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jesus im schwarzen prekariat

Arnulf Rainers Kreuz in der Stuttgarter Domkirche | Foto: sinedi

Stuttgarter Nachrichten vom 08.08.2019:

Neuer Coup von Milo Rau

Das Evangelium der Migranten

Roland Müller

Der Schweizer Regisseur Milo Rau plant im süditalienischen Matera seinen nächsten Coup: „Das Neue Evangelium“ soll ein Remake des legendären Jesus-Films von Pasolini werden. Die Hauptrollen besetzt er mit Flüchtlingen, die er zur realen Revolte aufrufen will.

Mit Theater jenseits aller Konventionen hat er sich einen Namen gemacht und jetzt sogar den Klerus überzeugt. „Milo Raus Kunst greift nach dem Leben, sie meint das Ganze“, hat der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler über das Projekt „Orestes in Mossul“ geschrieben, das der Regisseur im März in der ehemaligen Hauptstadt des „Islamischen Staats“ herausgebracht hat. Den Bischofs-Satz könnte man auch auf das „Lamm Gottes“ münzen, mit dem der Schweizer Theatermacher im Mai in Stuttgart gastierte: ein Gegenwart und Mythos genial verschmelzendes Menschen- und Gesellschaftspanorama, das aufs Tiefste berührt hat.

Nun wagt sich der 42-jährige Milo Rau, der im belgischen Gent das Nationaltheater leitet, an einen weiteren Mythos: ans Neue Testament. In Matera, wo die legendären Jesusfilme von Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson entstanden sind, verfilmt er ab Ende August die Passion Christi unter dem Titel „Das Neue Evangelium“. Der Clou: die Rollen sind nicht nur mit Schauspielern von Pasolini und Gibson besetzt, sondern auch mit Flüchtlingen.

Jesus ist schwarz und kommt aus Afrika

Mit dem Aktivisten und Plantagenarbeiter Yvan Sagnet soll zum ersten Mal ein schwarzer Jesus vor der Kamera stehen, an der Seite von Enrique Irazoqui, Pasolinis Jesus von 1964, und Maia Morgenstern, die 2004 bei Gibson die Heilige Maria spielte. Bei öffentlichen Drehs in Matera, der Europäischen Kulturhauptstadt 2019, wird Jesus das Wort Gottes verkünden, bevor er gekreuzigt wird, um schließlich in Rom, der Hauptstadt des katholischen Christentums und Sitz einer ausländerfeindlichen Regierung, wieder aufzuerstehen. Das fürs inszenierte Wunder vorgesehene Datum: 10. Oktober.

Doch damit nicht genug. Parallel zum Pasolini-Remake möchte der interventionistische Rau „die humanistische Botschaft des Neuen Testaments ins Heute transformieren“, wie es in einer Mitteilung heißt. Im September startet mit einem Marsch aus Flüchtlingslagern die „Revolte der Würde“, angeführt vom Jesus-Darsteller Yvan Sagnet – und folgen sollen ihm Migranten, „die auf den Tomatenfeldern von der Mafia versklavt werden.“ Sein neues Großprojekt, sagt Rau, „wird Jesus vom Kopf auf die Füße stellen“ – und wenn nicht alles täuscht, ihn selbst zum Erlöser machen: mit einem Freiheits-Evangelium, das statt auf den Glauben auf die Tat setzt.


taz vom 1709.2019

Milo Rau über sein Theaterprojekt

Jesus, der Loser

Unser Autor inszeniert in Süditalien ein „Neues Evangelium“. Sein Heiland ruft Lega-Wähler dazu auf, „zum wahren Glauben“ zurückzukehren.


Yvan Sagnet wird als Jesus gefoltert - Foto: Maurizio Di Zio


Vor ein paar Tagen begann in Italien die heiße Phase unseres Jesus-Films, zu dem auch die „Rivolta della Dignità“, eine politische Kampagne für die Rechte von Migranten und Landarbeitern gehört. Unser Jesus, der Aktivist Yvan Sagnet, ist schwarz, seine Kampagne besteht unter anderem in Hausbesetzungen, Sit-ins und Verführung zu zivilem Ungehorsam.

Kürzlich riefen er und seine Apostel die Wähler der rechtsradikalen Lega dazu auf, „zum wahren Glauben zurückzukehren“. Mit Rechten reden? Gern, aber nur, wenn sie vorher Buße tun.

Vergangene Woche erschien unser schwarzer Jesus auf der Titelseite der größten rechten Zeitung Italiens, die perverserweise La Verità heißt. Ein Bild zeigte ihn mit Dornenkrone, der erste Satz des Artikels lautete: „Könnten Migranten tatsächlich über Wasser gehen, dann hätten wir ein echtes Problem.“ Faschistische Rhetorik ist mit bürgerlichen Maßstäben nicht messbar.

Sie ist immun gegen Argumente politischer oder ethischer Art, da „in der analen Phase stecken geblieben“, wie ein Analyst einmal sagte. Was gemäß Freud ein lustvoller Zustand ist. Oder mit Pasolini gesprochen: Es macht eben verdammt viel Spaß, ­Faschist zu sein.

Das Zitat der Verità ist ein finsterer, unendlich bösartiger Scherz. Es ist, als würde dieser Journalist auf das Grab von Tausenden von ertrunkenen Menschen spucken. Ich glaube übrigens, dass das unterdessen so normal ist, dass es niemanden auch nur aufgefallen ist.

Und es würde wohl auch niemandem auffallen, würde der gleiche Journalist bei einem Schulbrand in Afrika schreiben: „Wären afrikanische Kinder wirklich feuerfest, hätten wir ein echtes Problem.“ Und sich dabei als Mann fühlen, der die Dinge sagt, wie sie sind: Diese Menschen sind Verlierer durch Geburt im globalen Kapitalismus – und haben deshalb den Tod verdient.

„Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Aber wie kann man rassistische Gewalt darstellen? In unserem Film spielt eben der Kameruner Yvan Sagnet den Gottessohn. Kaum eine Geschichte ist zugleich so gewalttätig und zart wie das Neue Testament. Gott wird zum Menschen, um das Einzige kennenzulernen, was ein Gott nicht kennen kann: den Tod.

Dieser Gott stirbt, nicht metaphorisch, sondern körperlich, durch Einwirkung extremster Gewalt – am Kreuz. Seine letzten Worte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Die abstrakte Sinnstiftung scheitert am Leid des Individuums.

An einem unendlichen langen Drehtag filmen wir in einer der Materaner Höhlensiedlungen die Folterung des Gottessohns. Gerade weil Sagnet schwarz ist, wird Jesus als Individuum sichtbar. Etwas stimmt nicht im Bild, und auf einmal ist da nicht mehr „Jesus“, sondern ein Körper: ein afrikanischer Körper, der ganz konkret der abstrakten Gewalt des globalen Rassismus unterworfen ist.

Für die Maske ist der Maskenbildner von Mel Gibson angereist, als Stuntman haben wir den Stuntman des neuen James Bond eingeladen, der gerade in der Stadt gedreht wird. Im Hintergrund dieser also völlig naturalistisch ausgemalten Folterung ist aber ein kleines Podest aufgebaut: auf ihm sitzen Zuschauer, darunter Enrique Irazoqui, der Jesus von Pasolini, und Maia Morgenstern, die Mutter Gottes bei Mel Gibson.

Gerade die historischen Kostüme und Kulissen, gerade das ganze Kunstblut lassen Jesus in seiner absoluten Verletzlichkeit hervortreten. „Wir haben den Kampf gegen den Faschismus verloren“, sagt mir der Spanier Irazoqui, der einst gegen Franco kämpfte, als ich ihm später am Tag den Artikel in der Verità zeige. Aber das eigentliche Mysterium von Jesus besteht ja gerade darin, dass er nach kapitalistischem Maßstab ein Loser ist.

Dass er stirbt, dass er im Kampf gegen Rom unterliegt – und damit, wie Paulus später feststellen wird, einen Sieg über das Siegen selbst erringt. Denn man kann einen Kampf nicht verlieren. Man kann ihn nur nicht kämpfen.

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blasphemie ist das beileibe nicht - das ist eher eine eigenwillige aber zeitgemäße filmische nacherzählung - eine übertragung der geschichten und des geistes des neuen testamentes in unsere zeit.

und milo rau lässt den jesus von dem schwarzen plantagenarbeiter yvan sagnet verkörpern: ein schwarzer jesus im film - endlich mal.

neben den dreharbeiten zum film gibt es auch protestaktionen: z.b. gegen die versklavung der schwarzen tomatenpflücker in den plantagen dort - und da spürt man auch etwas vom atem jesu bei solchem protest - beim aufbäumen gegen dieses im wahrsten sinne des wortes "römische" rechtsradikale neoliberale establishment, das die schwarzen dort rasch zu tomatenpflückern rekrutiert und vereinnahmt - und die not der ankommenden jungen menschen mir nichts dir nichts ausnutzt und sie auspresst...

man sagt ja immer, geschichte wiederhole sich nicht - aber ein konkreter lebendiger jesus heutzutage würde wohl tatsächlich schwarz sein und in lampedusa mit dem rettungsfloß ankommen - um dann aber zu versuchen, den ankommenden flüchtlingen sicherheit und geborgenheit zu geben.

und vielleicht würde er wieder unterliegen - und die "rechte" in italien würde schreien: lasst ihn verrecken im mittelmeer (statt: kreuziget ihn) - und schaut, er kann ja gar nicht übers wasser laufen ... 

aber - wie schreibt milo rau oben: "man kann so einen kampf nicht verlieren. man kann ihn nur nicht kämpfen."