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Hologramme zum Holocaust

Wie berichten wir authentisch über NS-Euthanasie & Holocaust, wenn die Zeitzeugen eines Tages nicht mehr da sind? Das ist ja - auch angesichts der "Das-war-nur-ein-Vogelschiss"-Metapher eines Bundestagsabgeordneten namens Gauland - die Frage, die sich viele Pädagogen, Historiker, Archivare, Museen, Gedenkstätten und nicht zuletzt viele seriöse Politiker aller bürgerlich-seriöser couleur stellen.

 

Und wozu eben auch diese hier verlinkten Seiten zu "Erna' Story" einen Beitrag leisten sollen, in der Hoffnung, dass das Internet ja (in diesem Falle: 'hoffentlich') "nichts vergisst" - und alles irgendwie und wo auch immer archiviert und versiegelt daliegt oder kopiert aufgezeichnet wurde, so dass man es bei aktiver Recherche noch jahrelang auch aufzustöbern und abzurufen vermag oder im eigenen Fundus lagert.

 

Einen ersten wenn auch umstrittenen Lösungsweg bieten neuerdings Gedenkstätten und Museen an - z.B. das Holocaust Museum in Chicago mit der von Steven Spielberg ins Leben gerufenen USC Shoah Foundation - und hier in Deutschland die KZ-Gedenkstätte in Dachau in Zusammenarbeit mit dem Projekt "LediZ" der Ludwig-Maximilians-Universität München - um mit den betagten Zeitzeugen ein umfassendes Antwortenarchiv virtuell und digital zu erfassen, um dann die mit "maschinellem Lernen" und "Künstlicher Intelligenz" (KI) produzierten dreidimensionalen lebensechten Personenbild-Hologramme und den beliebig kombinierbaren interaktiven Antworten dazu die spontanen Fragen von Interessenten jeweils "hautnah" und "lebendig" zu beantworten, so wie das die "Technik" ganz neu ermöglicht.

 

Bei aller gebotenen Skepsis zum Umgang mit nichtlebenden "Sprachrobotern", scheint mir dieser Ansatz aber doch äußerst spannend - und zukunftsweisend - ich bin gespannt ... - si


click dazu auf meine website

sich die Seele aus dem Leib schreiben: Maya Lasker-Wallfisch & die "Transgenerationale Trauma-Weitergabe"

Maya & Anita Lasker-Wallfisch - fotobearbeitung nach jmberlin.de





Maya Lasker-Wallfisch über ihre „Briefe nach Breslau“

Ein „Ort der Ewigkeit“ für die ermordeten Großeltern

Maya Lasker-Wallfisch im Gespräch mit Frank Meyer| DLF Kultur

Wie Traumata über Generationen hinweg weitergegeben werden, wurde zu Maya Lasker-Wallfischs Lebensthema − ihre Mutter hatte Auschwitz überlebt. Durch die „Briefe nach Breslau“ an ihre Großeltern habe sie sich selbst gefunden, sagt sie.

Maya Lasker-Wallfisch: Als ich 14 war, war für mich bereits jede Form von normaler Schulbildung vorbei, das gehörte der Vergangenheit an. Ich war bereits schon zwei Mal höflich gebeten worden, Schulen zu verlassen. Eine von den Schulen habe ich noch nicht mal besucht, da stand da nur „Wir haben Maya Lasker-Wallfisch hier nicht gesehen“. Was dann folgte, war, dass ich zu so einer Art Nachholschule geschickt wurde, wo man dann eigentlich den Stoff, den man aufgrund von Schwänzen oder sonstiger Fehlzeiten verpasst hat, gebündelt lernen sollte.

Eigentlich habe ich da sehr viel gelernt, aber nichts wirklich Akademisches. Das heißt also, ich war schon in sehr jungen Jahren sehr weit weg von jeglicher Form der Normalität, habe dann angefangen, so eine Art sogenannten alternativen Lebensstil zu leben und entpuppte mich dann relativ früh schon als eine Art Anführerin bei allen möglichen illegalen oder halblegalen Aktivitäten. Also man kann schon sagen, dass ich schon damals ein böses Mädchen war.

Weg von den Drogen

Frank Meyer: Ja, Sie beschreiben das auch ganz offen, was Sie Kriminelles getan haben, wie viel Sie mit Drogen zu tun hatten und diese Karriere, wenn man es so nennen will, als bad girl. Das führt dann zu einem Tiefpunkt Ihres Lebens, da sind Sie Anfang 30, sind in Kingston gelandet, also in Jamaika, verheiratet mit einem cracksüchtigen Mann. Sie selbst sind auch wieder drogenabhängig geworden, haben kein Geld mehr, sind wirklich ganz, ganz unten. Was hat Sie gerettet damals in dieser Situation?

Lasker-Wallfisch: Das ist eine wichtige Frage, aber da gibt es vielleicht auch mehrere Antworten, denn was heißt es denn, dass man gerettet wird, dass man sein Leben wieder auf die Reihe bekommt? Da gibt es ja auch viele verschiedene Möglichkeiten, wie so was ablaufen kann. Ich würde sagen, was ein erster Schritt war, mich da rauszuholen, war wirklich so eine Art Rehabilitationsklinik, Entzugsklinik und so weiter. Da bin ich nicht wirklich geheilt worden, aber es hat mir zumindest beigebracht, dass ich keine Drogen mehr nehmen sollte. Das habe ich da gelernt.

Seitdem ist mein Leben in verschiedenen Kapiteln abgelaufen. Eigentlich habe ich sehr viele verschiedene Lebensformen, Lebensstile in der Zeit ausprobiert, und erst in den letzten zwei bis drei Jahren bin ich wirklich in der Lage, authentisch zu sagen: Das bin ich, so denke ich und das weiß ich.

Landschaft eines unsichtbaren Todes

Meyer: Und jetzt ist ja die große Frage in Ihrem Buch, der Sie nachgehen – wie werden Traumata weitergegeben von einer Generation zur anderen. Sie fragen sich: All das, was ich da erlebt habe in meiner Zeit als Kind, als Jugendliche, als junge Erwachsene, all diese Abstürze, diese Drogengeschichten, was hat das zu tun mit dem Schicksal meiner Mutter, eben der Holocaust-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch, was hat das auch zu tun mit dem Tod Ihrer jüdischen Großeltern, die Eltern Ihrer Mutter sind 1942 in einem deutschen Durchgangslager ermordet worden? Wenn Sie von heute aus darauf zurückschauen, was Ihre Mutter erlebt hat, was Ihren Großeltern passiert ist, wie hat Sie das als Kind schon geprägt?

Lasker-Wallfisch: Ich wurde in eine ungewöhnliche Familie innerhalb Londons geboren in den späten 50er-Jahren, und ich hatte schon ganz früh das Gefühl, dass irgendetwas grundlegend falsch läuft. Ich konnte mir aber nicht erklären, was das war. Es herrschte so eine Atmosphäre von etwas permanent Unausgesprochenem in der Familie vor. Meine Eltern sprachen eine Sprache, die ich nicht verstand, und es wurde uns, mir und meinem Bruder, auch vermittelt, dass diese Sprache, Deutsch, nicht für ihn und mich bestimmt war. Dabei ist es doch so, dass Kinder eigentlich Sprachen aufsaugen wie Schwämme, und jetzt merke ich, wie schwierig es für mich ist, Deutsch zu lernen, weil das einfach so weit weg war, auch schon damals.

Die Eltern sprachen also Deutsch – und die Sprache der Musik, von der ich ebenfalls ausgeschlossen war, weil ich kein musikalisches Kind war. Ganz anders als in allen anderen Familien ist es bei uns abgelaufen, das fiel mir früh auf. Also wir hatten nichts in der Wohnung, was andere Familien damals hatten. Und das ist für ein Kind durchaus verstörend, weil Kinder ja immer sein wollen wie alle anderen. Unsere Wohnung war komplett anders als die der normalen englischen Haushalte.

Und das war sehr schwer, im jungen Alter damit klarzukommen. Und natürlich wurde mir nicht erklärt, noch war es irgendjemandem bewusst, dass meine Schwierigkeiten vielleicht mit ererbten Traumata zu tun haben könnten. Das ist ja auch ein relativ neu entdecktes psychologisches Phänomen oder auch überhaupt genetisches Phänomen, dass es so etwas gibt. Was ich aber gespürt habe, war das Leben in einer Landschaft eines unsichtbaren Todes.

Niemand sprach über die Vergangenheit

Meyer: Ja, wenn Sie sagen, dass Sie in so einer Landschaft des unsichtbaren Todes aufgewachsen sind, hat denn Ihre Mutter oder sonst jemand je mit Ihnen gesprochen, während Sie jung waren, über die Erfahrungen, die Ihre Mutter gemacht hat in Auschwitz oder in Bergen-Belsen, oder haben Sie auf andere Weise davon erfahren?

Lasker-Wallfisch: Nein, darüber wurde nie etwas gesagt. Es wurde uns nicht gesagt, wo unsere Mutter oder unsere Tante Renate gewesen waren während des Krieges oder was mit dem Rest der Familie passiert war, das war verboten, darüber wurde nicht gesprochen. Aber es gab Zeichen dafür, dass etwas passiert war. Meine Mutter war ja regelrecht gebrandmarkt durch die Tätowierung, die eintätowierte Nummer, die Häftlingsnummer. Ich wurde zum Beispiel von anderen Kindern gefragt, warum denn meine Mutter ihre Telefonnummer auf dem Arm tragen würde.

Also sie war die Einzige, die so etwas hatte in meinem gesamten Umfeld. Das Einzige, woran ich mich erinnere, was sie gesagt hat, wenn wir Fragen gestellt haben, war: Ich erzähle dir das, wenn du älter bist. Also sie hat wirklich versucht, uns zu schützen. Sie wollte ihre Kinder nicht traumatisieren mit diesem Wissen, sie wollte uns nicht sagen, ihr habt deshalb keine Großeltern, weil sie irgendwo in einem Massengrab in Polen liegen. Meine Mutter hat versucht, ihr Leben aufzuteilen in eine Vergangenheit und Gegenwart. Sie wollte die Vergangenheit komplett hinter sich lassen. Das geht natürlich nicht, aber es war ein Versuch, das war ihre Motivation. Und da ist auch viel Bewundernswertes dabei. Aber es hat eben auch Folgen gehabt.

Briefe an die verstorbenen Großeltern

Meyer: Und jetzt haben Sie für Ihr Buch eine ganz besondere Form gefunden, Ihre eigene Geschichte und die Ihrer Familie wieder anzueignen. Also Sie erzählen Ihre eigene Lebensgeschichte, darüber haben wir zum Teil gesprochen, und Sie haben elf Briefe geschrieben an Ihre Großeltern, also an die Großeltern, die 1942 von Deutschen ermordet wurden. Diese Briefe an die Großeltern – warum war das für Sie die richtige Form, die Geschichte Ihrer Familie zu erzählen?

Lasker-Wallfisch: Es so zu machen, war die einzig mögliche Art. Goethe hat mal gesagt, Briefe gehören zu den wichtigsten Dingen, die Leute hinterlassen können, und er hat Recht damit. Denn meine Großeltern kenne ich wirklich nur durch diese Briefe, und so habe ich einen Zugang zu ihnen gefunden, den ich sonst nie gehabt hätte, dazu, wer sie waren, was sie für Persönlichkeiten, was für Menschen Sie waren. Und das war für mich auch eine Art Erleuchtung.

Als ich das Buch schrieb, da war ich gerade in Deutschland und habe gemerkt, dass ich im Kopf Gespräche mit meinen verstorbenen Großeltern geführt habe, und da war es für mich klar, da war die Idee da, diese Briefe an sie zu schreiben. Und dadurch konnte ich auch in gewisser Weise die Beziehung, die ich zu ihnen ja nie hatte, die mir ja gestohlen worden war, wieder herstellen oder zurückerhalten. Das war insofern ein Privileg, mit ihnen zu sprechen.

Und wir haben uns dann ja auch in der Familie getroffen und die Briefe der verstorbenen Familienmitglieder wurden von anderen Familienmitgliedern gelesen – so sind die Laskers aus Breslau wieder zusammengekommen und waren alle wieder vereint. Ich wollte eben diese drei Generationen wieder zusammenbringen, wollte meinen Großeltern auch einen Ort der Ewigkeit geben, der Erinnerung, dessen sie zuvor beraubt worden waren. Und mein Ziel hat sich erfüllt damit, diese drei Generationen wieder zusammenzubringen.

Eintauchen in ein wundervolles Leben

Meyer: Ich dachte auch beim Lesen, dass Sie … Sie erzählen ja auch die Geschichte vor der Zeit der Verfolgung, wie Ihre Großeltern gelebt haben in den 20er-, 30er-Jahren, wie Ihre Mutter, Ihre Tanten gelebt haben als junge Menschen. Also Sie beschwören diese Welt wieder herauf, die Welt ist wieder da auf bewegende Weise. Das muss für Sie auch wichtig gewesen sein, diese Welt, ja, auf diese Weise zu retten, oder?

Lasker-Wallfisch: Ja, ich hoffe, das war es. Ich glaube, beim Schreiben, denn es ist ja ganz anders, Briefe zu schreiben, als eine lineare Geschichte zu erzählen, beim Schreiben hatte ich das Gefühl oder den Wunsch, in ihr Leben einzutauchen, in so ein wundervolles Leben. Wir haben ja auch wirklich tolle Fotos aus dieser Zeit, aus diesem Leben. Und ich wollte eine Möglichkeit finden, damit in Verbindung zu treten.

Was mich antrieb und diese Erkenntnis, diese Eingebung – das Wort benutze ich nicht so leichtfertig –, ich wusste wirklich plötzlich, ich muss das schreiben, ich muss das erzählen, ich muss das ihnen erzählen. Ja, sie sind tot, das ist klar, das soll jetzt auch nicht merkwürdig klingen, aber für mich sind sie eben nicht tot, und es war meine Absicht, diese Einzelteile zusammenzufügen. Alles war ja so weit auseinandergesprengt. Und ich wollte hier wieder eine Verbindung herstellen.

Und ich fühle irgendwie, dass sie das wissen, dass sie das verstehen. Und in diese Zeit, in diese Welt einzutauchen brachte mich dahin zurück und setzte mich viel mehr mit ihnen in Verbindung als dieses, ja, beklemmende Verlustgefühl, was ich zuvor empfunden hatte. Erst jetzt konnte ich etwas betrauern, mit dem ich vollkommen in Verbindung getreten war, so wie das eben menschlich möglich war.

Ich habe mich selbst gefunden

Meyer: Und Ihr Buch, das hat so viele verschiedene Ebenen, also einerseits retten Sie Ihre Familie in einem gewissen Sinne, indem Sie von ihr erzählen, aber ich hatte auch den Eindruck, dass Sie auch sich selbst – ich weiß nicht, ob ich das so sagen kann –, sich selbst retten auch vor diesen Jahren, über die wir am Anfang gesprochen haben, diesen sehr chaotischen, sehr gefährlichen, schmerzhaften ersten Jahren oder sogar Jahrzehnten Ihres Lebens, dass für Sie, dieses Buch zu schreiben, ja, auch eine Rettung Ihres eigenen Lebens war. Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann?

Lasker-Wallfisch: Ja, fast, ich würde das Wort „finden“ allerdings benutzen anstelle des Wortes „retten“. Also ich habe mich gefunden und nicht gerettet dadurch, durch das Schreiben. Ich habe mich davor schon viele Male gerettet, aber durch das Buch bin ich nicht gerettet, sondern gefunden worden. Ich habe mich dadurch selbst gefunden.

Meyer: Ihre Mutter Anita Lasker-Wallfisch, die ist jetzt sehr alt geworden und sie hat Ihr Buch gelesen. Sie haben öfter auch erzählt, dass Ihre Mutter schon sehr, sehr streng war Ihnen gegenüber in vielen Situationen Ihres Lebens. Was hat Ihre Mutter denn zu diesem Buch jetzt gesagt?

Lasker-Wallfisch: Das ist ein Prozess. Als das Manuskript fertig war, musste ich es ihr erst zeigen und sie wollte es gar nicht lesen. Dann hat sie es aber doch gelesen und hat gesagt, dass sie es sehr gut fand. Natürlich haben einige Teile des Buches, wo Teile meiner Geschichte erzählt werden, die so schwierig sind, sie auch sehr unangenehm berührt, weil die sind nicht nur für mich schwierig gewesen, sondern auch für sie als Mutter.

Aber als dann aus der Öffentlichkeit so eine positive Reaktion auf das Buch kam, war sie doch sehr beeindruckt, also sowohl meine Tante Renate als auch meine Mutter waren beide aufgrund eben dieser Reaktionen sehr stolz auf mich. Erst hatten sie nämlich Angst gehabt, was vielleicht die Leute dazu sagen, denn ich bin ja wirklich sehr offen in diesem Buch, und da hatte man dann vielleicht das Gefühl, oh, ob das so gut ankommt, aber das ist jetzt komplett weg.

Und auch bei ihnen hat sich das Gefühl eingestellt: Es war nötig, dieses Buch zu schreiben, es war gut, das zu schreiben. Und ich erhalte jetzt auch jede Menge Respekt dafür, dass ich das getan habe. Und, ja, wie so viele Kinder ist das auch in meinem Leben so, dass ich irgendwie immer noch die Bestätigung meiner Mutter suche. Das verschwindet traurigerweise nicht.

„Berlin ist der Ort, wo ich sein soll“

Meyer: In Ihrem Buch findet man auch so gegen Ende hin eine sehr schöne, ich würde mal sagen, eine Wohnungsanzeige für Berlin, Sie schreiben nämlich, dass Sie am liebsten nach Berlin ziehen würden, eine Altbauwohnung in Berlin-Charlottenburg könnten Sie sich vorstellen. Ich sage das mal so deutlich, vielleicht hat jemand gerade so eine Wohnung übrig. Warum wollen Sie denn von London nach Berlin ziehen?

Lasker-Wallfisch: Ja, ich möchte wirklich nach Berlin ziehen, denn das ist der Ort, wo ich sein soll, da wäre ich gewesen, wenn es diese Vertreibung nicht gegeben hätte, wenn es die Morde nicht gegeben hätte. Aber ich finde, dass Sie es sehr schön formuliert haben mit der Wohnungsanzeige, denn es war wirklich so: Ich hatte eigentlich wirklich schon eine Wohnung gefunden, dann leider nicht bekommen, weil es ja sehr schwierig ist, in Berlin eine Wohnung zu finden, und ich hätte in der Tat sehr gerne eine schöne Wohnung in Berlin-Charlottenburg – also sollte das jetzt jemand hören: Ja.

Also es hat ja wirklich 75 Jahre gedauert, bis einige Prozesse begonnen haben, Prozesse, die noch nicht vollständig sind, die wahrscheinlich nie vollständig sein werden und immer weitergehen. Es gibt ja immer noch Rassismus und Antisemitismus. Aber ich weiß auch, was mein Beitrag ist und wo er nicht nur willkommen ist, sondern auch wirklich gebraucht wird, nämlich in Deutschland.

Es ist nicht diesbezüglich bemerkenswert, weil ich ja wirklich da sein sollte, und ich bin ja auch nicht die Erste, die jetzt in Berlin eine Wohnung sucht, aber es gibt einige lustige Geschichten in diesem Zusammenhang, was die Wohnungssuche betrifft. Es gab ja so viel deutsche Schuld und Verstörung und Angst und Traumata und so weiter, mit denen auch die Kinder und Enkel der Täter zu leben haben, die sie mit sich rumtragen, obwohl es nicht ihre eigene Schuld ist, und auch meine Mutter hat schon immer gesagt, damit muss man sich auch mal befassen, das ist ein interessantes Thema.

Wohnungssuche in Berlin

Aber es ist interessant und es wäre auch vielleicht eine Herausforderung für Deutschland, warum man für Rückkehrer wie mich oder auch andere Leute eigentlich nichts vorgesehen hat. Also man beschäftigt sich sehr viel mit dem Thema Schuld und Erinnerung und so weiter, da fließt jede Menge Energie rein, aber wirklich etwas wieder gutzumachen oder etwas Produktives, in die Zukunft gerichtetes zu machen, wie es hier möglich wäre, das passiert nicht wirklich. Aber ich denke, man sollte solche Leute auf jeden Fall unterstützen.

Ich hatte tatsächlich eigentlich meine Traumwohnung gefunden, konnte aber da nicht reingehen und da stand ein türkischer Mann vor der Tür, der mir in gebrochenem Deutsch erklärte, dass man ja mal an den Briefkästen gucken könnte, welche Wohnungen noch nicht vermietet seien. Das haben wir dann gesehen. Und dann sind wir in den Hof gegangen, dann war da gerade ein polnischer Handwerker, dem der Türke dann erklärt hat, ja, die Frau möchte gerne eine Wohnung sehen, und da sagt er, ja, kein Problem, ich arbeite da, ich zeige Ihnen die Wohnung, und so kam es dann, dass ich mit diesem polnischen Handwerker und dem türkischen Nachbarn hoch in diese Wohnung ging und mich sofort in diese Wohnung verliebt habe.

Bin dann direkt zum Maklerbüro und habe gesagt, bitte, bitte, ich brauche diese Wohnung. Die haben mir gesagt, ich muss erst was von der Schufa vorweisen, bevor ich kommen kann. Und, ja, dann habe ich in London alle möglichen Sachen zusammengesammelt für eine Bewerbung, auch noch einen Artikel, in dem ich geschrieben habe, ich habe meinen Platz gefunden, da dachte ich, das passt doch perfekt für diese Wohnung, das habe ich dann gleich mitgeschickt in die Bewerbung, aber leider hat es nicht geklappt. Also das ist nicht leicht. Aber ich denke, es gibt da diese Lücke zwischen dem Schrecken der Vergangenheit und der Feststellung, dass doch einige dieser Energie auch für Veränderung verwendet werden könnte.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Maya Lasker-Wallfisch: „Briefe nach Breslau: meine Geschichte über drei Generationen“
Aus dem Englischen von Marieke Heimburger
Insel Verlag, Berlin 2020
254 Seiten, 24 Euro
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sich selbst zu finden in der aufarbeitung der familiären geschichte - ein aufräumen unter den noch lebenden und mit den toten: das ist das credo von maya lasker-wallfisch zur eigenen seelischen gesundung.

während also der ältere bruder die musikalischen talente der eltern miterbte, fühlte maya von kleinauf etwas unstetes in sich.

erst über mehrere "leben" beziehungsweise phasen ihres lebens fand sie dann nach vielen therapiesitzungen zur eigenanalyse zu einer psychotherapeutischen ausbildung, mit der sie sich innerlich stabilisieren und neu verorten konnte - und entdeckte das schreiben in briefen an imaginäre verwandte, denen sie nun mitteilen konnte, was ihr auf der seele brannte.

durch dieses schreiben fand sie zu sich selbst, und konnte auch die in ihr überkommenen traumata ihrer mutter endlich in den bann schlagen, die sonst ungezügelt herumgeisterten, und denen sie sich zur wehr setzen musste - zunächst mit weniger tauglichen mitteln, wie drogenkonsum und kriminalität.

aber wie sollte sich auch ihr aufgewühltes inneres "bürgerlich" einzuordnen  lernen, wenn sie die tiefliegenden gründe für diese aufwühlungen gar nicht kannte.

erst das exakte wissen um die holocaust-ermordung ihrer großeltern 1942 und die überlebensstrategie der mutter als cellistin in auschwitz im mädchenorchester und dann auch noch unter den furchtbaren zuständen in bergen-belsen, wo ja auch anne frank den tod fand, ordneten allmählich ihre innere zerrissenheit.

wenn man also "aus erster hand" erfahren will, was dieser neue psychoanalytische begriff der "transgenerationalen traumaweitergabe" aussagen will - und wie er "bis ins 3. und 4. generationsglied" (bibel) nach dem trauma weiterwirkt, findet hier sicherlich antworten und ausblicke.



unsagbar lyrisch - zum 50. todestag von nelly sachs

fast wie ein pendant zu celans "todesfuge" klingen die von nelly sachs veröffentlichten gedichte in ihren ersten gedichtbänden nach dem krieg, in denen sie den holocaust als vor den nazis geflohene jüdin lyrisch ver- und bearbeitete. 

wikipedia schreibt: die beiden bände "in den wohnungen des todes" und "sternverdunkelung" (1949) wurden zunächst in ost-berlin auf betreiben johannes r. bechers veröffentlicht; weder in der schweiz noch in den westlichen zonen deutschlands wurden gedichte von nelly sachs gedruckt. auch 1949 noch wurde der zweite gedichtband "sternverdunkelung", in amsterdam verlegt, von der kritik zwar gelobt, in der jungen bundesrepublik jedoch kaum gelesen. 

sie war also lange zeit ein geheimtip unter den lyrikfreunden - bis sie dann 1966 den nobelpreis für literatur bekam.

in ihrer ganz eigenen sprache, in die auch die mystischen nuancen beispielsweise der jüdischen kabbala mit einflossen, fand nelly sachs für das unaussprechliche des holocaust, der shoah, worte und begriffe und satzkompositionen, die sowohl das grauen ins bild nahmen als auch eben diese uralte eigenständige jüdische kultur und folklore mit einwob in einen ganz eigenen - ja fast möchte man sagen: eigenartigen begriffs- und bilderreichen sprachduktus.

am 12. Mai 1970, dem tag der beerdigung von paul celan, starb nelly sachs. und die beiden sensiblen dichter, die als erste auf deutsch ihre jeweilige persönliche sprache wiederfanden in einer zeit nach dem kollektiven schamvollen oder trotzigen verstummen - je nachdem ... wo aber die meisten zeitzeugen in deutschland noch eisern schwiegen und mit dem beginnenden "wirtschaftswunder" beschäftigt waren - beide sind also auf diese eigentümliche weise im tod miteinander verwandt - und haben somit in diesem jahr ihren 50. todestag. si

Nelly Sachs - Graphicbearbeitung: sinedi@rt



Nelly Sachs starb am 12. Mai 1970 in einem Stockholmer Krankenhaus an einer Krebserkrankung, am Tag von Paul Celans Beerdigung. Sie ist auf dem jüdischen Friedhof des Norra begravningsplatsen von Solna im Norden von Stockholm beigesetzt.

MUND SAUGEND AM TOD

Mund
saugend am Tod
und sternige Strahlen
mit den Geheimnissen des Blutes
fahren aus der Ader
daran Welt zur Tränke ging
und blühte

Sterben
bezieht seinen Standpunkt aus Schweigen
und das blicklose Auge
der aussichtslosen Staubverlassenheit
tritt über die Schwelle des Sehens
während das Drama der Zeit
eingesegnet wird
dicht hinter seinem eisigen Schweißtuch.

by Nelly Sachs (1891-1970)

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O DIE SCHORNSTEINE

O die Schornsteine
O die Schornsteine
Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch
Durch die Luft -

Als Essenkehrer ihn ein Stern empfing
Der schwarz wurde
Oder war es ein Sonnenstrahl?

O die Schornsteine!
Freiheitswege für Jeremias und Hiobs Staub -
Wer erdachte euch
und baute Stein auf Stein
Den Weg für Flüchtlinge aus Rauch?

O die Wohnungen des Todes,
Einladend hergerichtet
Für den Wirt des Hauses, der sonst Gast war -
O ihr Finger,
Die Eingangsschwelle legend
Wie ein Messer zwischen Leben und Tod -

O ihr Schornsteine,
O ihr Finger,
Und Israels Leib im Rauch durch die Luft!

by Nelly Sachs (1891-1970)


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Nelly Sachs: Das Unsagbare lyrisch verarbeiten

Vor 50 Jahren ist die deutsch-schwedische Nobelpreisträgerin Nelly Sachs gestorben, deren lyrisches Schaffen bis heute eine der bedeutendsten künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust darstellt.

Am 10. Dezember 1891 als Leonie Sachs im heutigen Berlin-Schöneberg in eine großbürgerliche jüdische Familie geboren, fand sie bereits als Jugendliche zur Lyrik, veröffentlichte ihren ersten Gedichtband „Legenden und Erzählungen" aber erst 1921.

Auf der Flucht vor den Nazis

In den 1930er Jahren vertiefte sie sich, während sich der politische Aufstieg der Nationalsozialisten vollzog, in Schriften zur jüdischen Mystik, die ab dieser Zeit in ihr Werk Eingang fand. Ihre eigene Situation in Berlin verschärfte sich durch die Verfolgung der Nazis zunehmend, weshalb Sachs 1940 nach Schweden floh.

Die Flucht, die sie gemeinsam mit ihrer Mutter antrat, wurde durch die seit 1907 andauernde Brieffreundschaft zur schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf begünstigt, die 1909 den Literaturnobelpreis erhielt. Auch die Fürsprache des schwedischen Prinzen Eugen begünstigte die Emigration nach Stockholm.

Frühe Thematisierung des Holocaust

In den Nachkriegsjahren, die Sachs in Armut verbrachte, begann sie aus dem Schwedischen zu übersetzen, 1953 erhielt sie die schwedische Staatsbürgerschaft. Ihr 1947 erschienener Band „In den Wohnungen des Todes“ ist eine der ersten literarischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust und gilt neben Paul Celans „Todesfuge“ als bedeutendste in der Lyrik.

Hierin thematisiert sie die Ermordung und Verbrennung von Juden im NS-Vernichtungslager Auschwitz und führt imaginäre Dialoge mit den Getöteten. In ihrem späteren Schaffen kreist Sachs zunehmend um die Fluchterfahrung und intensiviert ihre Beschäftigung mit der jüdischen Mystik, besonders der Kabbala.

Literaturnobelpreis 1966

1966 erhielt Sachs gemeinsam mit Schmuel Josef Agnon den Literaturnobelpreis. Ihre Rezeption in Deutschland unterlag lange Zeit einer Wahrnehmung Sachs’ als „Versöhnungsfigur“ zwischen den Überlebenden des Holocaust und den Tätergesellschaften. Ihr wurden bedeutende Preise verliehen und 1960 zu ihren Ehren der Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund gestiftet. Eine Rückkehr nach Deutschland schloss sie allerdings aus.

Ihre erste Deutschland-Reise nach der Flucht unternahm sie 1960. In der Folge erlitt sie einen Nervenzusammenbruch, der ihre psychische Gesundheit für mehrere Jahre schwer beeinträchtigte. Sachs erlag am 12. Mai 1970 in Stockholm einer Krebserkrankung.

flob, ORF.at

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Das schrieb die ZEIT vor 50 Jahren - zum Tod von Nelly Sachs:

In den Wohnungen des Todes
Zum Tode der deutsch-jüdischen Dichterin Nelly Sachs

Von Olof Lagercrantz
22. Mai 1970 - AUS DER ZEIT NR. 21/1970


  • Der Dichter und Publizist Olof Lagercrantz, 1911 geboren, ist seit 1960 Chefredakteur der Stockholmer Tageszeitung "Dagens Nyheter". Er hat Nelly Sachs lange persönlich gekannt; in deutscher Sprache liegt von ihm ein "Versuch über die Lyrik der Nelly Sachs" vor gekannt, suhrkamp 212, 1967) sowie ein Buch über Dantes "Göttliche Komödie" ("Von der Hölle zum Paradies", Insel Verlag, 1965).
Nelly Sachs wurde 1891 in Berlin geboren; sie stammte aus einem vermögenden deutschjüdischen Haus, in dem Goethe und Beethoven größere Autorität besaßen als Moses und Jesaja. Man schickte sie auf eine vornehme Töchterschule. Ein Rabbiner gab ihr einige Privatstunden im Judaismus, aber der Jesus in der Schule gab ihr mehr. Was Antisemitismus war, wußte sie nicht.

Sie war klein von Wuchs, hatte große, braune, vorgewölbte Augen und schwarzes Haar. Als sie alt wurde und die Angst sie ergriff, glich sie oft einem aufs Land geworfenen Fisch, der nach Luft ringt. Ihre Seele war früh verstört. Und dies bedeutete, daß sie zu einem Leben bestimmt war, das am Rand des "Normalen" verlief. Da sie das einzige Kind war, wachte man sorgfältig über ihr Wohl und verwöhnte sie. Als Kind besaß sie eine Zeitlang ein zahmes Reh im Garten der Stadtvilla.

Die ersten vierzig Jahre ihres Lebens war sie nur von ihrem Inneren bedroht und ohne viel Kontakt zur – wie man es so nennt – Wirklichkeit. Sie bereitete sich nicht auf einen Beruf vor, erlebte die Liebe nur als Schwärmerei auf Abstand und in schwindelnder Sehnsucht. Zu Hause war sie eine unverheiratete Tochter im wilhelminischen Deutschland, und der Erste Weltkrieg ging an ihr, wie man annehmen darf, spurlos vorbei. Wovon sie schrieb, waren Nachtigallen, die sich zu Tode sangen, und Muscheln, in denen man das Rauschen der Ewigkeit hört. Sie veröffentlichte eine Märchensammlung über Zauberer und edle, sich aufopfernde Frauen. Dieses Buch schickte sie an Selma Lagerlöf, die sie ihr "leuchtendes Vorbild" nannte, und erhielt eine wohlwollende Antwort.

Als Hitler 1933 an die Macht kam, war Nelly Sachs schlecht gerüstet für die nun anbrechende Zeit. Kaum wußte sie, daß sie Jüdin war. Die deutschen Juden waren mehr oder weniger assimiliert. Sie lebte allein mit ihrer Mutter in Berlin, während die Juden isoliert, wie Vieh registriert, ausgeplündert wurden und der Mord immer näher rückte. Viele ihrer Freunde wählten den Freitod, andere flüchteten. Sie selber war vom Schrecken paralysiert. Nach einer Konfrontation mit der Gestapo war ihre Kehle gelähmt, und fünf Tage lang konnte sie kein Wort herausbringen. Diese Stummheit, eine Folge ihrer Angst, wurde dann zum Thema ihrer Bücher.

Am 16. Mai 1940, als die deutschen Armeen sich auf dem Marsch nach Paris befanden und die Gefährdung der Juden in ihrem ganzen Ausmaß erkennbar wurde, verließ sie Deutschland und kam nach Stockholm. Die ersten Nächte im fremden Land verbrachte sie in einem Kinderheim in einem Kinderbett, denn größer war sie nicht.

1947, als sie sechsundfünfzig Jahre alt war und ihr Haar fast weiß, erschien ihr erster Gedichtband, "In den Wohnungen des Todes". Er handelt vom Leiden und Tod des jüdischen Volkes. In dem ersten Gedicht ragen die neuen Schornsteine der Krematorien "auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes". Das Volk Israel wird zu Rauch und setzt seine leiderfüllte Wanderung über dem Himmel der Sinai-Wüste fort. Es verdient, festgehalten zu werden, daß die Frage nach Schuld, Rechtfertigung und Urteil in den Gedichten ausgespart bleibt.

Die Henker benehmen sich wie Marionetten, die mit der "niedergehenden Sonne" der Juden "als dem roten Teppich unter den Füßen" aufmarschieren: "Riesengroß das Gestirn des Todes wie die Uhr der Zeiten". Nelly Sachs gibt kein Protokoll und schafft kein Gleichgewicht. Ihr Bestreben ist es nur, den Sterbenden im Entsetzen eine mitfühlende Schwester zu sein.

Einen Hiob gibt es auch in ihrer Personengalerie, aber die Weltordnung stellt er nicht in Frage. Er ist verstummt vor allzu vielem "Warum", und seine Augen sind tief eingesunken, "wie Höhlentauben in der Nacht, die der Jäger blind herausholt". Als die Welt nach Hitlers Niedergang sich in eine Haßorgie stürzte, fand man in Nelly Sachs’ Dichtung davon keine Spur.

Der Ausgangspunkt ihrer Dichtung ist der Untergang des europäischen Judentums. In den dreißiger Jahren mußte sie lernen, daß sie Jüdin war. Sie war in Träumen zu Hause gewesen. In der Wirklichkeit, in der sie aufwachte, gab es nur physische Ausrottung. Tag für Tag durchlebte sie über viele Jahre hinweg die letzten fünfzehn Minuten vor der Gaskammer.

Die Kluft, die Hitler zwischen Deutschen und Juden aufriß, eine Hitler die die meisten Juden nicht überlebten – ihr gab Nelly Sachs eigenen Ausdruck. Sie war Deutsche, Deutsch war ihre Sprache, ihre Bilderwelt hatte ihre Wurzeln in der deutschen Romantik, und das Jüdische erschien ihr als ein allzu enger Rahmen, der Zionismus – trotz der großen Liebe zum neuen Israel – als ein Gefängnis.

Nelly Sachs löste das Problem, indem die Juden für sie das Volk wurden, das leidet und sich durch alle Jahrhunderte hindurch auf der Flucht befindet. Jude sein heißt für sie nicht, dem mosaischen Gesetz zu folgen, sondern Leid und Angst zu ertragen. Alle Menschen, die litten, wurden in diesem Sinn für sie zu Juden: Jude sein hieß ein wahrer Mensch sein. Ihren ersten Gedichtband schrieb sie, während deutsche Städte in Schutt und Asche fielen und Hunderttausende von Deutschen darunter begraben wurden. Auch deren Leiden ist in ihrer Dichtung enthalten. Diejenige, die sie vor dem Tode rettete, war eine deutsche Frau nichtjüdischer Herkunft und nicht, wie auch Nelly Sachs selber glauben wollte, Selma Lagerlöf.

Das Volk der Nelly Sachs umfaßt alle Geschöpfe im äußersten Schmerz, vor dem seelischen Zusammenbruch, im Alter und im Sterben. Als Kind hatte sie aufgewühlt den langsamen Erstickungstod von Fischen mitangesehen. Sie studierte die im Bernstein eingeschlossenen Insekten und die unzähligen Fossilien im Kalkstein, und sie suchte nach den letzten Zuckungen der Körper.

Ihre Dichtung entstand erst, als sie selber alt wurde. Häufig war ihre seelische Gesundheit angegriffen. Sie glaubte sich von den Nazis buchstäblich verfolgt, auch nachdem deren Macht in Deutschland längst gebrochen war. Das muß als Bedingung ihrer stellvertretenden Dichtung begriffen werden. Viele Jahre hat sie in einer Anstalt verbracht, inmitten von Geistesgestörten und Alten; sie zählte auch diese zu ihrem Volk und schuf dort eine Reihe meisterlicher lyrischer Porträts des Alters, eines Rembrandts würdig.

In einem dieser Gedichte wird von einer alten Frau berichtet, die mit ihren Fingern eine Eisgrotte bemalt. Die Eisgrotte bedeutet die Kälte, die im sterbenden Körper um sich greift. Der sich noch bewegende Finger malt an die Wände der Grotte die singende Karte eines verborgenen Meeres.

In ihrer Jugend interessierte sich Nelly Sachs für die Mystik der Christen. In den dreißiger Jahren studierte sie die jüdische Mystik und las Bruchstücke aus dem mittelalterlichen "Sohar". Sie formte für sich einen Glauben, der die eigentliche Triebkraft ihrer späteren und größten Lyrik war: so in den Sammlungen "Und niemand weiß weiter", "Sternverdunklung", "Flucht und Verwandlung" und "Glühende Rätsel". Es ist ein Glaube ohne Dogmen, kaum in Worte zu fassen, mehr eine Richtung, oft nur eine stumme Bewegung.

Dieser Glaube enthält den Gedanken, daß Leiden und Tod einen Gewinn bedeuten können und daß es die Aufgabe des Dichters ist, mit dem Instrument der Sprache eine neue Wirklichkeit zu schaffen, einen neuen Zusammenhang des Lebens; was das Leben uns bietet, seien die Scherben einer großen zusammenhängenden Ordnung. Die Wunde sei ein Keim, der Wurzeln schlägt. In einem Gedicht heißt es, "die blutig gerissene Kieme des Fisches" sei vielleicht dazu bestimmt, "mit ihrem Rubinrot das Sternbild Marter zu ergänzen, den ersten Buchstaben der wortlosen Sprache zu schreiben".

Diese wortlose Sprache war es, die Nelly Sachs im Land des Sterbens und der Schreie suchte.

Nelly Sachs lebte, nachdem ihre Mutter starb, einsam und in einem einzigen Zimmer im Süden Stockholms. Nach großer Armut in den ersten Jahren kam dann der Ruhm, schließlich der Nobelpreis. Sie nahm ihn mit der Grazie einer Dame von Welt entgegen. Es sammelte sich ein Kreis schwedischer Freunde um sie, die sie ihre Schwester nannten und die sie liebten. Mit dem Altar wurde sie immer schöner, kleidete sich in Blau, schmückte ihr Zimmer mit Steinen, auf denen versteinerte Tiere ihre letzten Bewegungen im Leben gezeichnet hatten.

Sie war eine heroische Natur und gelangte in menschliche Zonen, die nur selten betreten werden. Die jüdische Katastrophe ist wahrscheinlich nur eine von vielen im Atomzeitalter. Der Massentod wird zum ständigen Begleiter unseres Geschlechts. Unter Schmerzen zu altern und zu zerschellen an einem Übermaß an Leid, wird eine Erfahrung für immer mehr Menschen. Das bedeutet, daß Nelly Sachs zu den Dichtern gehört, die wir in der Zukunft am allermeisten brauchen.

Für die ZEIT aus dem Schwedischen von Ute Fröhlich

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DICHTEN NACH AUSCHWITZ - 
NELLY SACHS ZUM 50. TODESTAG
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paul celan's tod vor 50 jahren

»Etwas ist faul im Staate D-Mark«

Ein Briefwechsel und neue Bücher zu Paul Celan, der sich vor 50 Jahren in der Seine ertränkt hat 

von Iris Radisch | ZEIT-Feuilleton


Das genaue Todesdatum ist ebenso unbekannt wie der Ort des Todes. Nachdem die Leiche Paul Celans am 1. Mai 1970 zehn Kilometer westlich von Paris aus der Seine geborgen wurde, fand man in seiner Wohnung in der Avenue Émile Zola seine Hinterlassenschaft auf dem Tisch ordentlich aufgereiht, Armbanduhr, Brieftasche, Ausweise und die aufgeschlagene Hölderlin-Biografie von Wilhelm Michels mit einem wie zur Erklärung unterstrichenen Satz von Clemens Brentano: »Manchmal wird dieser Genius dunkel und versinkt in den bitteren Brunnen seines Herzens.« Im Taschenkalender stand am 19. April 1970 die Eintragung »départ Paul«, Abfahrt Paul. Vermutlich ist Celan in der Nacht vom 19. auf den 20. April vom Pont Mirabeau aus in die Seine gegangen. »Er hat sich«, schreibt seine getrennt von ihm lebende Ehefrau Gisèle de Lestrange am 10. Mai an Celans ehemalige Geliebte Ingeborg Bachmann, »den einsamsten und anonymsten Tod ausgesucht.«


Paul Celan - swr.de



Der einsame und anonyme Tod des am 23. November 1920 geborenen Dichters aus der Bukowina wird in der Literaturgeschichte als eine Spätfolge der Shoah verbucht. Paul Antschel, wie er damals noch hieß, überlebte die Judenverfolgung in seiner Heimatstadt Czernowitz (bis 1918 habsburgisch, dann rumänisch, später sowjetisch, heute ukrainisch). Doch seine Eltern wurden in den Vernichtungslagern ermordet. Über Bukarest und Wien, wo er Ingeborg Bachmann kennenlernte, kam er 1948 völlig unbekannt und mittellos nach Paris. Vier Jahre später las er zum ersten Mal vor der Gruppe 47, veröffentlichte seinen Gedichtband Mohn und Gedächtnis und heiratete die 25-jährige Tochter des Marquis und der Marquise de Lestrange. Die Familie logiert im großbürgerlichen 16. Pariser Arrondissement in der Rue de Longchamps. Der Überlebende aus der für immer verlorenen Welt des vielsprachigen osteuropäischen Kulturjudentums hat einen rasanten Aufstieg bewältigt und gilt sehr schnell als der bedeutendste Dichter der deutschen Nachkriegsliteratur – als der bis heute einzige, dessen Gedichte dem Unaussprechlichen der Shoah angemessen sind. Er ist im engen freundschaftlichen Austausch mit den namhaftesten deutschsprachigen Kolleginnen und Kollegen seiner Generation, mit Heinrich Böll, Günter Grass, Hermann Lenz, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Marie Luise Kaschnitz, Nelly Sachs, Walter Jens und Peter Szondi. Und doch konnte eine vergleichsweise banale Literaturintrige sein Leben zerstören: eine Plagiatsanschuldigung durch die Witwe des deutsch-französischen Lyrikers Ivan Goll, mit dem Celan sich kurz nach seiner Ankunft in Paris angefreundet hatte.

Von der im deutschen Feuilleton der 1960er-Jahre hingebungsvoll debattierten Plagiatsaffäre zwischen zwei bedeutenden deutschsprachigen jüdischen Dichtern aus Paris blieben am Ende nicht mehr als zwei seltsam verwandte Verszeilen übrig (Goll 1953: »Die Eber mit dem magischen Dreieckskopf / Sie stampfen durch meine faulenden Träume«; Celan 1954: »In Gestalt eines Ebers / stampft dein Traum durch die Wälder am Rande des Abends«). Alle darüber hinausgehenden Plagiatsvorwürfe ließen sich durch einen simplen Blick auf die Publikationsdaten vom Tisch wischen. Die Redakteure und deren Mitarbeiter, die die Affäre befeuert hatten, entschuldigten sich für ihre ungeprüften Behauptungen.

Doch Celan war unheilbar verletzt. Die in deutschen Blättern ausgebreiteten Zweifel an seiner künstlerischen Integrität erlebte er wie neuerliche »Hitlerei«. Er war auch tief gekränkt vom salbadernden Ton der alten Kritikergeneration der Günter Blöcker und Hans Egon Holthusen, die seine Gedichte wegen ihrer magischen Dunkelheit in den Herrgottswinkel reiner, also auch wirklichkeitsbereinigter Poesie im Stil der Surrealisten oder der hermetischen Dichter Stéphane Mallarmé und Stefan George abschoben – und damit ihren Bezug zur Shoah leugneten. Solche Deutungen hielt er für bequeme Schöngeisterei und im Fall seiner Todesfuge – seiner grausam schönen Totenklage um die Opfer des Holocausts – für eine Schändung des Grabes seiner Mutter. An Walter Jens, der ihn in der ZEIT gegen die Plagiatsbeschuldigungen der Witwe Goll enthusiastisch verteidigte, schrieb er: »Das ›Grab in der Luft‹ – lieber Walter Jens, das ist, in diesem Gedicht, weiß Gott weder Entlehnung noch Metapher.« Wer an der Zeugenschaft und am unmittelbaren Wahrheitsethos eines solchen Gedichtes zweifelte, rückte für ihn in die Nähe eines literarischen Holocaust-Leugners.

Im Februar 1970, zwei Monate vor seinem Tod in der Seine, tauchte jedoch plötzlich ein angeblich aus dem Jahr 1944 stammendes Gedicht seines Czernowitzer Schulfreundes Immanuel Weißglas auf, das ausgerechnet die eindringlichen Sprachbilder der 1945 entstandenen Todesfuge noch ganz ungelenk und wie im Rohentwurf vorwegzunehmen schien (das Grab in der Luft, der Gräber schaufelnde, tanzende und fiedelnde Chor der jüdischen Opfer, der Tod als deutscher Meister, der im Haus mit den Schlangen spielt, das Haar von Gretchen, das Grab in den Wolken, das nicht eng ist). Eine Neuauflage der Diskussion um Entstehungsdaten, Entlehnungen und Zeugenschaft wollte Celan womöglich nicht mehr erleben. Sie hat auch nicht mehr stattgefunden.

Celans deutsche und österreichische Schriftstellerfreunde haben die traumatisierende Dimension der Plagiatsaffäre nicht nachempfinden können. Ich erinnere mich daran, wie Günter Grass noch in den Neunzigerjahren über die Überempfindlichkeit seines Pariser Freundes scherzte, der ganze Nachmittage niedergestreckt und unfähig zu sprechen auf dem Sofa vegetiert haben soll, in der ausgestreckten Hand die Zeitungsseiten, die von der Goll-Affäre handelten.

In dem Band mit annähernd 700 Briefen aus den Jahren 1934 bis 1970 (davon 330 bisher unpubliziert), der zum Celan-Jubiläum erschienen ist, lässt sich seine wachsende Vereinsamung verfolgen. In seinem letzten Lebensjahrzehnt bricht er mit sämtlichen nicht-jüdischen deutschen und österreichischen Freunden, nachdem sie für ihn in die Liga des »Hitler-Nachwuchses« wechselten – auch Günter Grass setzt er wegen dessen »kleinen und großen Verlogenheiten, vermehrt um die mittlerweile noch höher ins Kraut geschossene Selbstgefälligkeit« schon Anfang der 1960er-Jahre vor die Tür. »Ich werde, wenn’s drauf ankommt, an allen Fronten Krieg führen, und wenn auch nur eine Handvoll Menschen dabei zu mir stehen«, schreibt er an den Wiener Freund Klaus Demus, bevor auch dieser in Ungnade fällt. In seiner Not wendet er sich an die Weltstars der Literatur: Jean-Paul Sartre möge den jüdischen Dichter vor dem deutschen »Nazismus« retten; Jean Starobinski möge ihm einen jüdischen Arzt schicken; an Adorno ergeht der Hilferuf: »Etwas ist faul im Staate D-Mark.« Doch schickt er die Briefe nicht mehr ab. Nach einem Mordversuch an seiner Frau und einem Suizidversuch verbringt Celan in den 1960er-Jahren viele Wochen und Monate in psychiatrischen Anstalten.

Es ist wenig verwunderlich, dass die Bücher über Celan, die im Jubiläumsjahr in großer Zahl erscheinen, sich ausnahmslos mit der tragischen Hassliebe des Dichters zu Deutschland beschäftigen. Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Emmerich untersucht die Zerrissenheit eines Dichters, dessen Muttersprache zur Mördersprache wurde. Sein Buch ist vorläufig der beste Ersatz für die noch immer ausstehende maßgebliche Celan-Biografie, auf die man im Jubiläumsjahr vergeblich gewartet hat. Der Autor und Literaturkritiker Hans-Peter Kunisch stürzt sich in das halsbrecherische Unternehmen, Celans insgesamt drei Treffen mit Martin Heidegger in Freiburg und auf der Philosophenhütte in Todtnauberg semiliterarisch nachzuerzählen, weshalb man in seinem Buch allerhand Spekulationen über Ereignisse aufgetischt bekommt, die sich möglicherweise ganz anders zugetragen haben. Es kann ja schließlich niemand wissen, ob Heidegger wirklich auf »eine vertrackte Weise gerührt war über sich und diesen jüdischen Dichter«, der von ihm ein klärendes Wort verlangte über sein philosophisches Edel-Nazitum. Angeblich, schreibt Kunisch, habe Celan, nachdem der deutsche Philosoph auf die Zusendung seines Gedichts Todtnauberg phrasenhaft reagiert habe, von diesem »gar nichts mehr erwartet«. Das ist aber nur unbeweisbares Literaturgeschichtskino.

Auch passt es nicht zu den verbürgten Erlebnissen, von denen der ehemalige Suhrkamp-Lektor Klaus Reichert als letzter lebender Zeitzeuge in seinem Erinnerungsbuch über den Dichter erzählt. Der habe ihn unmittelbar nach dem zweiten Treffen mit Heidegger in Frankfurt besucht und einen Abend lang über das Amt des Dichters monologisiert, »schwärmerisch getragen von den Sympathien, die er in Freiburg erfahren habe«.

Helmut Böttiger beschäftigt sich in seinem mittlerweile dritten Buch über Celan ebenfalls ausgiebig mit dessen Heidegger-Verehrung. Beide verbindet eine hohe, an Hölderlin maßnehmende Auffassung deutscher Dichtung, jenseits des nüchternen Tagesgeschäfts, mit dem sich Celans Auffassung nach die fortschrittlichen Kollegen von der Gruppe 47 abgaben. Aus dem Traum von einer gemeinsamen deutschen Überlieferung, das zeigt Böttiger sehr überzeugend, nährt sich Celans Missverständnis, im Kreis des über den Holocaust beharrlich schweigenden Schwarzwälder Kulturkonservatismus besser aufgehoben zu sein als an der Seite der kritischen deutschen Autoren, die der Dichter in völliger Verkehrung aller Proportionen für seine eigentlichen Feinde hält.

Es ist bewegend, zu sehen, wie Celan bis zuletzt um die deutsche Kultur und die Anerkennung durch die alte deutsche Kulturelite kämpft. Noch drei Wochen vor seinem Tod liest er Heidegger in Freiburg seine späten Gedichte vor. Aus diesen späten Gedichten ist die rauschhafte Musikalität seiner Anfänge verschwunden. Sie sind von grandioser Trostlosigkeit, Verse wie Karstlandschaften, wie Steinwüsten, nah am Verstummen und stolz in der Würde des Scheiterns. Man muss sie noch immer lesen. Besser noch auswendig lernen. Ob ihr unwiderstehlicher Zauber die deutschen Zuhörer erreicht hat? Heidegger soll aufmerksam zugehört haben.

***

Wolfgang Emmerich: Nahe Fremde. Paul Celan und die Deutschen; Wallstein Verlag, Göttingen 2020; 400 S., 24,– €, als E-Book 18,99 €

Hans-Peter Kunisch: Todtnauberg. Die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung; dtv, München 2020; 352 S., 24,– €, als E-Book 16,99 €

Helmut Böttiger: Celans Zerrissenheit. Ein jüdischer Dichter und der deutsche Geist; Galiani-Berlin, Köln 2020; 208 S., 20,– €, als E-Book 16,99 €

Klaus Reichert: Paul Celan – Erinnerungen und Briefe. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020; 297 S., 28,– € (erscheint erst im Juni)

Paul Celan: »etwas ganz und gar Persönliches« Briefe 1934–1970; Suhrkamp Verlag, Berlin 2019; 1286 S., 78,– €

Foto: Hans Müller/Insel Verlag
Paul Celan (re.) und Ingeborg Bachmann 1952 beim Treffen der Gruppe 47 in Niendorf an der Ostsee

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fast möchte man ja zumindest denken: wie gut, dass paul celan die tatsächlichen braunfärbungen in der gesellschaftlichen atmosphäre dann im "wiedervereinten" deutschland ab 1990 gar nicht mehr erlebt hat: 

  • beispielsweise die rechtsradikalen ausschreitungen gegen ausländer in rostock-lichtenhagen, 
  • die kette der nsu-morde über jahre hinweg, mit ihren seltsamen verstrickungen bis in verfassungsschutzkreise - mit "versehentlichen" aktenvernichtungen im schredder und verschluss-bestimmungen von akten für die nächsten 120 jahre und der immer noch ausstehenden urteilsbegründung des nsu-prozesses seitens des gerichts, für die es 93 wochen zeit hat, die aber ende april 2020 enden, und vorher ist das urteil gegen frau zschäpe immer noch nicht rechtskräftig... - 
  • die rechtslastigen demos in chemnitz und die stellungnahmen des obersten verfassungsschützers maaßen dazu, 
  • die rechtsterroristischen morde in kassel, in halle und hanau u.a., 
  • das aufkommen der pegida-aktivitäten und 
  • die wahlergebnisse der afd - und 
  • die erklärung des afd-vorsitzenden gauland, der nationalsozialismus von 1933-1945 sei nur ein "vogelschiss" in der deutschen geschichte gewesen - 
  • die späte offenbarung seiner waffen-ss-mitgliedschaft vom dichter-kollegen günter grass, den celan aber bereits für sich "wegen dessen »kleinen und großen Verlogenheiten, vermehrt um die mittlerweile noch höher ins Kraut geschossene Selbstgefälligkeit« schon Anfang der 1960er-Jahre" vor die Tür gesetzt hatte;

celan war ein äußerst empfindsamer und zuletzt einsamer mensch, der all diese entwicklungen wahrscheinlich ahnte und in sich aufkommen sah, und der bereits in den plagiats-vorwürfen gegen seine zeilen immer eine wiederaufkommende "hitlerei" vermutete.

okay - manches dieser ängste war sicherlich unbegründet und reines misstrauen und künstlerischer "minderwertigkeitskomplex".
und celan's vergeistigte metaphern verklärten für so knallharte realisten sicherlich die "tatsächliche" wirklichkeit (rudolf augsteins credo im "spiegel" lautet ja zum beispiel: "schreiben, was ist"...)

aber lyrik ist ja in erster linie wohl immer auch ein umwandeln und schwelgen und durchdringen und die "dinge" auf einen erträumten und sinnierten punkt bringen.
lyrik ist ja keine zustands-reportage, sondern umflort ja die gemüts- und gefühlslage zu einem realen ereignis oder einer zeitstimmung, die "mitschwingt".

aber celans lyrik, die er zur "shoah" z.b. in der "todesfuge" fand, gilt immer noch als die bis heute einzige, die dem unaussprechlichen vielleicht in etwa angemessen scheint - und das unfassbare überhaupt tastend metaphernd zur sprache bringt.

und vor allen dingen anselm kiefer hat zu einzelnen versen und zeilen aus diesen dichtungen celans dann immer wieder große bildwerke geschaffen, und sie sowohl in tel aviv oder auch in jerusalem ausgestellt, die großen anklang fanden.

celan stellte sich mit seinem misstrauen und seinen eigenbrötlerischen elementen auch von der gruppe 47 rasch ins abseits und verkarstete auch künstlerisch-dichterisch, zumindest wurde seine sprache "grandios trostlos" und verlor "ihre rauschhafte musikalität". 

seinen kampf um die breite anerkennung seiner lyrik hat ihm alle kraft genommen, er schlittert sogar für wochen und monate mehrere male in die psychiatrie, wobei sich die traumatisch-faktischen jugenderinnerungen und das ästhetische dichterische fühlen und empfinden eine ungute mixtur ergaben, für die er kein "meta"-navi fand, das ihn aus diesem nach unten ziehenden sog befreite und wonach er sich hätte orientieren können.

den satz von brentano, den celan unterstrichen auf dem tisch zurückließ, ehe er im seine-wasser unterging, lautete ja auch:

»Manchmal wird dieser Genius dunkel und versinkt in den bitteren Brunnen seines Herzens.«

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Paul Celan


Todesfuge
1944/1945

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland
dein goldenes Haar Margarete

er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne
er pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith

wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt
er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau
stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr anderen spielt weiter zum Tanz auf

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus  Deutschland
er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft
dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts
wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland
wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus
Deutschland  
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith

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Immanuel Weißglas


ER
1944

Wir heben Gräber in die Luft und siedeln
Mit Weib und Kind an dem gebotnen Ort.
Wir schaufeln fleißig, und die andern fiedeln,
Man schafft ein Grab und fährt im Tanzen fort.

ER will, dass über diese Därme dreister
Der Bogen strenge wie sein Antlitz streicht:
Spielt sanft vom Tod, er ist ein deutscher Meister,
Der durch die Lande als ein Nebel schleicht.

Und wenn die Dämmrung blutig quillt am Abend,
Öffn’ ich nachzehrend den verbissnen Mund,
Ein Haus für alle in die Lüfte grabend:
Breit wie der Sarg, schmal wie die Todesstund.

ER spielt im Haus mit Schlangen, dräut und dichtet,
In Deutschland dämmert es wie Gretchens Haar.
Das Grab in Wolken wird nicht eng gerichtet:
Da weit der Tod ein deutscher Meister war.

was bleibt von all den klugen Worten?

Einsatz gegen Antisemitismus

Wenn Worte nicht mehr ausreichen

Ein Kommentar von Peter Maxwill | Der Spiegel

Das Holocaust-Gedenken beherrschte tagelang die Schlagzeilen, aber was bleibt von all den klugen Worten? Die Reaktionen zweier Politiker zeigen, welcher Weg jedenfalls in die Irre führt.

Man kann Frank-Walter Steinmeier nicht vorwerfen, es nicht versucht zu haben.

"Dieses Land", sagte der Bundespräsident im Dezember, "ist für uns alle nur dann ein Zuhause, wenn sich auch Juden hier zu Hause fühlen." In der vergangenen Woche bezeichnete er heute hetzende Antisemiten als "böse Geister in neuem Gewand". Am Mittwoch wandte er sich mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit: "Kämpfen wir gegen Antisemitismus, gegen Rassenhass und nationale Eiferei!"

Nur wie genau wir kämpfen sollen, das verriet er nicht. Friedrich Merz hingegen brauchte nur einen einzigen Tweet, um eine Debatte über Judenhass in Deutschland anzufachen. Der Antisemitismus, schrieb der CDU-Politiker am Montag, komme "überwiegend von rechts, aber auch durch die Einwanderung von 2015/16. Viele bringen Judenhass mit, der in ihren Heimatländern gepredigt wird".

Beihilfe zum Populismus leistete ein Parteikollege: Philipp Amthor behauptete in einem Interview, "dass Antisemitismus natürlich vor allem in muslimisch geprägten Kulturkreisen besonders stark vertreten ist". Der 27-Jährige bemühte sich wenig später um eine Relativierung - anders als Merz, der auf Twitter nachlegte: "Ich stehe zu meiner Äußerung."

Was für eine beschämende Aktion, am Gedenktag für die Opfer eines Menschheitsverbrechens mit dem Finger auf andere zu zeigen. Als ginge es darum, historische Schuld umzuverteilen. Tatsächlich ginge es doch darum, geschlossen jeden Antisemitismus der Gegenwart zu bekämpfen.

Es geht nicht um Schuld

Im Jahr 2018 ist die Zahl der gemeldeten antisemitischen Straftaten gegenüber dem Vorjahr um fast
20 Prozent angestiegen. Auf Fußballplätzen nimmt die Zahl der judenfeindlichen Übergriffe zu, von der Kreisliga bis zur Bundesliga. Rechtsextreme pöbeln und provozieren in KZ-Gedenkstätten. Teenager verbreiten in Klassenchats antisemitische Parolen.

Ab und zu eine präsidiale Ansprache reicht längst nicht aus, um diesem Hass entgegenzutreten. Auch Deutschland mit seiner Geschichte verfügt über keinen erinnerungspolitischen Impfschutz.

Trotzdem fragen sich heute viele Bundesbürger, warum sie mitschuldig sein sollen an Taten, die vor mehr als 70 Jahren von Menschen begangen wurden, die bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr leben. Wer so denkt, unterliegt jedoch einem Irrtum: Es geht nicht um Schuld.

Es geht um Verantwortung

Verantwortung bedeutet, die Verbrechen anzuerkennen, der Opfer zu gedenken und das Wissen aus der Geschichte in der Gegenwart wachzuhalten – und Antisemitismus jeder Art zu bekämpfen.

An Vorschlägen, wie man dieses Ziel erreichen könnte, mangelt es nicht - große Aufmerksamkeit haben sie bislang aber nicht bekommen: Sollten Schüler verpflichtet werden, KZ-Gedenkstätten zu besuchen? Sollten antisemitische Delikte härter bestraft werden? Sollte es für Schulen eine Meldepflicht bei judenfeindlichen Vorfällen geben?

Die wichtigste Frage aber lautet: Wie kann es sein, dass wir all das noch diskutieren statt endlich zu handeln? 
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ach - wenn ihr doch nur geschwiegen hättet, friedrich merz und philipp amthor - aber so fallen sie ihren landsleuten - also uns - in den rücken: dieser möchte-gern-flügel der cdu muss sich natürlich aus lauter geltungssucht auch da mit reinhängen - wo schweigen angebrachter wäre, denn damit jagt man der afd keinen pfifferling ab. wie kann ein mann wie herr merz, der sich da ja zum kanzlerkandidat aus dem stand hochstrampeln will - nach über 10-jähriger bundestags-abstinenz - wie kann so ein mensch um vertrauen betteln - und dann - am offiziellen "gedenktag für die opfer des nationalsozialismus" mit trauerbeflaggung und festakt in yad vashem, in auschwitz und zwei tage später im bundestag so einen stuss verzapfen - und da schlappt der wie zwölf aussehende kollege amthor natürlich ganz naseweis hinterdrein.


und was die beiden da schreiben ist ja reine publicity, denn es sind lapidare dumme sätze, bei denen der kopf so gut wie ausgeschaltet sein kann. sätze, die jede und jeder andere hätte auch von sich geben können: da ist keine "neue erkenntnis" oder irgendein "heureka"-erlebnisI "ich hab's", sondern einfach ein miesmachendes geblubber - um der kanzlerin einen einzuschenken nach all den jahren...

von "verantwortung", die besonders auch ein neuer bundekanzler übernehmen müsste, zeugt das nicht - das ist populismus - und das ist zum verwechseln nah an dem "bösen im neuen gewand", das der bundespräsident beschwor. 

in erster linie geht es wohl jetzt nach der serie des gedenkens in israel, in polen und in berlin darum

  • die verbrechen vorbehaltlos anzuerkennen
  • den opfern durch emsige forschungen und rekonstruktionen ihre namen wiedergeben
  • diese opfer erinnern und sie gedanklich mitbegleiten und ihre beziehungen zu uns lebenden heute abklären - zu mir - in mir - zu unseren familien und unserem umkreis 
  • das wissen aus der geschichte wachhalten - für das hier & jetzt und das morgen...
  • und antisemitismus bekämpfen, der tatsächlich eine veraltete und völlig unbegründete "rassenschande" war und ist ..
aber eines hat sich mir in diesen tagen eröffnet: in einem aufsatz
des historikers martin sabrow las ich nämlich seine forderungen, jetzt müsse die nüchternheit die welle der emphase ersetzen, die noch aus den ersten aufdeckungen nach der schweigenden schockstarre die einsetzenden forschungen - vor allem der "68-er" - durchzog. die gesellschaft sollte inzwischen der versuchung widerstehen, den wertehimmel von heute 1:1 auf die vergangenheit des gestern zu projizieren.

nach 80 jahren darf diese erste schockstarre und die abwehr und verdrängung und die pur-emotionale aufarbeitung dann doch von einer souveräneren angemsseneren und genaueren phase dieser komplexbearbeitung abgelöst werden, die den ursachen insgesamt auf den grund geht. 

die "deutschen" von 1933-1945 und davor und danach waren einfach von ihrer erziehung und von glaube und unbedingtem gehorsam und von einer völlig falsch und einseitig verstandenen "erbgesundheitswissenschaft" mit allen auflagen und gesetzen und einigen anderen innerpsychischen komponenten und dem daraus resultierenden habitus einfach auch emotional anders gestrickt, als die mehrheit der menschen heute - aber reste dieses verhaltens halten sich ja beständig oder flammen immer wieder angestachelt erneut auf.
und wir müssen mit dem dilemma leben lernen, dass die aufarbeitung dieser pur-deutschen (!) ns-gräueltaten zwar "versöhnung" und "wieder-gut-machung" verspricht, aber dass bei solchen dimensionen von rassistisch konnotiertem barbarischen völkermord ein spurloses "vergessen" und "integrieren" am ende gar nimmer möglich ist, denn die tatsächliche "schuld" als last eines tätervolkes wird dadurch nicht eingelöst. mit der ns-zeit in deutschland ist die menschheit moralisch und ethisch "ein stück weit" für alle zeit stigmatisiert - und kommt da nicht mit einer "vogelschiss"-zuweisung oder einer "kehrtwende um 180° in der erinnerungskultur" aus dem schneider.

da ist dieses (ge-) wissen seitdem in uns allen, zu was der mensch in verblendung und massenhysterie und kollektivem irrtum durch propaganda (oder jetzt durch die einschlägigen internet-foren) fähig ist - und wie sich dieses "böse" immer wieder neue wege sucht & bahnt - und leider auch immer wieder willfähige helfershelfer findet (z.b. in kassel und in halle a. d. s. - und anderswo).

also müssen wir alle - in uns - unsere schutz- und abwehrkräfte und unsere souveränität dagegen aufbauen und sie zu einem emotionalen und trotzdem "nüchtern-sachlichen" selbstverständnis werden lassen - als permanente aufgabe von erziehung, moral und betrachtung in familie, elternhaus und schule. 

immerzu - in angemessenem tempo ohne hektik - eine andere (er)lösung dazu gibt es nicht, denn diese emsige und doch auch gelassene permanenz ist der einzig angemessene umgang und das (er)leben mit diesem uns von unseren altvorderen hinterlassenen "erbe" als eine immerwährende aufgabe.