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Umfrage zur Erinnerungskultur

ein einziger buchstabe - das vorangestellte "v" - macht aus "er-innern" ein "v"er-innern" ein "ver-innerlichen". und dieses verinnern ist es, was die ereignisse in der lebensbiografie dieser gesellschaft hier über die generationen hinweg von "äußerlichkeiten" (vielleicht: "die mir nichts angehen"), umwandeln in ein "sich-einlassen-können", etwas an sich herankommen lassen, um es aufzunehmen, um es zu verinnerlichen, um es mit zu durchleben.

durch-leben, zu was menschen in relativ kurzer zeit (12 jahre) mit ein paar einfachen stellschrauben-änderungen aus der propagandaabteilung der diktatur fähig sind, als mitläufer, als denunzianten, als weggucker, als verräter, als mittäter, als vollstrecker...

ein klitzekleines eigentlich harmloses aber bezeichnendes phänomen davon wurde dieser tage sichtbar gemacht, als die medien darüber berichteten, dass es anrufe bei der polizei gab: "hier gehen fünf menschen eng nebeneinander über den rasen auf dem gesperrten spielplatz, trotz-corona-kontaktsperre, und reden laut miteinander - kommen sie mal vorbei und rufen sie die bitte zur ordnung"...

das ist das klassische phänomen: ich will "regelkonform" zu den "guten" gehören - und ich schwärze die an, die sich offensichtlich fehlverhalten - gegen welche obrigkeit auch immer ...

zu den "guten" zu gehören, die offensichtliche "mehrheitsmeinung" mitzutragen, und "brav" zu sein gegenüber der obrigkeit, ist den menschen von der wiege zumeist anerzogen worden.

aber das ausmaß, das eine solche zustimmung zur nsdap zum beispiel tatsächlich hatte, schlägt nun, einige generationen danach, mit der gleichen soziologischen mechanik um: da ich zu den "guten" gehören will, leugne ich natürlich, dass uropa oder opa seinerzeit voll mitgemacht haben und dabei waren - und sogar das braune parteibuch in der tasche hatten.

und wie bei pippi langstrumpf - die dieser tage auch schon 75 wird, das buch von astrid lindgren erschien also, als der krieg justement zu ende ging - kann sich die heutige generation einfach unbelastet ohne jede skrupel die welt so malen, "wie sie ihr gefällt" - 

und (ur-)oma und (ur-)opa und großtante und großonkel einfach neu erfinden, wie sie es gelernt haben ja auch in den sozialen netzwerken - mit nicknames jeweils eine neue identität zumindest fantasievoll virtuell nebenher zu "leben" - und wieder nach der postmodernen prämisse: "ich bin viele"... - mal so und mal so...

und darum kommt es so auf dieses "verinnerlichen" an, dass man seinem eigenen gewissen wenigstens nichts vormacht und sich nicht selbst belügt oder seine altvorderen einfach verleugnet.

ein großteil der in dieser umfrage hier zur "erinnerungskultur in deutschland" befragten tut das aber: macht sich selbst und anderen etwas vor - und lügt sich selbst in die tasche. verinnerlichen heißt auch, offenen auges "wahr"zunehmen, was in der familie damals tatsächlich los war.

und da helfen auch nicht die stammelnden ersatzhandlungen: das stelenfeld in berlin zu besuchen - aus einer art reue, mit dem bus und der abschlussklasse nach auschwitz und majdanek fahren, und ein referat halten zu einem einzelschicksal der euthanasie-morde - und dann hat man ja wohl genug gebüßt: ich mal mir die welt, wie sie mir gefällt ... 

das problem ist, dass durch verschweigen, durch scham - und schlicht aus unwissenheit und unsensibilität - es oft zu einer vernünftigen aufarbeitung der eigenen herkunfts-familiengeschichte durch schonungslose recherche erst gar nicht kommt.

von einem gestalttherapeuten habe ich vor jahren bereits seine definition des wortes: "ge-schichte" gehört: 

ge-schichte ist das - wie das wort schon andeutet - in uns aufgetürmte, ge-schicht-ete selbst erfahrene und überkommene, vererbte, weitergegebene, erspürte erleben in uns, das sich als ureigene "erfahrung" wie jahresringe über- und durcheinander "schichtet", verstrickt und verkettet und uns individuell prägt und unser verhalten bestimmt - "bis ins 3. und 4. (generations)glied" - wie die bibel in "exodus 20" feststellt - eine zeitspanne, die in psychologischen studien zur "trans-generationalen übertragung" in den heutigen zeiten voll bestätigt wird (click = bundestags-drucksache der 'wissenschaftlichen dienste' zu diesem thema).

geschichte durchläuft also "phasen" des geschehens, die der mensch sich in seinem leben zu eigen machen muss - zumindest muss er sich aktiv damit auseinandersetzen - und sie "lagern sich ab" in seinem inneren erfahrungsschatz - und üben durch ihn ihre choreografie in und an ihm aus, als "designs" und "performances".

und oftmals bestehen diese performances der persönlichen erinnerungkultur im lauf der jahre sicherlich auch aus mancherlei "pirouetten" und "purzelbäumen" und der "schraube rückwärts" in einem ansonsten vielleicht relativ überschaubaren "geschichtsdesign".

und für jede verhaltens-entscheidung gibt es eben tausend andere möglichkeiten - die hat uns unsere uns eingeborene und mitgegebene "freiheit" eingeräumt - und da ist mein eingebautes und mir überkommenes "navi" für "moral" und "gut" und "schlecht" ein guter wegweiser - wenn wir seine inneren signale überhaupt wahrnehmen können - evtl auch als ad-hoc-"bauchentscheidung", wo ja das verinnerlichte [!] "ge-schichte-te" eingelagert erscheint.

und da kommt dann unsere jeweilige "antwort" auf die geschehnisse in und um uns herum ins spiel - unsere "ver-antwort-ung" - also quasi unsere gewählten bewegungsabläufe- und entscheidungsantworten auf die jeweiligen situationen im äußeren und inneren, im uns prägenden hier und jetzt: ecce homo - siehe: ein mensch...

und ob die "zuschauer" im saal, also unsere umwelt, nun mehrheitlich nach jeder sequenz dazu beifall klatschen oder doch trampeln und pfeifen oder sich gar zum "standing ovation" aus ihren sesseln erheben für das jeweilig irgendwie aufgestülpte oder gewählte oder verantwortete "design" - und für die performance und die choreografie-"antwort" dazu - das sei mal dahingestellt.


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Geschichte · Christian Staas
Das Ende der Selbstgewissheit

Eine von der ZEIT in Auftrag gegebene Umfrage zeigt: Der Umgang mit der NS-Vergangenheit ist so umkämpft wie lange nicht. Und die jüngsten Attacken von rechts treffen auf eine Erinnerungskultur, die fragiler ist, als es scheint
Wie halten es die Deutschen mit der Geschichte, 75 Jahre nach dem 8. Mai 1945, nach den Verheerungen des Weltkrieges, nach Zusammenbruch und Befreiung?

Ein paar Antworten:

53 Prozent der Bundesbürger wollen einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen.

77 Prozent halten es für ihre Pflicht, Diktatur und Holocaust nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

66 Prozent möchten mehr über die Geschichte des Nationalsozialismus wissen.

59 Prozent finden es übertrieben, dass ihnen das Thema »fast täglich in den Medien vorgehalten wird«.

Im Auftrag der ZEIT hat das Institut policy matters am Anfang dieses Jahres 1044 Frauen und Männer ab 14 Jahren nach ihren Einstellungen zur NS-Zeit befragt. Die Ergebnisse könnten, selbst wenn man sie mit der gebotenen Skepsis betrachtet, widersprüchlicher kaum sein: Die Deutschen wollen sich erinnern und wollen es doch nicht.

Historische Fragen sind Identitätsfragen, und seit je ist die Haltung zur NS-Vergangenheit hierzulande ein Gradmesser für den Zustand der politischen Kultur. Daran hat sich nichts geändert, auch wenn die großen Geschichtsdebatten vorbei sein mögen. Die sogenannte Neue Rechte hat unterdessen der Erinnerungskultur selbst den Kampf angesagt, und spätestens seit die AfD in den Bundestag eingezogen ist, erfolgen ihre Angriffe auf großer Bühne. Dass zugleich die letzten Zeugen sterben, ist eine bittere Koinzidenz: Die kollektive Erinnerung wird schon bald ohne jene auskommen müssen, die sich noch erinnern können.

Das Bild, das die Umfragedaten zeichnen, kann man da, je nach Gemütslage, als beruhigend oder beunruhigend empfinden. Immerhin sprechen sich stabile 77 Prozent der Befragten für Erinnern und Gedenken aus. Aber meinen sie, was sie sagen? Oder bestätigt sich hier der finstere Verdacht, den der Gießener Politologe Samuel Salzborn kürzlich in seinem Buch Kollektive Unschuld geäußert hat: dass die Erfolgsstory von der Aufarbeitung eine »Lüge« sei, ein dünner Firnis, unter dem sich ein Abgrund von Unbelehrbarkeit, Rassismus und Antisemitismus auftut wie zuletzt in Halle und Hanau?

Sieht man genauer hin, trifft weder das eine noch das andere zu: Es gibt nichts zu beschönigen – und nicht viel zu entlarven. Stattdessen scheinen sich in den Zahlen diffuse Affekte abzubilden, die durchaus in einer Brust wohnen können. Es schließt sich nicht aus, die historische Auseinandersetzung für wichtig zu halten, eine vage Sehnsucht nach »Normalität« zu verspüren (56 Prozent meinen »voll und ganz« oder »eher«, dass ständiges Erinnern »ein gesundes Nationalbewusstsein« verhindere) und, vielleicht aus Unwissenheit, zu denken: »Die Masse der Deutschen hatte keine Schuld, es waren nur einige Verbrecher, die den Krieg angezettelt und die Juden umgebracht haben« (insgesamt 53 Prozent Zustimmung).

Womöglich spiegelt sich in solcher Ambivalenz sogar ein deutscher Normalzustand. Denn sosehr man, wie jüngst die Philosophin Susan Neiman in ihrem Buch Von den Deutschen lernen, die Erinnerungskultur dieser Republik als Errungenschaft begreifen darf, war und ist sie dies im Wortsinn: ein unablässiges Ringen der Gesellschaft (und jedes Einzelnen) mit sich selbst. Die stolze Gewissheit, es im »Aufarbeiten« gleichsam zum Weltmeister gebracht zu haben, hat darüber zuletzt recht großzügig hinweggetäuscht.

Anfechtungen gab es immer wieder: In den Achtzigerjahren – die Deutschen lernten gerade das Wort Holocaust zu buchstabieren, und auch die Konservativen feierten nun den 8. Mai als »Tag der Befreiung« – entbrannte über die relativierenden Thesen Ernst Noltes der Historikerstreit. In den späten Neunzigern litt Martin Walser öffentlich unter der »unaufhörlichen Präsentation unserer Schande«, und der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein erblickte im geplanten Holocaust-Mahnmal in Berlin ein von außen aufgezwungenes »Schandmal«. Die Gleichzeitigkeit von Schuldabwehr und dem Bekenntnis »Nie wieder!« scheint geradezu das Signum der deutschen Haltung zur NS-Geschichte zu sein.

Besonders im Familiengedächtnis haben sich die alten Muster konserviert. Opa ist heute weniger Nazi denn je: Gerade einmal drei Prozent geben in der aktuellen Umfrage an, ihre Vorfahren hätten das Hitler-Regime befürwortet; 30 Prozent dagegen glauben, aus Familien von Nazi-Gegnern zu stammen. Selbst wenn man die Maßstäbe für die Anhängerschaft sehr eng und die für die Gegnerschaft sehr weit fasst, stehen diese Zahlen in keinem Verhältnis zur historischen Realität.

Die Schlussstrich-Forderung dagegen hat über die Jahre an Zugkraft verloren. Während die Akzeptanz eines selbstkritischen Geschichtsbildes wuchs, schrumpfte die Jetzt-ist-auch-mal-gut-Fraktion nach Befragungen des Allensbach-Institutes von 66 Prozent im Jahr 1986 auf 48 Prozent 2009.

Deuten die nun ermittelten 53 Prozent eine Wende an? Dafür fehlt es an validen Daten. Die Selbstverständigungsdebatte über die NS-Geschichte aber, so viel lässt sich sagen, ist nicht dabei, sich zu harmonisieren. So übertreffen die Rede vom »Vogelschiss« und die Forderung nach einer »erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad« frühere Einwürfe nicht nur an Grobschlächtigkeit.

Die nach Parteipräferenz aufgeschlüsselten Umfragedaten lassen außerdem keinen Zweifel daran, dass die AfD-Wähler nicht anders denken als die Partei-Demagogen. 80 Prozent und mehr teilen folgende Aussagen »ganz und gar« oder »eher«: dass, »gemessen an der langen Geschichte unseres Landes«, der Nationalsozialismus einen »viel zu großen« Raum einnehme; dass man als Deutscher »wegen der NS-Geschichte nicht mehr offen über bestimmte Themen diskutieren« könne; dass es Zeit für einen »Schlussstrich« sei. Die Liste ließe sich fortsetzen. Für 39 Prozent ist die Judenverfolgung »sehr weit weg« und nicht von Interesse. 58 Prozent finden, der Nationalsozialismus werde zu negativ dargestellt; er habe »auch positive Seiten« gehabt.

Der rechte Rand hat sicherlich einen polarisierenden Effekt auf das Gesamtbild. Gänzlich zu erklären aber ist das widersprüchliche Umfrageergebnis damit nicht. Vielmehr zeigt sich, dass der Angriff von rechts kein festgefügtes Bollwerk des »Schuldkults« trifft, wie die Rechte insinuiert, sondern ein fragiles Gebilde, das in stetem Wandel begriffen ist.

Verschoben hat sich in den vergangenen Jahren nicht nur der politische Rahmen. Auch was 59 Prozent der Befragten beklagen – dass der Nationalsozialismus in den Medien übermäßig präsent sei –, ist kaum mehr der Fall (wenn es denn jemals zutraf). Der Spiegel etwa, notorisch im Ruf stehend, mit Hitler Auflage zu machen, hat seit 2016 keine einzige NS-Geschichte mehr auf dem Titel gehabt.

»Hitler sells«, spottete der Freiburger Historiker Ulrich Herbert 2015 in dieser Zeitung. Das stimmte schon damals nicht mehr. Bei den großen Verlagen wie S. Fischer und C. H. Beck haben es NS-Titel seit mindestens zehn Jahren schwer. Selbst im ZDF, wo Guido Knopp den Zuschnitt sämtlicher Aspekte auf Hitler bis an die Grenzen der Selbstparodie getrieben hat, sind Dokumentationen zum »Dritten Reich« deutlich seltener geworden. Das Thema verlagert sich mehr und mehr in Spartenkanäle und Mediatheken. Keiner muss mehr »wegschauen«, wie Martin Walser es 1998 für sich reklamierte. Es genügt, nicht hinzusehen.

Die erinnerungskulturelle Hochphase zwischen 1990 und 2010, sagt Stefan Brauburger, Knopps Nachfolger beim ZDF, »wurde maßgeblich durch die Archivöffnungen in Osteuropa und Russland nach dem Ende des Kalten Krieges ausgelöst«. Zu heben gab es vor allem Quellen über den Krieg und den Holocaust; nicht zuletzt deshalb hätten diese Themen viele Jahre lang überwogen. Diese Welle sei gebrochen, die Einschaltquoten seien danach zurückgegangen. Von »Müdigkeit« und »Sättigung« sprechen auch Brauburgers Kollegen in den Buchverlagen.

An anderer Stelle dagegen ist der Zulauf überwältigend: in den Gedenkstätten. Bevor sie infolge der Corona-Pandemie schließen mussten, vermeldeten sie vielerorts Besucherrekorde.

»Eine Ursache ist der boomende internationale Tourismus«, sagt Volkhard Knigge, der seit 1994 die KZ-Gedenkstätte Buchenwald leitet (nun folgt ihm Jens-Christian Wagner nach, der bisherige Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten). Buchenwald und andere ehemalige Lager seien aber auch mehr denn je Orte der gesellschaftspolitischen Debatte – und der Konfrontation.

Mindestens einmal pro Monat haben es Knigges Mitarbeiter mit rechtsextremen Provokationen, Schmierereien oder Vandalismus zu tun. Seit 2015 registrieren sie bei der Zahl der Vorfälle dramatische Ausschläge nach oben (ZEIT Nr. 27/19). Auch das Schweigen halte wieder Einzug. Nicht das entsetzte, sprachlose, sondern das kalte, unerschütterbare. Mitunter trügen es gesamte Schulklassen zur Schau, als wollten sie sagen: »Wir machen das hier nicht mit.« An manchen ostdeutschen Schulen, sagt Knigge, dominierten rechte Lehrer die Kollegien.

Er sehe allerdings auch eine erstarkende Gegenbewegung. Vor allem junge Leute suchten Buchenwald als einen »Ort ethischer, politischer und historischer Vergewisserung« auf und wollten wissen: Was genau ist geschehen? Was hat das mit heute zu tun?

Eine ähnliche politische Wachheit nimmt Florian Dierl wahr, der das Dokumentationszentrum auf dem früheren Reichsparteitagsgelände in Nürnberg leitet. Die rechtsextremen Übergriffe seien sogar rückläufig. »Vermutlich«, sagt er, »ist das Provokationspotenzial hier einfach geringer als in einer KZ-Gedenkstätte.«

Diese Beobachtung verrät etwas über die deutsche Erinnerungskultur als Ganzes: In den vergangenen 40 Jahren hat sie sich gleichsam von Nürnberg nach Buchenwald verlagert, von der Frage nach dem Regime, nach dessen Aufstieg und Machterhalt, hin zum millionenfachen Massenmord. Wer den Geschichtsdiskurs an seinem neuralgischen Punkt treffen will, zeigt daher nicht auf der Zeppelintribüne den Hitlergruß, sondern ritzt ein Hakenkreuz in die Leichenwanne eines Lager-Krematoriums.

Über allem, sagt der Jenaer Zeithistoriker Norbert Frei, stehe seit je die Frage: »Wie konnte es dazu kommen?« Bis in die Siebzigerjahre habe sie den 30. Januar 1933 gemeint. Seit den Achtziger- und Neunzigerjahren meine sie den Holocaust.

Diese Verschiebung ging mit der Stabilisierung der westdeutschen Demokratie einher – und mit einer allmählichen empathischen Hinwendung der Täterkinder zu den Opfern des Nazi-Terrors. An die Stelle der Faschismus-Analysen der 68er trat die Analyse von Antisemitismus und Rassismus; statt die zwölf NS-Jahre von ihren Anfängen her zu begreifen, erklärt man sie mehr und mehr von ihrem Ende her, den Erschießungsgruben und Todeslagern.

So wichtig dieser Wandel war, hat er mitunter zu einer fragwürdigen Verkürzung des Nationalsozialismus auf den Holocaust geführt. Ein Paradigma, das heute, da die Erinnerung an Weimar wieder wach wird, an Grenzen stößt. So lassen sich mit dem Fingerzeig auf die deutschen Verbrechen zwar der Rassismus und Antisemitismus der neuen Völkischen als das benennen, was sie sind: eine tödliche Gefahr. Um die neurechte Attacke auf Demokratie und Liberalismus mit historischer Tiefenschärfe zu erfassen, ist der Hinweis auf die Leichenberge von Auschwitz jedoch eher ungeeignet.

Der verengte Blick auf Mord und Lagerterror hat zudem eine Tendenz zur emotionalen Überwältigung begünstigt, die in Reinform wenig dazu taugt, die historische Urteilskraft zu stärken. Vermutlich liegt hier auch eine Ursache für das in der Umfrage bekundete Unbehagen an einem gewissen erinnerungspolitischen Konformitätsdruck. »Man kann seine Meinung über die NS-Vergangenheit in Deutschland nicht ehrlich sagen« – diesem Satz schließen sich immerhin 42 Prozent der Befragten an. Knapp die Hälfte gibt zu Protokoll: »Ich habe den Eindruck, dass man, wann immer von den Verbrechen des Nationalsozialismus die Rede ist, Betroffenheit zeigen muss, und das nervt mich.« Die oft abwehrend vorgetragene Selbsteinschätzung, doch schon so viel über die NS-Zeit zu wissen, könnte ähnliche Gründe haben: Die »richtige« Haltung einzunehmen lernen schon Schüler, ohne sich mit allzu vielen Fakten belasten zu müssen. Betroffensein geht schnell.

Vielleicht, sagt Norbert Frei, habe auch der Ruf nach einem »Schlussstrich« vor diesem Hintergrund einen anderen Klang als früher. Entspringe er heute doch nicht mehr dem Bedürfnis der NS-Zeitgenossen, in Ruhe gelassen zu werden, sondern dem Gefühl der Nachgeborenen, das abverlangte Bewältigungspensum erfolgreich absolviert zu haben. Das Wissen über die Zerstörung der Weimarer Republik sei in der Öffentlichkeit unterdessen weithin verschüttet worden. Neuere Forschungen dazu? Gibt es kaum.

Im Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände plant man derzeit eine neue Dauerausstellung; in drei bis vier Jahren soll sie fertig sein. Man wolle sich in Zukunft noch stärker auf den Ort selbst besinnen, sagt Florian Dierl, und weniger in der Breite erzählen. Dafür soll, am konkreten Beispiel Nürnberg, der Zeithorizont erweitert werden – von den Anfängen der NS-Bewegung in Weimar bis zur Nachgeschichte in der Bundesrepublik.

Lange Linien ziehen und mehr historische Konkretion wagen, lautet auch Volkhard Knigges Antwort. »Die Politikerreden, wie dieses Jahr zum Auschwitztag«, findet er, »sind in dieser Hinsicht besser geworden.« Die Zeiten des »selbstgefälligen Stolzes auf die eigene Aufarbeitungsleistung« seien jedenfalls vorbei. Es herrsche ein »neuer Ernst«. Seit die AfD in den Parlamenten sitze, sagt Knigge, sei die Mahnung, einer Wiederholung der Geschichte vorzubeugen, keine Floskel mehr.

Ob der rechte Angriff die Ambivalenten, die Müden, die Selbstgefälligen und Gelangweilten gleichgültig lassen, wachrütteln oder in ihren Ressentiments bestärken wird, ist nicht ausgemacht. Anzeichen liefert die aktuelle Umfrage für alles zugleich.

Ein vorsichtiger Optimismus ist allerdings erlaubt: 74 Prozent der Befragten geben an, dass die Beschäftigung mit der NS-Diktatur sie für Ausgrenzung und Ungerechtigkeit sensibilisiert habe. 53 Prozent ziehen aus der Vergangenheit die klare Konsequenz, dass »wir Deutsche eine besondere Verantwortung gegenüber Verfolgten aus anderen Ländern« haben. Auch die Hoffnung, aus der Geschichte lernen zu können (76 Prozent), scheint ungebrochen.

Bewirkt die Neue Rechte mit ihren Attacken am Ende das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt? Wird die Erinnerungskultur aus den gegenwärtigen Konflikten gestärkt hervorgehen?


Wandeln müssen wird sie sich so oder so – um das Ende der Zeitzeugenschaft zu verkraften und um Antworten zu finden für eine neue Generation und eine politische Welt, die sich von der nach 1945 geschaffenen transnationalen Ordnung schneller entfernt denn je. In der Vergangenheit war das Erinnern oft in Phasen des Streits besonders lebendig. Dass sich im deutschen Selbstgespräch die Widersprüche verschärfen, ist so gesehen eine gute Nachricht.

Ambivalenz und Abwehr
Ergebnisse der ZEIT-Umfrage zur Erinnerungskultur

Schlusstrich ziehen?

"75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sollten wir einen Schlussstrich unter die Vergangenheit des Nationalsozialismus ziehen."

Nicht vergessen?

"Es ist für uns Deutsche Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Geschichte des Nationalsozialismus und der Holocaust nicht vergessen werden."


Mehrheit unschuldig?

"Die Masse der Deutschen hatte keine Schuld, es waren nur einige Verbrecher, die den Krieg angezettelt und die Juden umgebracht haben."







(aus DIE ZEIT 19/2020, S.17 Geschichte)

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dieser gesamttext bildet auch eine neue unterseite auf der "sinedi-website": click here

bis in die dritte und vierte generation ... - update

Erinnerungskultur

Das Gedenken an den Holocaust muss lebendig bleiben


Auschwitz-Zaun (foto: reuters)

Der Erfolg des Kitschromans "Stella" ist nur das jüngste Indiz: Die fiktionale Vernutzung des Holocausts wird zunehmen. Dem muss die Gesellschaft mit kritischem Geschichtsbewusstsein entgegentreten.

Von Norbert Frei | Kolumne in der sueddeutschen

Es war eine bewegende Rede, die Saul Friedländer am Donnerstag im voll besetzten Bundestag gehalten hat. Doch jenseits des dort versammelten Publikums: Wie viele Menschen in unserem Land haben dem großen Historiker des Holocaust am Ende zugehört? Wie viele hat er mit seiner Gabe erreicht, die Stimmen, das Leid, die Ängste der Opfer - darunter auch die eigenen Eltern - zu vergegenwärtigen? Und wie viele haben den Zeitungsbericht überblättert, weggeklickt, in ihrer digitalen Blase ohnehin nichts mitbekommen oder sich gar belästigt gefühlt?

Vor einer Woche diskutierte ich in Frankfurt am Main mit Studierenden darüber, wie die Deutschen seit 1945 mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit umgegangen sind. In der Erörterung der vielen Etappen dieser komplizierten Geschichte waren wir einig, an einem Punkt jedoch erntete ich Widerspruch. Mehrere aus der Gruppe hielten eine Passage meines Textes, den sie zur Vorbereitung gelesen hatten, für zu optimistisch. Darin spreche ich davon, "wie lang, wie steinig und mit welchen Schlaglöchern durchsetzt die Strecke bis zu der Einsicht war, die heute wohl immer noch die meisten Deutschen teilen: dass gesellschaftliche Zukunft nicht durch Verleugnung und Verdrängung des Gewesenen gewonnen wird, sondern durch einen kritisch-aufklärerischen Umgang damit".

Mein von den klugen jungen Leuten bezweifeltes "wohl immer noch" ist durch Umfragen gedeckt. Zugleich verweist es auf eine Tendenz, die in den vergangenen Tagen zu Recht beklagt worden ist. Auch Spitzenpolitiker konstatieren, dass der gesellschaftliche Rückhalt für die - gerade auch von ihnen - gern herausgestellte Erinnerungskultur abnimmt. Es sei deshalb wichtig, das "Gedenken neu zu gestalten", meint die Kanzlerin, und der Außenminister präzisiert: "Geschichte muss von einem Erinnerungs- noch stärker zu einem Erkenntnisprojekt werden."

Dem kann man nur beipflichten. Ein Erinnern, das ohne fundiertes historisch-kritisches Wissen auszukommen glaubt, wird den Herausforderungen von rechts nicht standhalten. Es vermag auch der fiktionalen Vernutzung des Holocaust wenig entgegenzusetzen, die zunehmen wird, wenn die letzten Zeitgenossen der NS-Zeit verschwunden sind. Der Erfolg von "Stella" ist dafür nur das jüngste Indiz: Die Literaturkritik senkt fast unisono den Daumen - trotzdem rangiert die altbekannte Geschichte einer Berliner Jüdin, die sich als Gestapo-Agentin vor der Verfolgung rettet, indem sie andere ins Verderben stürzt, in den Bestsellerlisten weit oben.

Biografien, die Sperriges nicht einfach glätten, verdienen unsere Aufmerksamkeit

"Teile der Geschichte sind wahr", heißt es auf der ersten Seite des Kitschromans. Wer nicht bloß leichtes Lesefutter sucht, sondern dem Unerhörten des Judenmords und seinem Ozean unfasslicher Geschichten näherkommen will, dem böten sich andere Möglichkeiten. Nur Wochen vor der Sensationsstory, die keine ist, erschien der Lebensbericht einer Frau, die keiner mehr kennt und deren Geschichte, geht es nach den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie, vermutlich auch kaum jemand mehr kennenlernen wird.

"Ich war ein besonderer Fall", zitiert der Titel dieses Buches die Essener Bergmannstochter Helene Mantwill, die 1926 einen gut aussehenden jungen Polen heiratet, der auf der Suche nach einer besseren Zukunft als "Ostjude" ins Ruhrgebiet gekommen war. Helene entstammt einem nicht übertrieben frommen preußisch-protestantischen Elternhaus - und findet nichts dabei, ihrem David zuliebe zum Judentum zu konvertieren. Dass sie mit der Eheschließung die deutsche gegen die polnische Staatsangehörigkeit eintauscht, ist der Mutter zweier Töchter auch nach 1933 kaum ein Problem; sie weiß, wie man sich sogar auf Ämtern um den Hitler-Gruß drückt. Doch Ende Oktober 1938 schiebt das Deutsche Reich alle "Ostjuden" ab; fast zehn Monate verbringen die Zytnickis ohne Hab und Gut in einem polnischen Grenzort, ehe sie nach Warschau dürfen - wo bald die Besatzer herrschen und die Einwohner der Stadt auseinandersortieren: in Deutsche, Polen, Juden.

Als gelernter Buchhalter leistet David Zwangsarbeit im Ghetto, während Leni als "patente Reichsdeutsche" zwischen dem jüdischen und dem deutschen Viertel pendelt, den Unterhalt der Familie mit illegalen Geschäften sichert und mit dem alten Pass ihrer Schwester zweimal nach Essen fährt. Während des Warschauer Aufstands im August 1944 verliert sich Davids Spur, aber Leni schafft es mit den Kindern zurück in die Stadt ihrer Geburt. Dort kämpft sie um Entschädigung und Wiedereinbürgerung - und beschließt im Alter von 96 Jahren, ihre Geschichte zu erzählen. Zwei pensionierte Pädagogen haben diese "Oral History" vorbildlich rekonstruiert: ohne Sperriges zu glätten und Lücken fantasievoll zu füllen.

Solche Biografien verdienen unsere Aufmerksamkeit. Sie zeigen auch, wie viel mehr wir heute wissen (können) als zu Zeiten von "Holocaust", jener zu Unrecht viel geschmähten und gerade noch einmal ausgestrahlten Serie, die den Mord an den Juden Europas einer breiten Öffentlichkeit vor Augen führte - vor 40 Jahren erst.

SZ-Kolumne von Norbert Frei
🔴 Norbert Frei, geboren 1955 in Frankfurt am Main, ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena. Er leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts.

es sei deshalb wichtig, das "gedenken neu zu gestalten", meint die kanzlerin.

aha. ich meine, kennen wir von ihr irgendeine initiative in diese richtung, an die wir uns spontan erinnern? so etwas wie brandts kniefall in warschau oder den kolportierten satz: "jetzt wächst zusammen was zusammengehört" - am gedenktag für den holocaust habe ich sie eigentlich noch nie fundamental dazu sprechen hören - das machen bundestagspräsident und zeitzeugen oder - wie vor 2 jahren, als man endlich auch mal die 300.000 nazi-"euthanasie"-opfer in den mittelpunkt rückte - da hat beispielsweise ein schauspieler mit down-syndrom tagebuch-texte eines betroffenen opfers vorgelesen - nach der berührenden und lebendigen rede des damaligen total erkälteten bundestagspräsidenten norbert lammert, dem die nase und die tränen liefen -  das war es dann aber auch schon mit der neugestaltung - danach war wieder tragende musik am anfang und am ende und zwischendurch professorensprech und die zeitzeugen- und lebensweg-resümees von inzwischen über 90-jährigen menschen

man spricht auch immer gern von "erinnerungskultur" - aber was der mensch nicht selbsterlebt hat, kann er auch nicht ohne weiteres erinnern. der parallelbegriff einer "gedenkkultur" ist hierzu also vielleicht angebrachter - aber gedenken kann immer auch so erfolgen, wie es eben vor 2 jahren bei der feierstunde mit dem schwerpunktthema "euthanasie"-opfer begonnen wurde: etwas mehr "gedenken" durch das erzeugen einer art "konfrontations-meditation": so will ich das mal zunächst ganz holperig als "arbeitstitel" hier stehenlassen - natürlich auch mit musik, ja - aber auch durch film, bild, literatur, theater, schauspiel, graphic novel u.a.: und durch das nachzeichnen von beispielhaften einzel-opferporträts - die genannten gesamtopfer-zahlen im holocaust sind einfach zu abstrakt, um anhaltend zu beeindrucken ... 

und wenn man wegen seinem sitzungsfreien wochenendfrei kurzerhand den jeweiligen gedenktag vom 27.januar mal gerade aus praktischen gründen um ein paar tage verschiebt, wie schon 2018 nun auch 2019 geschehen, zeigt man ja der öffentlichkeit, wie wichtig dem "hohen haus" dieser termin tatsächlich ist ... - 

nein - es "bröckelt" wirklich an allen ecken und enden - und wie das kaninchen auf die schlange starrt man auf die letzten zeitzeugen der grausamkeiten: wie lange halten sie noch durch - und kann man sie über ihre agenturen noch einmal für einen "gedenk-akt" gewinnen und motivieren ... und ist ihre stimme und ihre aussprache so, dass sie sich gehör verschaffen können - und wie lange noch ??? 

inzwischen berichten aber auch menschen, wie sie einzelbiografien ihrer familien oder aus dem heimatort entdeckt haben und ihnen gefolgt sind - menschen berichten, wie die archive und die historiker sich ihnen gegenüber verhalten bei fragen zu "shoah" und "euthanasie" - und all den anderen opfern: sinti, roma, homosexuelle, zwangsarbeiter usw.

dann wäre gedenken wieder inmitten der jetzt lebenden generation verankert - und die forschung würde zum erlebnis - und die berichte dazu zum mit-erleben.

das obengenannte buch zur biografie der essener bergmannstochter helene mantwill wäre sicherlich so ein beispiel - und die beiden pädagogen berichten konkret über ihre forschungsarbeit zu dieser authentischen "oral history" - oder die kinder der beiden pädagogen berichten, wie sie ihre väter erlebt haben während der recherche und was die dazu beim gemeinsamen abendessen berichtet haben ...

in der bibel steht ja bereits seit 2000 jahren etwas von der "heimsuchung bis in die dritte und vierte generation" - und die forschung nimmt an, dass traumatisch erlebte ereignisse sich unbewusst im individuellen verhalten und empfinden weiter "vererben", wenn sie einfach verdrängt und abgespalten und nicht aufgearbeitet werden ...

hier hat die nation eines täter- und auch opfervolkes immer noch sein "lebtag" mit zu tun - ob das der afd nun passt oder nicht - und wahrscheinlich auch über den jeweiligen 27. januar hinaus ...

denn wer es so treibt wie herr gauland von der afd, den "vogelschiss" nämlich am liebsten einfach abzuwischen, herunterzuspülen und zu verleugnen, müsste eigentlich angezeigt werden, wegen fahrlässiger körperverletzung, denn eine allgemein-therapeutisch notwendige aufarbeitung jener zeit wird so ja einfach negiert und ausgeklammert.

es gab für mich mein lebtag schon den leitspruch: "der weg dorthin - ist der weg dadurch" - will in diesem fall sagen: wenn ich mein leben und jeweilige situationen möglichst ohne auch unbewusste einschränkungen von irgendwoher leben will und mich von "ererbten" belastungen aus meinen familien befreien will - muss ich mich durch all den schlamassel dieser dazuzählenden beteiligten menschen begeben - ich muss hinhören und lesen und mich interessieren, und vieles davon wird nicht im world-wide-web von vornherein verzeichnet sein und ist nicht mit dem smartphone abrufbar - und ich muss festhalten, was da bei "uns" oder in der nachbarschaft oder auch bei entfernten verwandten los war - und  mich auch an- und berühren lassen: ab und zu wird die stimme brechen und werden die augen feucht werden - das sind aber keine zeichen der schwäche oder von zu viel emotionalität - das ist "mitgehen" und "erleben": es geht nicht um die kurzfristige "nachbarschafts-sensation" - es geht um langfristige emotionale bewältigung und ein "damit leben lernen"... - die "vierte generation" nach 1945 reicht noch mindestens bis 2050/2060 ...

nix für ungut - und chuat choan



Grünen-Chefin Baerbock über Emotionen in der Politik

"Jetzt heult die da im Bundestag"

Ein Holocaust-Überlebender hat mit seiner Rede im Bundestag viele Menschen gerührt - Annalena Baerbock sogar zu Tränen. Für die Grünen-Chefin nach eigenen Angaben eine Gratwanderung: Wie viel Emotion ist zu viel?


annalena baerbock - S!|graphic



Wie viele, welche Gefühle darf man in der Berufspolitik zeigen? Ohne, dass einem nicht nur in sozialen Netzwerken Hohn und Spott entgegenschlagen? Mit solchen Fragen beschäftigt sich Grünen-Chefin Annalena Baerbock nach eigenen Angaben. So auch mit der Frage, ob sie hart genug für den Job der Parteivorsitzenden ist.

Sie sei in die Politik gegangen, um Dinge zu verändern und mit vielen Menschen im Gespräch zu sein, sagte die 38-Jährige im SWR-Interview. Diese Nahbarkeit bedeute auch immer eine gewisse Emotionalität.

Als Beispiel nannte Baerbock die Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag. Dabei waren ihr am Donnerstag die Tränen gekommen, als der Holocaust-Überlebende Saul Friedländer geschildert hatte, wie er als Kind von seinen Eltern getrennt worden war.

"In diesen Momenten kommt man gar nicht drum rum, an seine eigenen Kinder zu denken, sich genau das vorzustellen, was natürlich Emotionen auslöst", sagte Baebock, selbst Mutter von zwei Töchtern. "Wenn einem da die Tränen kommen und (man) weiß genau, da halten jetzt zig Kameras drauf, dann ist das immer so: Soll man sich verstellen oder nicht?"

Auf der einen Seite gehe es darum, empathisch und offen zu bleiben, auf der anderen Seite könne einem dann gerade in den Sozialen Medien vorgeworfen werden: "Jetzt heult die da im Bundestag." Das sei eine Gratwanderung. Aber: "Ich glaube, ein Abstumpfen ist das Gefährlichste, was man in der Gesellschaft derzeit tun kann."

text aus: spiegel-online