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von oktopussen & fake news: "die route wird neu berechnet"





da liegt die abgebrochene kuppel des "capitols" vor dem gerade zusammengebrochenen 7 meter hohen "turm zu babel" - hier eine sinedi-montage von der "nord-art" in rendsburg-büdelsdorf: "babylonian" - ein werk des chinesischen künstlers xi jianjun 奚建军: 通天塔, 2017 – 2018

ja - das ist die allgemeine verunsicherung, die die menschheit ergriffen hat in diesen breitengraden: "die route wird neu berechnet", so lautete der titel eines alljährlich stattfindenden "kultur-symposiums" der goethe-gesellschaft in weimar (click), auf dem 80 internationale experten und expertinnen ihre jeweilige sicht auf die (digitale) zukunft werfen.

und bei der frage, wer oder was denn diese route (der menschheit) neu berechnet, bin ich schon für mich mit einem schlag beim motto des diesjährigen kirchentages in dortmund: "was für ein vertrauen" (click) - denn ich benutze die metapher des "navis" mit der neu berechneten route, das den autofahrer per algorithmen und "gps" durch den feinbestäubten straßenverkehr lotst, ja auch gern für ein von mir behauptetes und wahrnehmbares inneres "navi", dass mir per gutem oder schlechtem "gewissen" meinen weg durch die fährnisse und wiggeligkeiten des alltags weist. und bei diesem inneren wegweiser weiß bzw. ahne ich, dass hier gott in seinen verschiedenen attributen und seiner all-überall umfassenden omnipräsenz und dreieinigkeit den weg und den ton angibt - mit dem erspüren von "richtig" & "falsch" und "gut" & "schlecht".

und dieses "zurechtfinden" in dieser jetzigen lebensspanne und vielleicht auch darüber hinaus, diese urgefühle von liebe, sicherheit und geborgenheit überlasse ich lieber nicht irgendwelchen in silicon valley ersonnenen digital-gesteuerten algorithmen - sondern ich vergewissere mich meiner gewissheit im trauten "gott-vertrauen": also weniger ständige "neu-routenberechnung", sondern (an)leitung und führung: für die menschheit in ihrer entwicklung und ihrem jeweils individuellen sosein durch all die jahre und epochen und zeitalter - bis hierhin, wo ich diese zeilen hier in die computer-tastatur hacke, die du jetzt - in diesem einzigartigen und unwiederholbaren jetzigen original-moment - liest.

hierbei begegnen sich absender*in und empfänger*in ganz anonym im jeweiligen impuls des erlebens.

und dabei fällt mir immer ein alter sinnspruch ein, den ich in der "brockensammlung" in bethel entdeckte: "gott hat uns keine sturmfreie fahrt über die meere verheißen - wohl aber ein sicheres landen" ...

wir haben etwas hinter uns gelassen - aber wir sind noch nicht angekommen: wir leben in umbruchzeiten: das "alte" trägt nicht mehr - und das "neue" haben wir noch nicht gefunden ...

und was predigte die pastorin sandra bils im schlussgottesdienst beim kirchentag im borussia-dortmund-stadion über uns? - ja, sie hat uns als "gurkentruppe" bezeichnet: "gottes geliebte gurkentruppe" ... (siehe predigt-video) - in all unserem unvermögen - in all unserer angst und verzagtheit - und unserem "pfeifen im wald" ...

auch die werke auf der kunst-ausstellung "nord-art" (click) in rendsburg-büdelsdorf hatten diese aktuell wahrgenommenen übergangszeiten zum thema, die derzeit weltweit die diskurse beherrschen: das zweiteilige oben abgebildete werk des chinesen xi jianjun mit der abgebrochenen kuppel des "capitols" und dem aufgesprengten "turm zu babylon" bilden für mich diese "halbzeit-spanne" zwischen den "spielhälften" ab - und wer genau hinschaut erkennt an den säulen des babylon-turms die buddhistischen pagodenhaftigkeiten neben den klassischen griechischen säulen: wir sind zwar - aber im glück - und im unglück - sind wir vereint... 

der wissenschaftler des weimarer symposiums, toby walsh, will nie wieder oktopus-salat zu sich nehmen, weil er plötzlich respekt bekommen hat bei der erkundung dieser eigentlich als hässlich geltenden "einfachen" kopffüßler aus der tiefsee, wo intakte hirnneuronen den ganzen körper durchziehen, vom geräumigen kugelkopf bis in die äußerlich glibberigen fangarmfingerspitzen - was einige forscher sogar veranlasst hat anzunehmen, die wiege dieser spezies läge vielleicht außerhalb der terristischen gewässer vielleicht irgendwo im weltall und sie wären vielleicht als blinde passagiere mit einem kometen auf die erde gelangt - und diese oktopusse sind sogar reflexiv in der lage, uns als menschen aus einer anderen lebens- und umwelthemisphäre wahrzunehmen.

ich musste bei meiner lektüre des allgemein profanen oktopus-soseins an meine aufsätze hier im blog über das "bauchhirn" ("durchzogen von hirn"...) und den jahrmillionen alten winzigen aber milliardenschweren stämmen der erst jetzt allmählich erforschten mikrobiom-organismen in diesem "bauchhirn"-bereich denken, die in gegenseitigen (!) impulsen mit dem nervengeflecht im haupthirn im kopf kommunizieren und in verbindung stehen. gefühlt scheint mir das also durchaus verwandt zu sein mit den attributen zum werdegang der oktopusse.

auf diese uralte fragestellung der menschheit
  • woher kommen wir - 
  • wo sind wir im all verortet - 
  • wohin gehen wir - 
  • wie verbleiben oder vergehen wir -
werden wir zu dieser eigentlich ja die ganze menschheitsentwicklung begleitenden und durchziehenden übergangs- oder zwischenzeit wohl niemals abschließende antworten finden. immer wieder - quasi zyklisch - bringen sich "typen" und neuerdings auch "typinnen" in stellung, um deutungs- und meinungshoheit zu gewinnen. und diese zyklen wiederholen sich in immer neuen rollenspielen und tragödien in unterschiedlichen zeitabfolgen und epochen.

und der croupier am spieltisch des lebens-roulette fordert immer wieder neu dazu auf: „faites votre jeux!“ („machen sie ihr spiel!“) - und im vertrauen auf gott setzen wir (uns ein) - und schauen gebannt auf die rundherum rotierende kugel dieser welt ... - deren route immer wieder neu berechnet wird: keine "sturmfreie fahrt" - wohl aber ein "sicheres landen" ... 

und chuat choan - und nix für ungut ...




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Digitale Revolution 
Die Zukunft ist jetzt

Christiane Peitz | Tagesspiegel

Toby Walsh verzehrt keinen Oktopus mehr. Der australische A.I.-Forscher stieß bei seinen Studien über künstliche Intelligenz auf die Jahrmillionen alten Kopffüßler, deren immense Gehirnmasse in den Krakenarmen steckt und die beweisen, dass nicht nur der Mensch ziemlich schlau ist und Intelligenz anders aussehen kann, als unsereins sie sich vorstellt.

Wer sich mit der Zukunft befasst, der stößt schnell auf die Vergangenheit. Was lehren uns Tintenfische über das selbstständige Denken? Können wir von der industriellen Revolution etwas für die digitale Revolution lernen? Und von den 1920er Jahren über den Populismus und den jetzt wieder propagierten neuen Menschen? Es passt jedenfalls gut, dass das dreitägige Symposium des Goethe-Instituts „Die Route wird neu berechnet“ über die aktuellen Umbrüche in der Stadt angesiedelt war, wo vor 100 Jahren die Weimarer Republik ausgerufen und das Bauhaus gegründet wurde.

Der Mensch liebt lebendige Interaktion

Wie orientieren wir uns angesichts der grassierenden Verunsicherungen? Wie verändert sich die menschliche Autonomie durch die künstliche Intelligenz? Wie sieht die digitalisierte Arbeitswelt von morgen aus? Was tun angesichts der erstarkenden Nationalismen und sich spaltender Gesellschaften? Rund 70 Expertinnen und Experten aus der ganzen Welt diskutierten in Weimar, praktisch alles außer dem Klimawandel, der aus Gründen der schieren Themenmenge nicht explizit auf der Agenda stand und dennoch omnipräsent war. Und am Abend tanzte Huang Yi aus Taiwan mit dem Industrieroboter KUKA einen pas de deux – was einem die beruhigende Erkenntnis bescherte, dass eine noch so raffiniert programmierte Maschine es mit der Anmut eines Menschen so schnell nicht aufnehmen kann.

Toby Walsh hatte zunächst eher fröhliche Aussichten skizziert, von der Vier-Tage-Woche dank automatisierter Arbeit bis zur Tatsache, dass unsere Fahrräder weiter von Menschen repariert werden, weil der Homo sapiens die lebendige Interaktion liebt und bislang kein A.I.-Labor weltweit die zeitintensive Entwicklung eines Radreparatur-Roboters auch nur angedacht hat. Gleichzeitig gehört er jedoch zu den Mahnern seiner Zunft.


Viele werden ihre Arbeit verlieren

„2062“ heißt Walshs kürzlich auch auf Deutsch erschienenes Buch, in dem die Risiken des Homo digitalis ebenso ausführlich verhandelt werden wie die Chancen. Es wird hart, sagt er im Gespräch am Rande des Symposiums, viele werden ihre Arbeit verlieren. Und schon jetzt sei es mittels Deepfake und Stimmcomputern möglich, dass etwa Donald Trump jeden einzelnen US-Bürger „anruft“ und mit ihm ein persönliches Gespräch führt. Walsh ist sich sicher, dass in sehr naher Zeit wichtige Wahlen durch Deepfakes manipuliert werden und die Täuschung zu spät auffliegt, um am Wahlausgang noch etwas zu ändern. Gleichzeitig ist er skeptischer als die 300 von ihm befragten Kollegen. Deren Durchschnittsprognose, wann die Intelligenz digitaler Maschinen der menschlichen ebenbürtig ist, läuft auf das Jahr 2062 hinaus. Er glaubt, es dauert eher noch 100 Jahre. Die Zukunft ist weit weg – und gefährlich nahe.

Am anderen Morgen sitzt Walsh auf dem Panel zum Thema Killerroboter und wird wütend, als Kara Frederick vom CNAS, einem US-Thinktank für nationale Sicherheit, ein weltweites Verbot autonomer Waffensysteme für schwierig hält, weil es keinen Konsens über deren Definition gebe. Bislang scheitert ein Bann in der UN am Veto von vier Ländern: USA, Russland, Israel, Australien. Kontroversen sind selten auf diesem Symposium, auf den Podien sitzen meist Gleichgesinnte. Dabei gilt es doch eigentlich, sich dem „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ zu beugen, wie Thüringens Kulturminister Benjamin-Immanuel Hoff (Linke) bei der Eröffnung den Jubilar Habermas zitierte.

Der britische Robotik-Experte Noel Sharkey ist ein Meister dieses „zwanglosen Zwangs“. In Sachen Killerroboter reist er durch die Welt und versucht die auf sanftere Diplomatie setzenden Politiker auch in Deutschland von der Gefährlichkeit der immer schnelleren, billigeren Waffen zu überzeugen. Maschinen, die per Algorithmus über Leben und Tod entscheiden und auch Grenzen sichern sollen, verstoßen massiv gegen die Würde des Menschen, fügt der südafrikanische Anwalt Thompson Chengeta mit beeindruckender Präzision hinzu. Alleine das Werbevideo eines Waffenherstellers mit Schwärmen von Mini-Drohnen, die zielsicher Dutzende vermeintliche bad guys niedermähen, war die Reise nach Weimar wert. Ein Horrorszenario? Diese Zukunft ist jetzt. Toby Walsh hat 30 000 Experten- Unterschriften dagegen gesammelt.

Die Männer reden, die Frauen reden schneller – und handeln. Dankenswerterweise hat das Goethe-Institut nicht nur Diskurs-Stars wie den Inder Pankaj Mishra („Zeitalter des Zorns“) oder den US-Historiker Timothy Snyder („Der Weg in die Unfreiheit“) eingeladen, sondern auch zahlreiche Gäste, deren Namen zu Unrecht weniger geläufig sind. Kulturschaffende, die in Polen, Brasilien oder auf den Philippinen schikaniert werden und weitermachen, Exil und Gefängnis riskieren. Energische, mutige, gewitzte Frauen, die so manchen der Männer alt aussehen lassen.

Es lohnt sich zu kämpfen

Zum Beispiel Sarah Chen, die in Amerika den „Billion Dollar Fund“ für Start-ups von Frauen ins Leben gerufen hat. Geld ist Macht, Frauen brauchen Geld: Nicht der Gender Pay Gap ist das größte Übel, sondern die Tatsache, dass Frauen in den USA nur zwei Prozent des Risikokapitals bekommen. Das ändert sie nun. Oder die Schriftstellerin Panashe Chigumadzi aus Zimbabwe. Mit nur einem Satz erhellt sie den komplexen Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Migration: „Die Flüchtlinge sind hier, weil ihr dort wart.“

Die griechische Politologin Daphne Halikiopoulou kritisiert die fatalistische Geschichtsblindheit angesichts des Rechtspopulismus. Dessen Vertreter haben in den letzten Jahren Wahlen durchaus wieder verloren, siehe FPÖ, siehe Jean-Marie Le Pen. Ende Gelände bei der Rettung der Demokratie? Es lohnt sich zu kämpfen. Halikiopoulou glaubt nicht an die schlichte These von den abgehängten Globalisierungsverlierern. Sie will wissen, warum die Narrative der Rechtspopulisten auch für den Mainstream attraktiv sind. Und warum so wenig andere attraktive Narrative kursieren.

Oder die Journalistinnen Olga Yurkova und Lina Attalah, aus der Ukraine und Ägypten. Yurkova hat mit der regierungsunabhängigen Website stopfake.org in fünf Jahren mehr als 3000 russische Fake News enttarnt, die Seite erscheint inzwischen in elf Sprachen. Attalah trotzt als Chefredakteurin der Online-Zeitung „Mada Masr“ dem Schweigen in ihrem Land, dem Verschwinden der Öffentlichkeit. Jüngstes Beispiel: die kurze Meldung über den mysteriösen Tod von Ex-Präsident Mursi im Gerichtssaal.

Zuvor hatte der Historiker und Bestseller-Autor Timothy Snyder über die Kolonisierung der Zeit gesprochen. Ob Putin, Trump oder Bolsonaro, sie kapern die Zukunft, indem sie ihren autokratischen Status Quo verewigen wollen. Snyder verneigt sich vor der Kärrnerarbeit der Frauen. „Flutet die Zone mit Fakten“, ruft er und fordert die demokratischen Gesellschaften auf, den Preis dafür zu bezahlen. Fiktionen gibt es umsonst, Fakten kosten Zeit, Arbeit, Geld, Leidenschaft.

Snyder hat ein paar praktische Vorschläge, wie die Zukunft sich befreien ließe. Er möchte die kognitive Dissonanz auflösen, die Tatsache, dass der Mensch sich so leicht von Algorithmen täuschen lässt und sich ihnen zunehmend anpasst, mit binärem Denken und der Verwechslung von Quantität mit Qualität. Alle Schulkinder sollen in der dritten Klasse ein Jahr lang nichts anderes machen, als investigativ zu recherchieren. Dort wo sie leben, in der analogen Welt, ohne Internet. Einmal im Jahr ist Hammer-Tag. Dann dürfen alle elektronischen Geräte in der Klasse kurz und klein geschlagen werden. Es wäre die anarchische Methode zur Wiederherstellung der Autonomie. Kassandrarufe können auch heiter sein.

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und dazu:

Oktopoden

Acht Arme, drei Herzen und Gehirn im ganzen Körper


Der eiförmige Mantel und die großen Saugnäpfe dieses Oktopus sind typisch für den Zirrenkraken. (Foto: mauritius images)




Oktopoden, Kraken und Kalmare sind so bizarr, als wären sie Wesen von einem anderen Stern. Zugleich beeindrucken sie durch Feinfühligkeit und Intelligenz.

Von Patrick Illinger | SZ



Acht Arme, manchmal auch zehn, dazu drei Herzen und ein Gehirn, das nicht nur im Kopf steckt, sondern bis in die äußersten Extremitäten verästelt ist. Farbe und Musterung der Haut passen sich in Sekundenbruchteilen der Umgebung an. Knochen haben sie keine, aber ein knackiges Gebiss. Und für die Fortbewegung steht ein Düsentriebwerk zur Verfügung. Braucht es noch mehr anatomische Details, um solche Wesen zweifelsfrei als Aliens zu identifizieren? Als nicht von dieser Welt?

Tatsächlich sind Cephalopoden, zu Deutsch Kopffüßler, und unter ihnen besonders der Oktopus, seit Millionen Jahren feste Bewohner der irdischen Biosphäre. Wer diese Kreaturen nur als Salat beim Griechen kennt oder als Monster aus alten Seefahrergeschichten, wird dem biologischen und philosophischen Phänomen Oktopus nicht gerecht. Es ist, als hätte die Evolution vor Urzeiten zwei Experimente gestartet, das eine führte zum Menschen, das andere zum Tintenfisch. Der letzte gemeinsame Vorfahr beider Spezies muss ein wurmartiger Glibber gewesen sein, der vor 600 oder 700 Millionen Jahren lebte - lange vor der kambrischen Explosion, die erdgeschichtlich als Urknall der Artenvielfalt gilt. Heute existieren Oktopoden in allen Größen, Farben und Formen. Von wenigen Zentimetern bis zu den sieben Metern Spannweite des Pazifischen Oktopus reicht ihre Größenskala. Noch größere Cousins, oft fälschlich als "Riesenkraken" betitelt, sind tatsächlich Kalmare, deren Anatomie sich vom Oktopus unterscheidet.

Während sich an Mäusen, Primaten oder anderen Wirbeltieren neue Wirkstoffe oder Verhaltensmuster erforschen und auf den Menschen übertragen lassen, versagen beim Tintenfisch die Analogien. Schon die übliche Trennung von Körper und Geist verliert ihren Sinn: Beim Oktopus ist unklar, wo das Gehirn anfängt oder endet. Das Netzwerk der Neuronen zieht sich durch den gesamten Körper, und das ist nur eine der Eigenschaften, die den Kontakt mitdiese Wesen so spannend macht: Sie stellen eine real existierende Lebensform dar, die sich auf einem anderen Planeten entwickelt haben könnte. Dass sie wirbellos wie eine Schnecke sind, sollte keinesfalls über ihre herausragenden Fähigkeiten hinwegtäuschen. In seinem Buch "Other Minds", schreibt der Philosoph und passionierte Taucher Peter Godfrey-Smith: "Kopffüßler - Oktopoden, Kalmare und Nautilusse - sind eine Insel geistiger Komplexität inmitten des Ozeans wirbelloser Tiere." Der Philosoph und Oktopus-Forscher Stefan Linquist von der kanadischen University of Guelph sagt: "Wenn du mit Fischen arbeitest, haben diese keine Ahnung, dass sie in einem unnatürlichen Behälter herumschwimmen. Mit Oktopoden ist das völlig anders. Sie wissen, dass sie in dieser seltsamen Umgebung sind, und du, Mensch, außerhalb."

Trotz des komplett anderen Körperbaus gibt es Gemeinsamkeiten mit Menschen und anderen Wirbeltieren: Kurz- und Langzeitgedächtnis, Schlaf, das spielerische Erkunden von Gegenständen und die Fähigkeit, Individuen einer anderen Spezies zu erkennen. Experten haben keinen Zweifel, dass die Saugnapfträger verschiedene Menschen voneinander unterscheiden können und diese "mögen" oder eben nicht. Unbeliebten Tierpflegern spritzen sie zum Beispiel gerne mal einen Wasserstrahl ins Gesicht. So gesehen ist ein auf Hawaii verbreiteter Volksglaube gar nicht so abwegig, wie er zunächst klingt: Demnach ist der Oktopus das Überbleibsel einer Welt, die vor der heutigen existiert hat. Oktopoden wären dann, wenn nicht extraterrestrische, so doch prototerrestrische Wesen.

Schlau bis in die Glieder

Den größten Teil ihres ungewöhnlichen Gehirns haben Kopffüßler nicht im Kopf. Das neuronale Gewebe ist auch um die Speiseröhre herum bis in sämtliche Arme verbreitet. Es funktioniert wie ein körpereigenes Internet. Insgesamt 500 Millionen Nervenzellen, von denen zwei Drittel in den Extremitäten stecken, machen die Tiere erstaunlich beweglich und verleihen ihnen ein gehöriges Maß Intelligenz. Jeder Arm hat seine eigene Sensorik und Steuerung. Auch können die Gliedmaßen Chemikalien und Licht erkennen. Jeder Saugnapf hat 10 000 Neuronen. Bienen zum Beispiel, die immerhin eine Landkarte ihrer Umgebung im Kopf behalten können und ihr Wissen anderen Artgenossen mitteilen, kommen mit insgesamt einer Million Neuronen aus. Das Hunderte Mal so komplexe Denkorgan von Oktopoden macht die Tintenfische zwar nicht klug nach konventionellen menschlichen Maßstäben. Doch sie sind zu enormen kognitiven Leistungen fähig, die sie als Einzelgänger nicht von anderen erlernen können. Die Kopffüßler erschließen sich ihre Welt und die Objekte darin mit unzähligen tastenden Bewegungen. Auch zeigen die Tiere bei längerer Beobachtung individuelle Charaktere: Manche sind abenteuerlustiger als andere. Dass die beteiligten Arme zugleich Hirnareale sind, ist dabei sicher hilfreich.

Inky, der Ausbrecher

Ob er genug hatte vom Leben im Glaskasten? Nein, meinten die Tierpfleger des National-Aquariums von Neuseeland an der Hawke's Bay im Osten des Landes. Der Oktopus namens Inky sei einfach immer schon neugierig gewesen. Immer für die eine oder andere Überraschung gut, habe Inky wohl nur herausfinden wollen, was die Welt noch so zu bieten hat. Dass er entwendet oder von anderen Tieren gefressen wurde, könne man ausschließen, beteuerte der Aquariumleiter. Inky hat vielmehr eines Nachts eine Lücke im Deckel seines Beckens gefunden, ist an der Glaswand hinabgerutscht und einige Meter weit über den Fußboden geglitscht, bis zu einem 50 Meter langen Abwasserrohr, das ins offene Meer führte. Sein weniger abenteuerlustiger Artgenosse namens Blotchy blieb zurück. Der im April des vergangenen Jahres bekannt gewordene Ausbruch erinnert an die spektakulären Fluchtgeschichten mexikanischer Drogenbarone. "Ungewöhnlich intelligent" beschrieben die Aquariummitarbeiter den entkommenen Tintenfisch. Und seine Geschichte ist nicht die einzige solche Anekdote: In einem anderen Aquarium Neuseelands zeigte sich, dass ein Oktopus nachts regelmäßig andere Becken aufsuchte, um die dortigen Krabben zu verspeisen und dann in sein eigenes Gehege zurückzukehren.

Mit der Haut sehen

Für das Sehen benutzen Oktopoden nicht nur ihre Augen. Eine im Journal Evolutionary Biology veröffentlichte Studie zeigte, dass die Haut der Tintenfische auch ohne eine Verbindung zum Gehirn lichtempfindlich ist. Die Haut enthält Proteine namens Opsin, wie es auch in Sehpigmenten von Augen enthalten ist. Zwar können die Oktopusse mit ihrer Haut keine Details erblicken, doch ermöglicht ihnen die unabhängige "Sehfähigkeit" der Haut, ihre Tarnung in Rekordgeschwindigkeit an die Struktur und Farbe der Umgebung anzupassen. Das Tier könne keine Kontraste oder Kanten wahrnehmen, wohl aber Wechsel der Lichtintensität, schrieben die Studienautoren. In anderen Laborexperimenten wurden Tintenfische beobachtet, die ihr Aussehen 177-mal in einer Minute veränderten. Trickreich sind dabei die sogenannten Chromatophoren, kleine Farbpunkte in der Haut, die je nach Lichteinfall vergrößert oder verkleinert werden. Es ist die biologische Version eines Flachbildschirms, wo Farben ebenfalls durch die Kombination einiger Grundfarben erzeugt werden. Die Forscher konnten zudem feststellen, dass sich die Chromatophoren auch mit elektrischen Impulsen vergrößern und verkleinern lassen. Die verblüffende Tarnfähigkeit der Oktopoden ist offenbar keine Kopfsache, folgern die Tintenfisch-Forscher.

Alle Arme an die Arbeit!

Wie kontrolliert man acht gleichberechtigte und gleich gebaute Extremitäten, ohne dass sich die Körperteile ständig in die Quere kommen? Das ist eine Frage, die Neurobiologen wie auch Computerwissenschaftler an ihre Grenzen bringt. Wollte man einen Roboter mit den Fähigkeiten eines Oktopus bauen, bräuchte es unvorstellbare Rechenkraft für die Koordination der Arme. Der Tintenfisch aktiviert nach Erkenntnissen israelischer Wissenschaftler mit seinem Kopf mehrere autonome Programme im Nervengeflecht der Arme. Wie die Steuerung im Detail abläuft, ist jedoch noch unbekannt. Die Forscher aus Rehovot und Jerusalem untersuchten die Kinematik des Krabbelns und waren verblüfft: Trotz seines grundsätzlich bilateralen Körperbaus (zwei Augen) kann der Tintenfisch aus dem Stand gleich gut in jede Richtung krabbeln. Anders als bei jedem anderen krabbelnden (oder laufenden) Lebewesen, gibt es keinen wiederkehrenden Rhythmus in den Gliedmaßen. Es werde offenbar von Moment zu Moment spontan und arhythmisch entschieden, welcher Arm nun auf welche Weise bewegt werden soll, schließen die Forscher. Andererseits können Oktopusse durchaus mit ihren Augen Gegenstände wahrnehmen und mit einem einzelnen Arm danach greifen.

Riesenkalmare, Tintenfisch-Bewusstsein, Dosenöffner
Die XXL-Version

La Coruña, Nordspanien, Oktober 2016. Ein 105 Kilogramm schwerer Riesenkalmar lag plötzlich verletzt am Strand. 2015, in der Nähe von Tokio: Ein junger Riesenkalmar schwamm plötzlich in einem Hafenbecken herum. Es gibt sie, die ominösen Riesentintenfische, wobei zwischen Kalmar und Krake (Oktopus) zu unterscheiden ist. 2004 hatte der Japaner Tsunemi Kubodera erstmals Riesenkalmare mit Unterwasserkameras fotografiert. Sie sind die XXL-Ausführung der Kopffüßler, wenngleich mittelalterliche Geschichten von in die Tiefe gerissenen Schiffen damit nicht bewiesen sind. Über das Leben der real existierenden Riesentintenfische, deren Augen bis zu 40 Zentimeter groß sein sollen, ist indes abseits der gelegentlichen Begegnungen mit Menschen wenig bekannt. Erbgutuntersuchungen lassen vermuten, dass es weltweit nur eine Spezies dieser Megakalmare gibt: Architeuthis dux. Womöglich treiben die Jungtiere mit der Meeresströmung um den Globus und siedeln später in die Tiefe der Meere um. Für Calamari fritti taugt diese Spezies übrigens nicht: In seinem Muskelgewebe ist viel Ammoniumchlorid enthalten, was bestialisch stinkt und das zähe Fleisch ungenießbar macht. Pottwale stört das nicht, Riesenkalmare gehören zu ihrer bevorzugten Beute.

Ausdauernde Brutpflege

Viereinhalb Jahre lang hat eine weibliche Krake in der Tiefsee ausgeharrt, um ihre Eier zu bewachen. Eine derart lange Brutzeit sei bei keinem anderen Tier bekannt, berichteten Forscher im Jahr 2014. Die Wissenschaftler um Bruce Robinson vom Monterey Bay Aquarium Research Institute in Kalifornien hatten das knapp zehn Zentimeter lange Exemplar einer Tiefseekrake der Art Graneledone boreopacifica im Frühjahr 2007 mit einem Tauchroboter in 1400 Metern Tiefe entdeckt. Bei insgesamt 18 Tauchgängen in den folgenden Jahren beobachteten sie, wie das Weibchen ein Gelege aus olivengroßen Eiern behütete. Während der Nachwuchs heranwuchs, wurde das Weibchen dünn und bleich. Die Forscher konnten es nie beim Fressen beobachten, stattdessen war es damit beschäftigt, seinen Eiern frisches Wasser zuzufächeln und Feinde zu vertreiben. Zuletzt sahen die Meeresbiologen das Tier im September 2011. Wenige Wochen danach war es verschwunden und wahrscheinlich tot. Die leeren Eikapseln ließen auf etwa 160 geschlüpfte Kraken schließen. Die Forscher vermuten, die Brutphase sei so intensiv, weil die niedrige Temperatur in der Tiefsee die Entwicklung der Eier verlangsame und die Jungtiere bessere Überlebenschancen hätten, wenn sie beim Schlüpfen weit entwickelt seien.

Bei vollem Bewusstsein

Haben Oktopusse ein Bild von sich selbst? Können sie sich zumindest eine rudimentäre Vorstellung machen von ihrem Platz in der Welt und der Endlichkeit des eigenen Daseins? Ja, sagte eine Gruppe anerkannter Neurowissenschaftler 2012 in ihrer "Cambridge-Erklärung über Bewusstsein". Darin hieß es: "Die Beweislast deutet darauf hin, dass nicht nur Menschen neuronale Substrate besitzen, die Bewusstsein erzeugen." Aus der Tierwelt sei ihrer Ansicht nach neben Säugern und Vögeln als einziges wirbelloses Tier der Oktopus hinzuzuzählen. Dass die Achtarmigen Meeresbewohner Werkzeuge benutzen, zum Beispiel, wenn sie Kokosnussschalen mitführen, um sich im Notfall damit zu schützen, unterstützt die These vom selbstbewussten Tintenfisch. Dagegen spricht nach Ansicht einiger Fachleute, dass manche Kopffüßler Artgenossen fressen. Widerspricht nicht animalischer Kannibalismus der Idee vom geistigen Selbstbildnis? Tatsächlich darf man hier womöglich nicht vom menschlichen Wertesystem ausgehen, argumentieren manche Forscher (abgesehen davon, dass es auch in der Menschheitsgeschichte Kannibalismus gab). Fast alle Oktopus-Arten sind radikale Einzelgänger und als solche sozialisiert, was das Mitgefühl womöglich einschränkt.

Dosenöffner und Pingpong-Spieler

Das Öffnen eines Schraubverschlusses gehört zu den bekanntesten Fähigkeiten der Oktopoden. In unzählbaren Experimenten haben die Tiere verschlossene Behälter geöffnet. Dabei stellten Forscher zwei Dinge fest: Erfahrung macht den Meister. Je öfter die Tiere die Übung absolvierten, desto schneller wurden wie. Und die Aussicht auf Belohnung beschleunigte ihre Mechaniker-Lehre: Ist eine Krabbe in einem Glasgefäß zu sehen, geht das Öffnen deutlich schneller vonstatten. Gleiches konnten Biologen feststellen, indem sie den Deckelrand einer verschließbaren Dose mit einem Stück Hering einrieben. Die Forscher vermuten, dass der Geruchseindruck die Tiere sozusagen zum intensiveren Experimentieren ermuntert, während sie an einer neutralen Dose schneller das Interesse verlieren. Doch nicht nur, wenn sie Essbares vermuten, sind unbekannte Objekte für Oktopusse eine spannende Sache. Jennifer Mather von der kanadischen University of Lethbridge hat beobachtet, wie manche Oktopusse ausgiebig mit einer leeren Pillendose spielen, indem sie diese mit ihrer körpereigenen Wasserdüse quer durch das Aquarium schießen. Einmal spielten sie sogar Pingpong, indem sie den Sprudler ihres Beckens als Gegenspieler nutzten, der die Dose immer wieder zurückbugsierte.

Auge um Auge

Evolutionsbiologen wissen seit einer Weile, dass die Natur komplexe Körperteile mehrmals "erfunden" hat. So zum Beispiel die Flügel von Vogel und Fledermaus. Ähnlich ist es mit den Augen von Mensch und Kopffüßler. In Nature Scientific Reports berichteten Biologen vor drei Jahren, dass zwar ein Gen namens Pax6 in allen sehenden Lebewesen eine bedeutende Rolle spielt. Womöglich hat dieses Gen vor Urzeiten irgendwelche Glibberwesen in die Lage versetzt, zumindest hell und dunkel zu unterscheiden. Wenn heutige Lebewesen heranreifen, fungiert dieses Gen wie eine Art Vorarbeiter im Herstellungsbetrieb: Es instruiert andere Gene, die jeweils Teile zum entstehende Auge beitragen. Das Pax6-Gen ist Biologen zufolge älter als 500 Millionen Jahre und hat schon vor der kambrischen Explosion, bei der eine Vielzahl neuer Lebewesen entstand, eine Rolle gespielt. Doch weil sich die Entwicklungslinien von Mensch und Oktopus vor 600 oder vielleicht 700 Millionen getrennt haben, ist es höchst erstaunlich, dass sich die Augen beider Lebewesen heute dennoch stärker gleichen als etwa die Facettenaugen aus dem Insektenreich. Oktopoden, Kalmare und andere Cephalopoden haben so wie der Mensch sogenannte Kameraaugen, die aus einer Art Gehäuse mit Augenflüssigkeit bestehen.