ihn geradezu ermutigend, was Deutsche zu Recht beklagen: wie viel Zeit es brauchte, bis ein echter Perspektivwechsel eintrat und sich das Selbstbild der Deutschen vom Kriegsopfer zum Kriegstäter wandelte. Diese Ermutigung wirkt umso stärker, als von außen betrachtet kaum nachzuvollziehen ist, dass die Täternation einst in Selbstmitleid versank. Denn das Nachkriegsbild, das um die Welt ging, war das Bild, das das Ausland sehen wollte: Willy Brandt auf den Knien in Warschau, 1970.

Die Geste der Reue war die Geste, die erwartet wurde. Wer wusste schon, dass Brandt in Deutschland in breiten Bevölkerungskreisen als Vaterlandsverräter galt; dass die Emigration, die ihn in unseren Augen zum guten Deutschen machte, ihn zu Hause zum schlechten Deutschen abstempelte? Von diesen Widerständen auf dem Weg der Vergangenheitsaufarbeitung zu hören hat meine amerikanischen Kollegen erleichtert.

Wenn selbst die Nazis und ihre Mitläufer Jahrzehnte brauchten, um den Wahrnehmungswandel vom Opfer zum Täter zu vollziehen, gibt es Hoffnung, dass auch andere diesen Weg erfolgreich zurücklegen können. Die Tendenz, das eigene Leid über alles zu stellen, ist so universell wie die Abwehr von Schuld und Scham. Wenn Deutschland beides – zum großen Teil – überwinden konnte, dann könnte es anderen Länder auch gelingen. Dennoch wird in Deutschland immer wieder das Unbehagen an der eigenen Vergangenheitsaufarbeitung formuliert. Sie sei zu ritualisiert, zu theatralisch, zu rhetorisch; zu wirkungsarm, um die AfD zu beseitigen, oder umgekehrt so allgegenwärtig, dass sie jedes gesunde Nationalgefühl ersticke. Mit anderen Worten: Sie ist unvollkommen. Wie denn auch nicht?

Die zivilisatorische Leistung, die sie darstellt, ist erstmalig in der Geschichte und sollte als work in progress verstanden werden. Es ist eine Aufgabe, an der kontinuierlich gearbeitet werden muss, gerade weil es keine narrensichere Schutzimpfung gegen Rassismus und Reaktion gibt. Während die AfD Jahrzehnte der Bemühungen, die Nazi-Vergangenheit aufzuarbeiten, als beschämend denunziert, ist es uns anderen aufgegeben, darauf zu bestehen, dass Scham der erste und notwendige Schritt zu einem demokratischen Selbstbewusstsein einer Nation ist.

Die größte Lücke der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung wird allerdings selten erwähnt: die nahtlose Aufnahme von Kerngedanken der Nazi-Ideologie durch das, was Willi Winkler in seinem Buch Das braune Netz "verordneter Antikommunismus" nennt. Danach seien Kommunismus und Faschismus zwei Seiten einer Medaille. Es geht letzten Endes um Entlastung: Je übler die Bolschewiki erschienen, desto besser sehen die Nazis im Rückblick aus. Wenn Kommunismus und Faschismus gleich böse sind, haben auch Papa und Opa nicht das Böse bekämpft?

Antifaschismus war mit gutem Grund Staatsräson der DDR

Trotz einer kurzen Pause während des Historikerstreits herrschte in dieser Weltsicht in der BRD Konsens. Das beeinflusst bis heute unsere Sicht auf die DDR und führt zur gängigen Meinung, die DDR habe sich nicht wirklich mit der Nazi-Zeit auseinandergesetzt. Doch was heißt hier wirklich? Der Vorwurf, dass es dort bestenfalls einen verordneten Antifaschismus gab, ist kurios. War es etwa nicht richtig, einem faschismusdurchseuchten Land den Antifaschismus zu verordnen? Auch die Westalliierten taten dies, bis der Kalte Krieg den Vorrang vor der Entnazifizierung bekam.

Antifaschismus war Staatsräson der DDR, mit gutem Grund: Als Herzstück des Nazi-Gedankenguts war der Antikommunismus mindestens so zentral wie der Antisemitismus. Auch wenn der Staat den Antifaschismus instrumentalisierte, wurde die antifaschistische Grundhaltung selbst von DDR-Bürgern als aufrichtig erlebt, die alles andere an diesem Staat kritisierten. Zahlen belegen, wie viele Altnazis vor Gericht gestellt oder verurteilt wurden, wie viele Altnazis in den Ämtern geblieben sind, wie viele Denkmäler und Gedenkstätten errichtet wurden, wie viele Unterrichtsstunden über den Holocaust auf dem Lehrplan der Schulen standen. Der 8. Mai wurde in der DDR, schon 40 Jahre bevor Weizsäcker seine Rede hielt, als Tag der Befreiung gefeiert. Nun lautet ein Vorwurf, die DDR habe ihren Bürgern den Eindruck vermittelt, immer auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden zu haben. Selbst wenn es manchmal so gewesen ist, war wenigstens dort immer klar, welche Seite der Geschichte die richtige war.

Nichts provoziert den Widerstreit zwischen Ost und West wie der Vorwurf, die andere Seite führe das Schlimmste aus dem Nazi-Erbe ununterbrochen fort. Wenn ich darauf bestehe, dass der Antifaschismus der DDR ein aufrichtiger Versuch war, die Nazi-Zeit aufzuarbeiten, will ich nicht behaupten, dieser Weg sei makellos gewesen. Lieber sollten wir die Mängel vergleichen: Während die Aufarbeitung im Osten von oben kam, musste im Westen im Nachgang von unten gemacht werden, was von oben fehlte. Doch wenn der östliche und der westliche Teil Deutschlands heute anerkennen könnten, dass jede Seite (unterschiedliche) Fortschritte gemacht hat, diese Kontinuität zu durchbrechen, während sie diese (auch auf unterschiedliche Weise) aufrechterhielt, wäre eine geistige Wiedervereinigung endlich möglich.

Dass die Gleichsetzung von links und rechts nicht nur von historischem Belang ist, wurde bei der Landtagswahl in Thüringen deutlich. Sie wird umso bedeutungsvoller, als die rechtsradikalen Terroranschläge Deutschland nun zu einer bitteren Form der heutigen Normalität verhelfen. Auch wenn die Zahl der Ermordeten (noch) nicht diejenige von Norwegen, Neuseeland oder den USA erreicht, haben die Morde in Kassel, Halle und Hanau vieles mit diesen anderen gemeinsam: vor allem ideologisch. Von linken Morden gibt es in den letzten Jahrzehnten auch international keine Spur, während die Zahl von ermordeten people of color durch rassistische Rechtsradikale weiter steigt. Angesichts dessen ist es längst an der Zeit, mit dem Gerede von Rechts- und Linkspopulismus aufzuhören und die wirklichen Gefahren beim Namen zu nennen: Von Vergangenheitsaufarbeitung könnte sonst kaum die Rede sein.

  • SUSAN NEIMAN - Die Philosophin, 64, ist gebürtige US-Amerikanerin. Sie leitet seit dem Jahr 2000 das Einstein Forum in Potsdam. Ihr Buch Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können erscheint im März bei Hanser Berlin.
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Nationalsozialismus

In der DDR wurde die NS-Zeit verdrängt

Die Erinnerungskultur in Ost- und Westdeutschland ist sehr unterschiedlich. Die DDR war kein antinazistischer Staat. Eine Replik auf Susan Neiman

Ein Kommentar von Micha Brumlik in der ZEIT 11/2020

Dieser Artikel ist eine Replik auf Susan Neimans Beitrag über die Erinnerungskultur der Deutschen.

Als in Westdeutschland aufgewachsener Jude, der als junger Mann das Land verlassen hat, um nach zwei Jahren in Israel (reumütig?) zurückzukehren, kann ich Susan Neiman weitgehend zustimmen, muss ihr aber in einem Punkt deutlich widersprechen: ihrer Hochschätzung der DDR als einer antifaschistischen, einer antinationalsozialistischen Gesellschaft. Nein – die DDR hat noch stärker verdrängt als die Bundesrepublik.

Während in der Bundesrepublik die sogenannte "Aufarbeitung" – von "Bewältigung" lässt sich in keiner Hinsicht sprechen – schleppend, aber immerhin doch seit dem von Fritz Bauer 1963 eingeleiteten ersten Frankfurter Auschwitzprozess in Gang kam, um schließlich im Protest der Studenten 1968 gegen ehemalige nationalsozialistische Hochschullehrer einen ersten Höhepunkt zu erreichen, ließ die damalige Führung der DDR zwar in ihren Anfängen einige ehemalige Nationalsozialisten anklagen, verurteilen und erschießen. Sie beteiligte sich sogar – namens siebzehn in der DDR wohnender Überlebender – mit dem Rechtsanwalt Kaul als Nebenkläger am Frankfurter Auschwitzprozess, um gleichwohl beinahe alle ehemaligen NSDAP-Mitglieder in Partei, Staatsdienst und Wirtschaft zu integrieren – und das nach dem Motto: "Die Partei vergibt, aber sie vergisst nicht."

Damit wurden alle ehemaligen Nationalsozialisten zu erpressbaren und umso leichter kontrollierbaren, willfährigen Funktionsträgern. Und dennoch – oder ebendeshalb – existierte in der DDR eine von der Geschichtswissenschaft nach wie vor nicht ernst genommene antisemitische Szene, die von der Staatssicherheit teils argwöhnisch beobachtet, teils geheimdienstlich genutzt wurde.

Das belegt penibel die noch immer skandalöserweise viel zu wenig wahrgenommene Studie des Berliner Historikers Harry Waibel, die 2017 unter dem Titel Die braune Saat. Antisemitismus und Neonazismus in der DDR erschien. Waibel, der sich vor allem aus 2000 als "streng geheim" klassifizierten Quellenmaterialien – nicht zuletzt des Ministeriums für Staatssicherheit – informiert hat, konnte daher schon zu Beginn seiner Studie mitteilen: "Die Anzahl neonazistischer Vorfälle liegt bei etwa 7000, und etwa 725 Vorfälle betreffen Rassismus, und 900 Straftaten sind antisemitischer Natur, wovon etwa 145 die Schändungen jüdischer Friedhöfe und Gräber betreffen. Bei über 200 gewalttätigen Angriffen wurden durch Pogrome und pogromartige Angriffe tausende Personen aus über 30 Ländern verletzt, und mindestens 10 Personen wurden zum Teil in Lynchjustiz getötet. [...] Die Angriffe wurden in den allermeisten Fällen von jüngeren Männern durchgeführt und fanden in über 400 Städten und Gemeinden der DDR statt."

Auch ein Blick in die Schulgeschichtsbücher der DDR lässt wenig Zweifel offen, dass Antisemitismus und Schoah dort kaum angemessen behandelt wurden.

Wer davon immer noch nicht überzeugt ist, lese nur das 2019 erschienene Buch der ehemaligen DDR-Weltklassesprinterin Ines Geipel Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass. Dort ist zu lesen: "Der Osten [...] blendete in Wissenschaft, Bildung und Öffentlichkeit die Verfolgung und Ermordung von sechs Millionen Juden weitgehend aus, ja zog sie nicht einmal ernsthaft in Betracht."

Dem ist – nach den Erfolgen der AfD im Osten, nach Halle und Erfurt – nichts hinzuzufügen.


  • MICHA BRUMLIK - 72, ist Publizist und war Professor für Erziehungswissenschaft. Sein Buch Antisemitismus ist soeben erschienen.
Stolpersteine



dem oben gesagten ist aus der jeweiligen sicht kaum etwas hinzuzufügen. aber auch unbedingt die kontroverse zur erinnerungskultur in der ddr muss wohl so, wie sie der jude micha brumlik kurz & knapp formuliert hat, so unter der lobeshymne der amerikanischen jüdin susan neiman stehen, deren lobesduktus gerade auch im vergleich mit den nationalen gedenk-aufarbeitungen in den usa und anderswo zwar verständlich ist, aber doch zurechtgerückt werden muss. es gibt noch keinen grund, uns die absolution zu erteilen.

in der aufarbeitung der ns-"euthanasie"-verbrechen zum beispiel hat man jetzt zwar inzwischen einen groben "globalen" überblick erarbeitet: welche vernichtungsphasen, welche deportationstransporte von wo nach wo - welche tötungsarten - aber die details und die verwirrspiele der mörder zur vertuschung während ihres tuns aber auch noch danach sind noch nicht restlos aufgearbeitet. die holocaust- und euthanasie-morde waren so industriell kleinteilig organisiert und ausgeführt und brauchten ein so diffiziles fachliches "know-how", dass jede gewalttat von vielen "tätern" und mitwissern und den weisungen der jeweiligen fach-experten begangen wurde.

die allerschlimmsten nazitäter sind zwar schon in den 50-er jahren in ost und west abgeurteilt worden - aber dann ging es auch schon ans endgültige vergessen und abspalten, was heute noch vorherrscht oder aber jetzt, nach dem verschwinden der zeitzeugen, erst recht einsetzt. denn die "kleinen" und "kleineren" leb(t)en ja zum teil noch mitten unter uns und genossen ihren lebensabend mit voller rente, oder waren wieder zu rang und (neuen) namen gekommen, waren in die "richtigen" parteien eingetreten oder z.b. aber in den örtlichen schützen- oder karnevalsverein, bauten sich ihr klein-häuschen und hätschelten ihre familien oder zogen ihre kinder mit "starker hand" groß - je nachdem ...

da kann man auch heute nicht mehr "nachkarten", diese unterlassungssünden muss sich aber dieser staat und seine bewohner mit in die annalen schreiben - und daraus lernen. die nsu-morde aber z.b. zeigen zunächst wieder genau die alten reflexe: "vertuschen" aller umstände, akten dazu 120 jahre einmotten - jetzt lassen sich schon seit fast zwei jahren die richter zeit mit der abschließenden  urteilsbegründung, was ja nun nicht für souveränität und exakter rechtsstaatlichkeit spricht - andere mögen genau das andersherum sehen... solange keine urteilsbegründung da ist, ist der prozess nicht abgeschlossen - und am 22. april endet die frist zur erstellung der der urteilsbegründung - wenn sie bis dahin nicht vorlieht, fliegt alles auf und alles fängt von vorn an - und frau zschäpe wird erst einmal auf freien fuß gesetzt: das ist die deutsche wirklichkeit... - in 80 jahren kaum etwas dazugelernt...: umständlich und kleinpatschig. ich meine, bei den raf-urteilen war man wesentlich konsequenter ...

und was nutzen dann am 27.01. jeweils der festakt im bundestag mit den erschütterndsten zeitzeugenberichten oder die ritualisierten kranzniederlegungen oder vorträge der historiker an den gedenkstätten.

man hat die historische chance vertan, als nachkriegs-gesellschaft auch innerhalb der familien und ortschaften und regionen mal "reinen tisch" zu machen, stattdessen schwieg man sich aus, ließ die akribisch geführten akten in den archiven, soweit noch vorhanden, einfach vergammeln und z.t. verschimmeln, wie z.b. die rund 30.000 krankenakten von in der ersten, sogenannten "t4"-phase ermordeten opfer des systematischen patienten-massenmordes (ns-euthanasie), die 1990 im ehemaligen “ns-archiv” in einem unfrequentierten nebenraum des ministeriums für staatssicherheit der ddr gefunden wurden, wo sie wohl für anstehende denunziations- und erpressungszwecke abgelegt wurden.


und auch diese akten wurden dann nach ihrem auffinden 1990 nicht etwa unverzüglich der öffentlichkeit zu nachforschungen vielleicht auch noch zu den jeweils verantwortlichen und tätern zugänglich gemacht. nein - ausgerechnet eine israelische organisation iaapa stellte 2003 zunächst die klarnamen zu diesen 30.000 opfern nach rechtsprechung der bundesrepublik "illegal" ins internet, denn man monierte in falscher deutscher gründlichkeit datenschutz- und archivrechte. und erst seit august 2018 (also 28 jahre nach dem auffinden) kann man diese namen "offiziell" auch beim bundesarchiv online recherchieren, nachdem wohl auch noch die letzten damit im zusammenhang stehenden mitwisser und helfershelfer, also z.b. ärzte, nsv-schwestern, deportationsverantwortliche, verwaltungsbeamte usw. endlich verstorben sind.

susan neiman geht auf dieses immer noch anhaltende "vergessen" und "beschweigen" kaum ein, die zu einer ungeschönten beschreibung der deutschen vergangenheits-aufarbeitung dazugehören müsste. 

und mit den noch so monumentalen gedenkstätten oder auch den kleinen inzwischen über 70.000 stolpersteinen mit den namen jeden opfers ist es noch immer nicht getan, solange es moralische "pflicht-rituale" bleiben. denn durch die aufgesetzten trauerblicke und die tragende musik von arvo pärt ändert sich das notwendige tatsächliche erfassen und be-greifen kaum - auch nicht in der eigenen familiären hemisphäre - damit entsteht noch keine innere "läuterung" der gesellschaft insgesamt.

all die schandtaten von urgroßeltern oder großeltern waren keine "dazugehörenden kavaliersdelikte", das waren vollendete rassistisch konnotierte morde & totschlagsdelikte oder folterungen und das war lynchjustiz - und dazu waren diese menschen mit ein paar simplen tricks der propagandistischen verführung und der massenhysterie fähig: millionen haben dabei mitgemacht - und nur eine kleine handvoll hat dagegen aufbegehrt.

es bleibt noch viel zu tun.