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bis in die dritte und vierte generation ... - update

Erinnerungskultur

Das Gedenken an den Holocaust muss lebendig bleiben


Auschwitz-Zaun (foto: reuters)

Der Erfolg des Kitschromans "Stella" ist nur das jüngste Indiz: Die fiktionale Vernutzung des Holocausts wird zunehmen. Dem muss die Gesellschaft mit kritischem Geschichtsbewusstsein entgegentreten.

Von Norbert Frei | Kolumne in der sueddeutschen

Es war eine bewegende Rede, die Saul Friedländer am Donnerstag im voll besetzten Bundestag gehalten hat. Doch jenseits des dort versammelten Publikums: Wie viele Menschen in unserem Land haben dem großen Historiker des Holocaust am Ende zugehört? Wie viele hat er mit seiner Gabe erreicht, die Stimmen, das Leid, die Ängste der Opfer - darunter auch die eigenen Eltern - zu vergegenwärtigen? Und wie viele haben den Zeitungsbericht überblättert, weggeklickt, in ihrer digitalen Blase ohnehin nichts mitbekommen oder sich gar belästigt gefühlt?

Vor einer Woche diskutierte ich in Frankfurt am Main mit Studierenden darüber, wie die Deutschen seit 1945 mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit umgegangen sind. In der Erörterung der vielen Etappen dieser komplizierten Geschichte waren wir einig, an einem Punkt jedoch erntete ich Widerspruch. Mehrere aus der Gruppe hielten eine Passage meines Textes, den sie zur Vorbereitung gelesen hatten, für zu optimistisch. Darin spreche ich davon, "wie lang, wie steinig und mit welchen Schlaglöchern durchsetzt die Strecke bis zu der Einsicht war, die heute wohl immer noch die meisten Deutschen teilen: dass gesellschaftliche Zukunft nicht durch Verleugnung und Verdrängung des Gewesenen gewonnen wird, sondern durch einen kritisch-aufklärerischen Umgang damit".

Mein von den klugen jungen Leuten bezweifeltes "wohl immer noch" ist durch Umfragen gedeckt. Zugleich verweist es auf eine Tendenz, die in den vergangenen Tagen zu Recht beklagt worden ist. Auch Spitzenpolitiker konstatieren, dass der gesellschaftliche Rückhalt für die - gerade auch von ihnen - gern herausgestellte Erinnerungskultur abnimmt. Es sei deshalb wichtig, das "Gedenken neu zu gestalten", meint die Kanzlerin, und der Außenminister präzisiert: "Geschichte muss von einem Erinnerungs- noch stärker zu einem Erkenntnisprojekt werden."

Dem kann man nur beipflichten. Ein Erinnern, das ohne fundiertes historisch-kritisches Wissen auszukommen glaubt, wird den Herausforderungen von rechts nicht standhalten. Es vermag auch der fiktionalen Vernutzung des Holocaust wenig entgegenzusetzen, die zunehmen wird, wenn die letzten Zeitgenossen der NS-Zeit verschwunden sind. Der Erfolg von "Stella" ist dafür nur das jüngste Indiz: Die Literaturkritik senkt fast unisono den Daumen - trotzdem rangiert die altbekannte Geschichte einer Berliner Jüdin, die sich als Gestapo-Agentin vor der Verfolgung rettet, indem sie andere ins Verderben stürzt, in den Bestsellerlisten weit oben.

Biografien, die Sperriges nicht einfach glätten, verdienen unsere Aufmerksamkeit

"Teile der Geschichte sind wahr", heißt es auf der ersten Seite des Kitschromans. Wer nicht bloß leichtes Lesefutter sucht, sondern dem Unerhörten des Judenmords und seinem Ozean unfasslicher Geschichten näherkommen will, dem böten sich andere Möglichkeiten. Nur Wochen vor der Sensationsstory, die keine ist, erschien der Lebensbericht einer Frau, die keiner mehr kennt und deren Geschichte, geht es nach den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie, vermutlich auch kaum jemand mehr kennenlernen wird.

"Ich war ein besonderer Fall", zitiert der Titel dieses Buches die Essener Bergmannstochter Helene Mantwill, die 1926 einen gut aussehenden jungen Polen heiratet, der auf der Suche nach einer besseren Zukunft als "Ostjude" ins Ruhrgebiet gekommen war. Helene entstammt einem nicht übertrieben frommen preußisch-protestantischen Elternhaus - und findet nichts dabei, ihrem David zuliebe zum Judentum zu konvertieren. Dass sie mit der Eheschließung die deutsche gegen die polnische Staatsangehörigkeit eintauscht, ist der Mutter zweier Töchter auch nach 1933 kaum ein Problem; sie weiß, wie man sich sogar auf Ämtern um den Hitler-Gruß drückt. Doch Ende Oktober 1938 schiebt das Deutsche Reich alle "Ostjuden" ab; fast zehn Monate verbringen die Zytnickis ohne Hab und Gut in einem polnischen Grenzort, ehe sie nach Warschau dürfen - wo bald die Besatzer herrschen und die Einwohner der Stadt auseinandersortieren: in Deutsche, Polen, Juden.

Als gelernter Buchhalter leistet David Zwangsarbeit im Ghetto, während Leni als "patente Reichsdeutsche" zwischen dem jüdischen und dem deutschen Viertel pendelt, den Unterhalt der Familie mit illegalen Geschäften sichert und mit dem alten Pass ihrer Schwester zweimal nach Essen fährt. Während des Warschauer Aufstands im August 1944 verliert sich Davids Spur, aber Leni schafft es mit den Kindern zurück in die Stadt ihrer Geburt. Dort kämpft sie um Entschädigung und Wiedereinbürgerung - und beschließt im Alter von 96 Jahren, ihre Geschichte zu erzählen. Zwei pensionierte Pädagogen haben diese "Oral History" vorbildlich rekonstruiert: ohne Sperriges zu glätten und Lücken fantasievoll zu füllen.

Solche Biografien verdienen unsere Aufmerksamkeit. Sie zeigen auch, wie viel mehr wir heute wissen (können) als zu Zeiten von "Holocaust", jener zu Unrecht viel geschmähten und gerade noch einmal ausgestrahlten Serie, die den Mord an den Juden Europas einer breiten Öffentlichkeit vor Augen führte - vor 40 Jahren erst.

SZ-Kolumne von Norbert Frei
🔴 Norbert Frei, geboren 1955 in Frankfurt am Main, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena. Er leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts.

es sei deshalb wichtig, das "gedenken neu zu gestalten", meint die kanzlerin.

aha. ich meine, kennen wir von ihr irgendeine initiative in diese richtung, an die wir uns spontan erinnern? so etwas wie brandts kniefall in warschau oder den kolportierten satz: "jetzt wächst zusammen was zusammengehört" - am gedenktag für den holocaust habe ich sie eigentlich noch nie fundamental dazu sprechen hören - das machen bundestagspräsident und zeitzeugen oder - wie vor 2 jahren, als man endlich auch mal die 300.000 nazi-"euthanasie"-opfer in den mittelpunkt rückte - da hat beispielsweise ein schauspieler mit down-syndrom tagebuch-texte eines betroffenen opfers vorgelesen - nach der berührenden und lebendigen rede des damaligen total erkälteten bundestagspräsidenten norbert lammert, dem die nase und die tränen liefen -  das war es dann aber auch schon mit der neugestaltung - danach war wieder tragende musik am anfang und am ende und zwischendurch professorensprech und die zeitzeugen- und lebensweg-resümees von inzwischen über 90-jährigen menschen

man spricht auch immer gern von "erinnerungskultur" - aber was der mensch nicht selbsterlebt hat, kann er auch nicht ohne weiteres erinnern. der parallelbegriff einer "gedenkkultur" ist hierzu also vielleicht angebrachter - aber gedenken kann immer auch so erfolgen, wie es eben vor 2 jahren bei der feierstunde mit dem schwerpunktthema "euthanasie"-opfer begonnen wurde: etwas mehr "gedenken" durch das erzeugen einer art "konfrontations-meditation": so will ich das mal zunächst ganz holperig als "arbeitstitel" hier stehenlassen - natürlich auch mit musik, ja - aber auch durch film, bild, literatur, theater, schauspiel, graphic novel u.a.: und durch das nachzeichnen von beispielhaften einzel-opferporträts - die genannten gesamtopfer-zahlen im holocaust sind einfach zu abstrakt, um anhaltend zu beeindrucken ... 

und wenn man wegen seinem sitzungsfreien wochenendfrei kurzerhand den jeweiligen gedenktag vom 27.januar mal gerade aus praktischen gründen um ein paar tage verschiebt, wie schon 2018 nun auch 2019 geschehen, zeigt man ja der öffentlichkeit, wie wichtig dem "hohen haus" dieser termin tatsächlich ist ... - 

nein - es "bröckelt" wirklich an allen ecken und enden - und wie das kaninchen auf die schlange starrt man auf die letzten zeitzeugen der grausamkeiten: wie lange halten sie noch durch - und kann man sie über ihre agenturen noch einmal für einen "gedenk-akt" gewinnen und motivieren ... und ist ihre stimme und ihre aussprache so, dass sie sich gehör verschaffen können - und wie lange noch ??? 

inzwischen berichten aber auch menschen, wie sie einzelbiografien ihrer familien oder aus dem heimatort entdeckt haben und ihnen gefolgt sind - menschen berichten, wie die archive und die historiker sich ihnen gegenüber verhalten bei fragen zu "shoah" und "euthanasie" - und all den anderen opfern: sinti, roma, homosexuelle, zwangsarbeiter usw.

dann wäre gedenken wieder inmitten der jetzt lebenden generation verankert - und die forschung würde zum erlebnis - und die berichte dazu zum mit-erleben.

das obengenannte buch zur biografie der essener bergmannstochter helene mantwill wäre sicherlich so ein beispiel - und die beiden pädagogen berichten konkret über ihre forschungsarbeit zu dieser authentischen "oral history" - oder die kinder der beiden pädagogen berichten, wie sie ihre väter erlebt haben während der recherche und was die dazu beim gemeinsamen abendessen berichtet haben ...

in der bibel steht ja bereits seit 2000 jahren etwas von der "heimsuchung bis in die dritte und vierte generation" - und die forschung nimmt an, dass traumatisch erlebte ereignisse sich unbewusst im individuellen verhalten und empfinden weiter "vererben", wenn sie einfach verdrängt und abgespalten und nicht aufgearbeitet werden ...

hier hat die nation eines täter- und auch opfervolkes immer noch sein "lebtag" mit zu tun - ob das der afd nun passt oder nicht - und wahrscheinlich auch über den jeweiligen 27. januar hinaus ...

denn wer es so treibt wie herr gauland von der afd, den "vogelschiss" nämlich am liebsten einfach abzuwischen, herunterzuspülen und zu verleugnen, müsste eigentlich angezeigt werden, wegen fahrlässiger körperverletzung, denn eine allgemein-therapeutisch notwendige aufarbeitung jener zeit wird so ja einfach negiert und ausgeklammert.

es gab für mich mein lebtag schon den leitspruch: "der weg dorthin - ist der weg dadurch" - will in diesem fall sagen: wenn ich mein leben und jeweilige situationen möglichst ohne auch unbewusste einschränkungen von irgendwoher leben will und mich von "ererbten" belastungen aus meinen familien befreien will - muss ich mich durch all den schlamassel dieser dazuzählenden beteiligten menschen begeben - ich muss hinhören und lesen und mich interessieren, und vieles davon wird nicht im world-wide-web von vornherein verzeichnet sein und ist nicht mit dem smartphone abrufbar - und ich muss festhalten, was da bei "uns" oder in der nachbarschaft oder auch bei entfernten verwandten los war - und  mich auch an- und berühren lassen: ab und zu wird die stimme brechen und werden die augen feucht werden - das sind aber keine zeichen der schwäche oder von zu viel emotionalität - das ist "mitgehen" und "erleben": es geht nicht um die kurzfristige "nachbarschafts-sensation" - es geht um langfristige emotionale bewältigung und ein "damit leben lernen"... - die "vierte generation" nach 1945 reicht noch mindestens bis 2050/2060 ...

nix für ungut - und chuat choan



Grünen-Chefin Baerbock über Emotionen in der Politik

"Jetzt heult die da im Bundestag"

Ein Holocaust-Überlebender hat mit seiner Rede im Bundestag viele Menschen gerührt - Annalena Baerbock sogar zu Tränen. Für die Grünen-Chefin nach eigenen Angaben eine Gratwanderung: Wie viel Emotion ist zu viel?


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Wie viele, welche Gefühle darf man in der Berufspolitik zeigen? Ohne, dass einem nicht nur in sozialen Netzwerken Hohn und Spott entgegenschlagen? Mit solchen Fragen beschäftigt sich Grünen-Chefin Annalena Baerbock nach eigenen Angaben. So auch mit der Frage, ob sie hart genug für den Job der Parteivorsitzenden ist.

Sie sei in die Politik gegangen, um Dinge zu verändern und mit vielen Menschen im Gespräch zu sein, sagte die 38-Jährige im SWR-Interview. Diese Nahbarkeit bedeute auch immer eine gewisse Emotionalität.

Als Beispiel nannte Baerbock die Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag. Dabei waren ihr am Donnerstag die Tränen gekommen, als der Holocaust-Überlebende Saul Friedländer geschildert hatte, wie er als Kind von seinen Eltern getrennt worden war.

"In diesen Momenten kommt man gar nicht drum rum, an seine eigenen Kinder zu denken, sich genau das vorzustellen, was natürlich Emotionen auslöst", sagte Baebock, selbst Mutter von zwei Töchtern. "Wenn einem da die Tränen kommen und (man) weiß genau, da halten jetzt zig Kameras drauf, dann ist das immer so: Soll man sich verstellen oder nicht?"

Auf der einen Seite gehe es darum, empathisch und offen zu bleiben, auf der anderen Seite könne einem dann gerade in den Sozialen Medien vorgeworfen werden: "Jetzt heult die da im Bundestag." Das sei eine Gratwanderung. Aber: "Ich glaube, ein Abstumpfen ist das Gefährlichste, was man in der Gesellschaft derzeit tun kann."

text aus: spiegel-online

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