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Archive spielen mit dem Glamourfaktor
Selbst Schriftstücke können zu Stars werden und auf einem Altar wie Reliquien präsentiert werden
Von Gabrielle Boller | NZZ
Historische Archive haben in unserer digitalisierten Gesellschaft fast schon etwas Magisches. In der flachen Welt der Bildschirmtexte versprechen sie Haptik und eine Authentizität, die sich vielleicht als Ansichtigwerden von Geschichte umschreiben lässt. Vorbei die Zeiten, da Archivalien als trockene Materie galten, zumal man sich auch gerade in jüngster Zeit deren Verletzlichkeit bewusst wurde – der Brand der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar, der Einsturz des Historischen Stadtarchivs Köln, die Zerstörung des brasilianischen Nationalmuseums etwa zeigten auf drastische Weise, wie gefährdet sie bis heute sind.
Trotz ihrer neu entdeckten Attraktivität haben natürlich nicht alle Urkundensammlungen Glamourfaktor, da braucht es schon eine besondere Geschichte und am besten einen veritablen Star. Genau damit kann der St. Galler Stiftsbezirk aufwarten, dessen Filetstück der berühmte St. Galler Klosterplan ist: die weltweit älteste existierende Architekturzeichnung aus dem frühen Mittelalter. Bisher war das Kronjuwel dem Publikum nur als Faksimile in der St. Galler Stiftsbibliothek zugänglich, nun aber ist der Originalplan in einem neuen, für 2,8 Millionen Franken umgebauten Ausstellungssaal für alle zu sehen.
Ein Augenblick im Dämmerlicht
Aus konservatorischen Gründen nur für knappe 20 Sekunden, doch immerhin im Viertelstundentakt, taucht der berühmte St. Galler Klosterplan in einem separaten Raum des Stiftsarchivs aus einer Art klimatisierter Hightech-Gruft ins wohldosierte dämmrige Licht. Wirklich viel kann man in der kurzen Zeit nicht erkennen, doch darum geht es auch nicht, es geht um die unmittelbare Begegnung mit dem Original des unschätzbar wertvollen karolingischen Plans. Was es mit dem Dokument aus dem frühen 9. Jahrhundert auf sich hat, dem Idealplan für eine Klosteranlage, gezeichnet auf der Insel Reichenau und wahrscheinlich vom dortigen Abt Haito dem St. Galler Abt Gozbert zur Anregung für dessen eigenen Klosterbau zugesandt, erfährt man zuvor in einem kurzen Film.
Wenn das St. Galler Stiftsarchiv, bisher etwas im Schatten der barocken Pracht von Kathedrale und Stiftsbibliothek, nun erstmals in eigenen Ausstellungsräumen das «Wunder der Überlieferung» preist, so darf auch die klösterliche Zelle für einmal gerne mit ein paar Choralgesängen unterlegt sein und warm ausgefüttert in feierlichem Rot daherkommen. Es nützt ja nichts, wenn bloss Mediävisten das Herz hüpft. Wer sich schon vom Bildschirm weg auf Exkursion in die reale Welt eines Museums begibt, will zum einen zwar auf gewohnte Weise beschäftigt werden – sprich: interaktiv mit Schaltflächen zum Anklicken –, zum anderen aber auch an etwas teilhaben, das die persönliche Anwesenheit zu einem Ereignis macht.
So ist der ganze Stiftsbezirk nun gewissermassen eine Huldigung der klösterlichen Geschichte, die ihre ausserordentliche Fülle an geretteten Urkunden aus dem frühen Mittelalter einer Spezialität des Klosters St. Gallen verdankt: Es wurden hier nicht Bücherabschriften der eingehenden Urkunden und Akten angefertigt, sondern die originalen Dokumente in einem eigenen Ablagesystem archiviert und später, ab 1730, in hölzernen «Fluchtkisten» mobil gelagert. So überstanden die Originaldokumente diverse Brände, Kriege und feindliche Überfälle.
Man kennt sich also in St. Gallen mit Originalen aus, und wenn sich die Flügeltüren zum kleinen Raum mit dem Klosterplan, dem grossen Star der Ausstellung, gebührend spektakulär öffnen, versteht man, dass sich Stiftsarchivar Peter Erhart von der aufwendigen Präsentation vor allem eines wünscht: den nötigen Respekt für dieses Dokument.
Vom Wunderglauben ist ein Archivar natürlich weit entfernt. Doch wer vermöchte sich einer leichten Ergriffenheit zu entziehen, wenn der kostbare Plan, weihevoll angekündigt, aus seinem Schrein emporschwebt? Nicht erst die digitalisierte Welt sucht schliesslich den kurzen, physisch spürbaren Schauer vor der Reliquie, die rein durch ihre Präsenz verbalen oder schriftlichen Überlieferungen in der Gegenwart zu so etwas wie Wahrhaftigkeit verhilft.
Aus gutem Grund also nehmen nicht nur Ausstellungsdramaturgien, bei denen das natürlicherweise auf der Hand liegt, gerne Anleihe bei sakralen Vorbildern und Präsentationsformen. Wo, wenn nicht in der Kirche, zumindest in der katholischen, kennt man sich traditionellerweise mit dem Hervorrufen von ekstatischen Gefühlslagen, mit der subtilen bis bombastischen architektonischen Stimmungsmodulation, schon ähnlich gut aus? Also her mit Altar, Zelle und basilikalem Grundriss, auch gerne, wenn es passt, im weltlichen Bereich der Heldenverehrung oder bei der Sakralisierung profaner Gegenstände.
Vom heiligen Plan zum Gral
Dass ein Artefakt dabei nicht erst Jahrhunderte abhängen muss, um Gegenstand der Verehrung zu werden, zeigt sich in der Anziehungskraft, die von persönlichen Gegenständen oder Handschriften berühmter Persönlichkeiten ausgeht. Solche Verehrung kann auch in eine quasireligiöse Anbetung münden. Wo könnte man sich damit besser auskennen als im Richard-Wagner-Museum in Bayreuth, wo im ehemaligen Wohnhaus des Komponisten Leben und Werk eher distanziert-objektivierend zur Darstellung kommen.
Die Szenografie der sogenannten Schatzkammer spielt, durchaus nicht ohne Ironie, mit einer sakralen Aura und Anmutung – ein bisschen grosse Oper darf hier, in gefühlter Nähe zum Heiligen Gral, schon auch sein. Etwas Basilikahaftes besitze der Raum mit abschliessender Rotunden-Apsis im Untergeschoss des Museums ja bereits, erklärt Direktor Sven Friedrich, warum also nicht ein Kirchenschiff nachempfinden, gesäumt von Wandvitrinen mit Devotionalien aus der Büchersammlung und aus dem Skizzenfundus des Komponisten.
Als Höhepunkt der Inszenierung folgt die Altar-Vitrine mit dem jeweils zum aktuellen Repertoire der Bayreuther Festspiele passenden «heiligen» Partitur-Autografen. Um dem Ganzen schliesslich den richtigen transzendenten Glanz zu verleihen, schimmert in der Apsis ein goldener Theatervorhang mit – gleichsam anstelle des Kruzifixes – davor schwebender Wagner-Büste.
Der Welt des schönen Scheins steht dieses Spiel gut an, zumal die Aura sozusagen eine Spezialdomäne der Künste ist. Doch nicht jedes Original taugt dazu, Authentizitätssehnsüchte zu befriedigen. Wehe, wenn es schiefgeht mit der sakralen Inszenierung. Die Geschichte der Inthronisierung eines Dokuments, das ein Bündnis der innerschweizerischen Talschaften Uri, Schwyz und Nidwalden bezeugt, ist allseits bekannt. Das zur Gründungsurkunde der Eidgenossenschaft avancierte Schriftstück wurde in den Zeiten der geistigen Landesverteidigung als grosses Nationalheiligtum verehrt, die Ausstellungsvitrine des Bundesbriefs wurde zum «Altar des Vaterlands». Bloss: Ende der 1960er Jahre wurde die historische Bedeutung des Dokuments relativiert, und der Bundesbrief wanderte, degradiert vom Altar, in eine Gemischtwaren-Vitrine mit anderen historischen Dokumenten.
Die Aura eines Objekts mag zwar nicht einzig von ihm selbst ausgehen, wie Walter Benjamin es beschrieben hat, sondern ebenso sehr von der Bedeutungszuschreibung im Rahmen seiner musealen Inszenierung – doch es muss schon die richtige Substanz vorhanden sein, um eine Erzählung zu tragen –, da ist ein St. Galler Klosterplan die selten zu findende Idealbesetzung.
Quelle: NEUE ZÜRCHER ZEITUNG NZZ - Montag, 20.Mai 2019 - Feuilleton, S. 33
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um heutzutage zum beispiel forschungen zur lokalen und weiteren ns-geschichte zu betreiben, ist man auf gutfunktionierende und zugängliche bestände der archive unweigerlich angewiesen. das ist leider nicht immer ganz "barrierefrei" - nicht etwa (aber auch) weil treppen und barrieren physisch "im wege stehen" - sondern besonders auch, weil einige historiker die angewohnheit entwickelt haben, die bestände wie ihr "persönliches" hab und gut mit argusaugen "mental" zu hüten und zu bewachen - vergleichbar in etwa mit den alleinigen sakramentsverwaltungen durch geweihte männliche katholische priester und würdenträger. auch die bauten, in denen archive oft untergebracht sind, erinnern ja äußerlich manchmal eher an kathedralen - oft sogar mit einem abgetrennten bereich des "allerheiligsten"...
besonders - als dann plötzlich der "persönlichkeits-, familien- und namensschutz" seine hohe bedeutung und schutzwürdigkeit gewann. hier und da war das sicherlich angebracht - wurde aber von den archiven manchmal geradezu in "vorauseilendem gehorsam" und manchmal anscheinend "auf geheiß" von wo auch immer benutzt, nun wie die hennen auf den akten des allgemeinwissens, "ihren" archivalien, zu hocken - und noch immer einblicke dort zu verwehren, wo es längst nichts mehr zu "schützen" gab.
und natürlich hatten auch einige familien aus den mit der ns-geschichte verquickten verstrickungen ein großes interesse daran, jetzt mit hilfe der archive und unter vorschub des "persönlichkeitsschutzes" irgendwie fakten zu "vertuschen" - und vielleicht sogar brisante urkunden verschwinden zu lassen - von daher ist eine gewisse aufmerksamkeit sicherlich angebracht...
in meinen recherchen zum leidensprotokoll meiner tante erna kronshage stieß ich in den späten 80er bzw. den frühen 90er jahren des vorigen jahrhunderts auf den bestand des stadtarchivs bielefeld - gesundheitsamt bielefeld - der dort 1970 erfasst und archiviert wurde - unter:
- "Erbgesundheitsgericht Bielefeld: Erbgesundheitssache Erna Kronshage, XIII 31/43 Wg. 81-43, Gesundheitsamt Bielefeld-Land, im Bestand des Stadtarchivs Bielefeld, 1943"
in diesem bestand fand sich unter der registrierungs-nr. 106.1 die erbgesundheitsakte zum zwangssterilisations-verfahren meiner tante erna kronshage.
ich hatte dann das große glück, bei meinem besuch damals in dem als ostwestfälisch "unheilig" eingerichteten gebrauchs-archiv dort die wahrhaft "barrierefreie" historikerin frau dr. monika minninger anzutreffen, die sich als eine wahre expertin in sachen aufarbeitung der ns-gräuel-geschichte in und um bielefeld erwies. ein besonderer weiterer schwerpunkt ihrer tätigkeit war dabei auch die erforschung jüdischen lebens in bielefeld. sie veröffentlichte über dieses thema mehrere bücher.
ohne die großzügige aufklärungsarbeit der ns-verfolgungen in bielefeld und umgebung von frau dr. minninger - also bereits in den achtziger jahren - wäre das studien- und memorialblog zu "erna's story" insgesamt undenkbar.
Foto: NW |
im alter von 69 jahren ist die historikerin dr. monika minninger im september 2010 leider schon verstorben.
und genau aus diesem bestand zeigte dann das bielefelder "bauernhausmuseum" 2016 in der themenausstellung: "ländliche geschichte in 100 objekten - von den anfängen bis heute" auch die seite "26" - die 1. seite des einspruchs von ernas vater adolf kronshage auf den beschluss zur sterilisation durch das erbgesundheitsgericht bielefeld - eben original aus der erbgesundheitsakte bezüglich erna kronshage ... - die ich hier mit den weiteren seiten des briefes wiedergebe:
Der Ausstellungs-Begleittext vom Bauernhausmuseums-Leiter Dr. Lutz Volmer zu diesem Exponat lautete:
Ein Vater bettelt um Entlassung seiner Tochter
1943
Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 106.1/Gesundheitsamt Bielefeld, 1970
Erna Kronshage, geb. 1922, kam am 20. Februar
1944 in Gnesen (Gniezno) in der Anstalt
Tiegenhof ums Leben. Wie kam es dazu?
Erna arbeitete bis 1942 auf dem kleinen Hof
ihrer Eltern in der Gemeinde Senne II. Es kam
immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten
mit den nicht gerade toleranten Eltern. Durch
unglückliche Umstände wurde sie polizeilich in
die Provinzial-Heilanstalt Gütersloh
eingewiesen. Dort diagnostizierte man an ihr
Schizophrenie, die dort durch Arbeitstherapie in
Haus und Garten, aber auch eine Schocktherapie
behandelt wurde.
Nach damaliger Lesart der NS-Nomenklatur
handelte es sich um eine Erbkrankheit. Gemäß
des Gesetzes zur Verhütung erbkranken
Nachwuchses von 1934 kam es auf Veranlassung
der Ärzteschaft zu einer Zwangssterilisation. Ihr
Vater Adolf Kronshage hat dagegen vehement
Einspruch erhoben. Die Umstände der
Einweisung in die Klinik wie auch die Diagnose
schienen zweifelhaft.
Obwohl der Vater in einer Reihe von Schreiben
regelrecht darum bettelte, dass seine Tochter
entlassen wurde, arbeiteten die Institutionen
weiter: Als im November 1943 in der Heilanstalt
Gütersloh Betten für andere Zwecke frei
gemacht werden mussten, kam Erna in die
Gauheilanstalt Tiegenhof bei Gnesen im
besetzten Polen. Dort wurde sie nach 100 Tagen
Aufenthalt getötet. Die Sterbeurkunde lautet:
"Vollkommene Erschöpfung".
das original aus dem archivbestand des stadtarchivs bielefeld wurde im bauernhausmuseum ausgestellt (s.o.) - hier in kopie - vergrößerung |
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