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Verbrecher aller Art - Vorsicht: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!

Rotkreuzhelferin unter Hitler

Herren über Leben und Tod Foto aus Schücking-Homeyers Privatalbum von dem Soldatenerholungsheim in Zwiahel, in dem sie tätig war (Ukraine, 1941).
"Dass ich mit Verbrechern umging, war mir nach kurzer Zeit klar"
 

Was wussten deutsche Soldaten über den Holocaust? Die einstige Rotkreuzhelferin Annette Schücking-Homeyer gab im hohen Alter dem SPIEGEL Auskunft über ihre Erfahrungen hinter der Ostfront. 

Von Martin Doerry, Klaus Wiegrefe | SPIEGEL 


SPIEGEL: Frau Schücking-Homeyer, die meisten Deutschen bestritten nach dem Krieg, vom Holocaust gewusst zu haben. Sie waren von 1941 bis 1943 Helferin des Deutschen Roten Kreuzes hinter der Ostfront. Zu welchem Zeitpunkt haben Sie erfahren, dass Juden ermordet wurden?

Schücking-Homeyer: Schon in der Bahn auf dem Hinweg. Das war im Oktober 1941. Ich sollte mit einer anderen Schwester ein Soldatenheim in Zwiahel leiten, einer Kleinstadt 200 Kilometer westlich von Kiew. Wir saßen ab Brest-Litowsk mit zwei Soldaten zusammen, wobei ich nicht mehr weiß, ob das SS-Leute oder einfache Soldaten waren. Und dann erzählte auf einmal einer der beiden, er habe gerade in Brest eine Frau erschießen sollen. Die Frau habe um Gnade gebeten, weil sie sich um eine behinderte Schwester kümmern müsse. Da habe er die Schwester holen lassen und dann beide erschossen. Wir waren entsetzt, aber wir haben nichts dazu gesagt.

SPIEGEL: Wollte der Mann prahlen?

Schücking-Homeyer: Ich weiß es nicht.

SPIEGEL: In Zwiahel war bereits vor Ihrer Ankunft die viele Tausend Menschen zählende jüdische Gemeinde ausgelöscht worden. Wann haben Sie davon erfahren?
Schücking-Homeyer: Ein älterer Offizier erklärte uns am Tag der Ankunft, es gebe keine Juden mehr, die seien alle tot, und deren Häuser stünden leer.

SPIEGEL: Der Mann nahm Sie beiseite?

Schücking-Homeyer: Nein, das wurde abends bei Tisch erzählt. Ich habe das meinen Eltern wenig später geschrieben. In dem Brief steht auch, andere Schwestern hätten mir gesagt, ich habe im Schlaf geschrien: "Aber das geht doch nicht, das geht auf keinen Fall, es ist gegen jedes Völkerrecht."

SPIEGEL: Wie sah es im Ort aus?

Schücking-Homeyer: Die Häuser der Juden waren geplündert, und auf dem Boden lagen oft hebräische Schriften im Schmutz. Man erzählte uns, man könne dort schöne jüdische Kerzenleuchter finden. Einer der Offiziere hat sich auch einen mit nach Hause genommen.
SPIEGEL: Massengräber haben Sie nicht gesehen?

Schücking-Homeyer: Der Leiter des Pionierstabs bot sich eines Tages an, uns die historischen Befestigungsanlagen von Zwiahel zu zeigen. Und am Ufer des Slutsch wies er auf eine Stelle und sagte, dort seien 450 jüdische Männer, Frauen und Kinder begraben. Ich habe dazu nichts gesagt.
SPIEGEL: Wissen Sie, wie viele Menschen insgesamt in Zwiahel umgebracht worden sind?

Schücking-Homeyer: Uns halfen im Soldatenheim einige ukrainische Mädchen aus der Gegend, und die erzählten von 10.000 Ermordeten. Dass es auf jeden Fall viele waren, sah ich, als einige Wochen später die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) ein riesiges Kleiderlager in Zwiahel eröffnete. Da unsere ukrainischen Helferinnen immer so wenig zum Anziehen hatten, fragte mich einer der Offiziere, ob sie Sachen haben wollten, und dann bin ich mit denen dahin gegangen. Dann lagen da auch ganz viele Sachen von Kindern. Einige von unseren Mädchen wollten nichts nehmen. Andere haben sich mit "Heil Hitler" bedankt. Ich habe meiner Mutter davon geschrieben, und sie hat sofort ihren Schwestern in Hamburg mitgeteilt, sie sollten auf keinen Fall Kleider der NSV nehmen, denn diese stammten von ermordeten Juden.

SPIEGEL: Sie sind nie direkte Zeugin eines der Verbrechen gewesen?

Schücking-Homeyer: Nein. Einmal allerdings wäre es beinahe so weit gekommen. Ich habe für das Soldatenheim jede Woche Lebensmittel und Bier aus dem etwa 100 Kilometer entfernten Rowno geholt, und dort gab es ein großes Getto. Eines Tages – es war im Juli 1942 – war die Brauerei, in der viele Juden arbeiteten, geschlossen. Wir fuhren dann durch das Getto, und das war menschenleer. Offenkundig kurz zuvor geräumt. Und da sahen wir, wie deutsche Uniformierte Frauen und Kinder zusammentrieben, die sich wohl versteckt hatten. Die sollten sicher erschossen werden. Ich bin heulend zurück nach Zwiahel gekommen und wäre am liebsten wieder nach Hause gefahren.

SPIEGEL: In Rowno gab es insgesamt mehrere Mordwellen mit Tausenden Toten. Wissen Sie etwas über die Umstände?

Schücking-Homeyer: In Rowno war ich öfter bei der Wehrmachtverwaltung, um Bezugsscheine zu holen. Und weil sich die Soldaten so kühl über die Umsiedlungen unterhielten, habe ich nachgefragt. Wie ist das mit der Umsiedlung? Wann erfahren Sie davon ...

SPIEGEL: ... da wussten Sie schon, dass Umsiedlung ein Tarnbegriff für die Ermordung von Juden war?

Schücking-Homeyer: Ja, aber ich erinnere mich nicht mehr, wann und wie ich das erfahren habe. Jedenfalls hat man mir dann bei der Wehrmachtverwaltung in Rowno erklärt: "Wir bekommen am Vorabend die Mitteilung, dass in einem bestimmten Ort die Umsiedlung durchgeführt wird und dass es dabei zu Krach kommen könnte. Darum sollten sich die Truppen vor Ort nicht kümmern, also nicht eingreifen." Heute weiß man ja, dass die Erschießungen von Einsatzgruppen und Polizisten durchgeführt wurden.

SPIEGEL: Haben Sie mit denen auch im Soldatenheim gesprochen?

Schücking-Homeyer: Das weiß ich nicht, die Männer hatten alle Uniformen an und taten alle so, als seien sie Soldaten.

SPIEGEL: Sie schreiben am 5. November 1941 an die Eltern: "Das, was Papa immer sagt, dass von Menschen, die ohne moralische Hemmungen sind, eine merkwürdige Luft ausgeht, ist wahr; ich kann jetzt die Menschen unterscheiden, man riecht bei vielen richtig Blut. Ach, was ist die Welt für ein großes Schlachthaus." Sie glaubten, die Mörder erkennen zu können?

Schücking-Homeyer: Ja, ich hatte diesen Eindruck. Wenn man Herr über Leben und Tod ist, dann verhält und bewegt man sich anders als andere Menschen. Man zeigt, dass man über alles entscheidet.

SPIEGEL: Sind Sie den Männern ausgewichen?

Schücking-Homeyer: Man konnte sich ja aussuchen, mit wem man sich unterhielt.

SPIEGEL: In Ihren Briefen finden sich immer wieder Passagen wie "Aber die Juden, die meist die Geschäfte hatten, sind eben alle tot": Oder: "Juden gibt es hier in Zwiahel ja schon nicht mehr." Von Umbringen oder Mord schreiben Sie nichts. Hatten Sie Angst vor der Zensur?

Schücking-Homeyer: Natürlich. Ich war ein ängstliches Mädchen. Meiner Mutter – die ganz anders war als ich – habe ich damals geschrieben, sie würde es keinen Tag aushalten. Und ich bin sicher, sie hätte einen Weg gefunden, von dort wegzukommen. Denn indem man dort blieb, stützte man ja das System. Aber ich wusste nicht, was ich als Grund hätte angeben können. Ich brauchte ja eine Genehmigung, um nach Deutschland zurückzukehren.

SPIEGEL: Sie glauben, dass Ihre Familie die Anspielungen verstand?

Schücking-Homeyer: Natürlich.

SPIEGEL: Konnten Sie sich mit der anderen Schwester austauschen?

Schücking-Homeyer: Nein, man sprach darüber nicht.

»Wir sahen, wie deutsche Uniformierte Frauen und Kinder zusammentrieben.« 

SPIEGEL: Aber jeder wusste Bescheid?

Schücking-Homeyer: Von den Frontsoldaten kann ich es nicht mit Gewissheit sagen. Aber alle, die in der Etappe waren und vor allem länger in der Etappe waren, wussten es.

SPIEGEL: Was macht Sie da so sicher?

Schücking-Homeyer: Weil bei den Gesprächen immer davon ausgegangen wurde, dass jeder es wusste. Ich habe Ihnen noch nicht erzählt, wie mir eines Tages ein Feldwebel namens Frank, angeblich aus Münster, bei einer Autofahrt berichtete, er werde innerhalb der folgenden Wochen bei einer größeren Erschießungsaktion mitmachen, und er mache das, weil er befördert werden wolle. Ich habe ihm gesagt, er solle es nicht tun, er werde hinterher nicht mehr schlafen können.

SPIEGEL: Und?

Schücking-Homeyer: Er hat es trotzdem getan und mir später vorgejammert, er könne nicht mehr schlafen und fühle sich so schlecht. Das habe ich Ihnen ja gesagt, habe ich erwidert.

SPIEGEL: Wieso hat er sich Ihnen anvertraut?

Schücking-Homeyer: Die Gespräche mit den Soldaten wurden oft schnell persönlich. Das waren alles Männer, die lange keine Frauen mehr um sich gehabt hatten, bis auf die Ukrainerinnen, aber mit denen konnten sie ja nicht reden, und die hatten alle ein großes Mitteilungsbedürfnis. Ein anderes Mal fuhr ich mit einem Lkw-Fahrer mit, und der fing ohne weitere Erklärung damit an, dass man in Kasatin südwestlich von Kiew einige Hundert Juden zwei Tage habe hungern lassen, ehe man sie erschoss, weil die Erschießungskommandos anderweitig beschäftigt gewesen seien.

SPIEGEL: Das war dann unter vier Augen.

Schücking-Homeyer: Ja. Aber von einem der deutschen Landwirte, die im Raum Zwiahel das Sagen hatten, einem Herrn Nägel aus Hessen, wurde auch ganz offen erzählt, man habe die Juden an seinem Haus vorbeigetrieben. Seine Haushälterin, eine Jüdin, soll angeblich gelacht haben, und da habe er sie gezwungen, sich in den Zug einzureihen. Dass ich mit Verbrechern umging, war mir nach kurzer Zeit klar.

SPIEGEL: An Ihre Mutter schrieben Sie: "Bald bin ich auch so weit, dass ich die rechtlichen Empörungen in mir überwunden habe, und dann kann ich alles viel besser in mich aufnehmen. Auch die anständigsten Leute hier sind schon alle so weit. Wenn man die Geschichten auch alle nicht sieht, und hier ist es ja schon im Allgemeinen vorbei ... so wird man vergessen können. Bis jetzt zwar regt es mich immer noch wahnsinnig auf, ein Kind zu sehen und zu wissen, dass es in 2 – 3 Tagen tot sein wird." Es liest sich, als ob Sie nach einem Weg suchten, die Grausamkeiten um Sie herum ertragen zu können.

»Sie konnten sich in der Justiz mit keinem Kollegen offen unterhalten. Überall saßen noch die alten Nazis.« 

Schücking-Homeyer: Ich erinnere mich daran nicht mehr genau. Vielleicht habe ich es auch geschrieben, um die Zensur zu täuschen.

SPIEGEL: Es finden sich freilich auch Passagen in Ihren Briefen, die den Eindruck erwecken, Sie hätten sich damals von Ihrem Umfeld infizieren lassen.
Schücking-Homeyer: Nein, mein Vater war Rechtsanwalt und hatte Berufsverbot seit 1933. Ich hatte daher große Angst vor der Zensur. Ich war nie Antisemitin; wir haben vielmehr später im Krieg mehrfach verfolgten Juden geholfen.

SPIEGEL: Was haben Sie nach dem Krieg mit Ihrem Wissen über die Vorgänge in Zwiahel gemacht?

Schücking-Homeyer: Ich kam zu dem Schluss, dass die Soldaten das zur Anzeige bringen würden. Aber dann hörte ich nichts davon. Da habe ich noch 1945 dem Staatsanwalt in Münster, der mich 1943 ausgebildet hatte und inzwischen leitender Staatsanwalt war, vorgeschlagen, Beweissicherungsverfahren durchzuführen. Damals hatte man ja noch die Fakten alle parat, also welche Einheiten mit welchen Feldpostnummern vor Ort waren. Aber der Mann meinte, das müssten wir den Engländern überlassen. Er war wohl zu feige. Drei, vier Jahre später habe ich die Jüdische Gemeinde in Dortmund informiert, wo ich damals lebte, aber dort hat sich auch niemand dafür interessiert.

SPIEGEL: Und später?

Schücking-Homeyer: Sie konnten sich ja in der Justiz mit keinem Kollegen offen unterhalten, der im Osten gewesen war. Überall saßen noch die alten Nazis. Erst einige Jahre vor meiner Pensionierung kam das Thema Zwiahel wieder hoch. Ich war Richterin am Sozialgericht in Detmold und bekam 1974 eine Rentenversicherungsakte in die Hand. Sie stammte von einem Volksdeutschen, der sich seinen Dienst für die deutsche Polizei in Zwiahel 1941 anrechnen lassen wollte. Er hatte zur sogenannten ukrainischen Schutzmannschaft gezählt, von der ich vermutete, dass sie an den sogenannten Umsiedlungen beteiligt war. Ich schrieb ihm, dass ich genau wisse, was im Oktober 1941 in Zwiahel geschehen sei und er besser gegen mich einen Befangenheitsantrag stellen sollte. Das hat er sofort getan. Und mein Vertreter hat ihm die Zeit anerkannt, wie es das Gesetz leider vorsah.

SPIEGEL: Sie haben den Mann nicht angezeigt?

Schücking-Homeyer: Nein, er war ja nur ein kleines Rädchen. Aber ich habe mich dann erkundigt, ob die Zentralstelle in Ludwigsburg die Morde in Zwiahel inzwischen untersucht habe. Und ich habe dann alles ausgesagt, was ich wusste. Aus eigener Anschauung konnte ich als Zeugin freilich nur den Feldwebel Frank belasten. Den hat man aber nicht ermitteln können.

Dieser Text stammt aus DER SPIEGEL 4/2010 - wieder erschienen am 21.10.2019 in SPIEGEL+


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oben auf dem foto vom innenleben des soldatenheims in der ukraine sieht es ja ganz "normal" aus - wie in einer kneipe oder kaffeestube. und so sollte das auch alles sein - völlig normal: es war halt krieg (übrigens war auch der schon 'völkerrechtswidrig'...) - und "wo gehobelt wird - da fallen eben späne" - so hieß das in den "familiengesprächen" abends bei tisch bis in die 70er jahre hinein.

und so ging man ja auch "mental" insgesamt mit diesem thema im nachkriegsdeutschland um: in der besetzung der ämter, der justiz, der regierungen, der verwaltung, der chefetagen usw.: ein jeder hatte dort sein gut geschnürtes und verborgenes päckchen mit sich zu schleppen, aber in einer art "kollektiven nichtangriffspakt" schwieg man und "biss sich lieber die zunge ab", als diese belastungen zu benennen und sich zumindest von der seele zu reden.

da ging es um so hehre eingepflanzte gefühle wie "soldatenehre": "da kann & darf man nicht drüber reden, denn das habe ich geschworen" - da ging es um "zusammenhalt" - und da ging es um die "todsünde": nämlich etwas zu "verraten" oder gar den "kameraden zu verraten" - das alles hatte man "mit ins grab zu nehmen"...

in einem leserbrief unter dem artikel oben stehen die resignierten zeilen: 
"Wir sind die Nachgeborenen einer verbrecherischen und grausamen Elterngeneration, die ihre Schuld nie wahrhaben wollte, die auf unsere Fragen nach dem was sie wussten und auf unsere Anklagen mit Aggression und Hohn reagierten: "Ihr habt keine Ahnung, wie es war in Russland. Wir waren Soldaten und anständig, unsere Soldatenehre lassen wir uns von euch Lausejungs nicht kaputt machen. Haltet den Mund." Ich erinnere unzählige Situationen in denen sich die Täter gegenseitig vergewissern, dass sie sich keine Vorwürfe zu machen hätten. Dies hat das Leben und die Einstellung zu "Deutschland" und seiner furchtbaren Vergangenheit nachhaltig geprägt. Frieden kann ich damit nicht machen. Es erfüllt mich mit Zorn, wenn diese furchtbare Vergangenheit als "Vogelschiss" bezeichnet wird. Wer angesichts der mörderischen Vergangenheit, die folgerichtig in fast vollständiger Zerstörung auch Deutschlands endete wieder "stolz auf Deutschland" ist muss völlig geschichtsvergessen sein. Ich frage mich wieder, ob ich nicht besser im Ausland hätte bleiben sollen. Es beginnt ja wieder." 
(Ortrud-mXXMz37WR)
tja - ortrud scheint ähnlich alt zu sein wie ich, denn implizit waren das die gängigen umgangsformeln mit und zu der zeit - wenn ich das auch zuhause bei uns von meinem vater so nicht gehört habe. aber auch er sprach nie über seine aufgaben in der spionageabwehr von partisanen als "funker" auf dem balkan (belgrad) - sondern lieber von seiner abenteuerlichen "fahnenflucht" zum ende des krieges, wie er sich nach hause durchgeschlagen hat mit einem kumpel - über die alpen - heim ins "reich", wo alles kurz & klein zerbombt war.

und die zwangssterilisation mit anschließender ns-euthanasie ermordung meiner tante erna kronshage - der schwester meiner mutter - wurde nie erwähnt - und auch nicht im familienkreis auf "feierlichkeiten" - und auch cousins und cousinen hatten davon explizit keinen blassen schimmer - aber alle "ahnten" das irgendwie, denn  mitte der 80er jahre habe ich ja eine entsprechende anfrage an das archiv des landschaftsverbandes in münster abgeschickt - irgendwie aus einem mir  seit jahren von wer-weiß-woher "eingepflanzten" inneren wissen heraus. und fotos und das schul-entlasszeugnis meiner tante wurden (bei insgesamt 10 geschwistern) fein säuberlich direkt bei uns neben unserem familienstammbuch in unserer familien-schatulle aufbewahrt.

also irgendwie wurden spuren gelegt zu dem grauen jener zeit - und zu mord & totschlag & zu den tätern und opfern ...

aber diese spuren mussten "entschlüsselt" werden - wohl wegen all der zweifelhaften "ehre" hatte man die ordentlich verfremdet und auf eine ganz verschwurbelt bürokratische art chiffriert - und die reste eben in archive eingelagert, wo sie oft vor sich hingammelten - aber aus "personenschutz-gründen" (welche personen wurden da vor wem geschützt?) auf keinen fall preisgegeben werden sollten. 

so geschah es z.b. mit 30.000 (dreißigtausen) personalakten von euthanasie-opfern der von adolf hitler selbstbefohlenen ersten vernichtungswelle, die mit 70.000 opfern von 1939-1941 insgesamt unter dem stichwort-kürzel "t4" nach dem krieg bekannt geworden ist. sie wurden erst nach der "wende" dann 1990 gänzlich unbearbeitet(!!!) ohne irgendwelche anklageerhebungen in einem z.t. verheerenden zustand im ehemaligen “ns-archiv” des ministeriums für staatssicherheit (mfs) der ddr aufgefunden.  und es sollten nach "t4" dann ab 1942 zumindest bis zum kriegsende noch weitere auch dezentral organisierte euthansie-tötungswellen folgen.



das alles wurde also fein weggeschlossen und abgespalten: in den köpfen, in den archivkammern - in der hoffnung, das da "bald gras drüber wächst". und über viele inzwischen tatsächlichen gräber der täter & der opfer (so auch bei meiner tante) ist inzwischen ja gras gewachsen, weil die grabstätten eingeebnet wurden, oder neu belegt sind...

aber wir nachgeborenen haben trotzdem oder gerade deshalb weiterhin die aufgabe, zu puzzlen und zu forschen, damit dieses grauen zumindest dann in der zweiten, dritten und vierten generation restlos aufgearbeitet wird - auch in den (rest)familien von (ur-ur)opa und -oma - damit wir alle einen "klaren kopf" erlangen: 

beim "arturo ui" von bertolt brecht heißt es nämlich ansonsten

„So was hätt einmal fast die Welt regiert!
Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
Dass keiner uns zu früh da triumphiert -
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“

ARCHIVALIEN UND ARCHIVE

Archivalien - Bild: war robots wiki

Archive spielen mit dem Glamourfaktor


Selbst Schriftstücke können zu Stars werden und auf einem Altar wie Reliquien präsentiert werden

Von Gabrielle Boller | NZZ

Historische Archive haben in unserer digitalisierten Gesellschaft fast schon etwas Magisches. In der flachen Welt der Bildschirmtexte versprechen sie Haptik und eine Authentizität, die sich vielleicht als Ansichtigwerden von Geschichte umschreiben lässt. Vorbei die Zeiten, da Archivalien als trockene Materie galten, zumal man sich auch gerade in jüngster Zeit deren Verletzlichkeit bewusst wurde – der Brand der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar, der Einsturz des Historischen Stadtarchivs Köln, die Zerstörung des brasilianischen Nationalmuseums etwa zeigten auf drastische Weise, wie gefährdet sie bis heute sind.

Trotz ihrer neu entdeckten Attraktivität haben natürlich nicht alle Urkundensammlungen Glamourfaktor, da braucht es schon eine besondere Geschichte und am besten einen veritablen Star. Genau damit kann der St. Galler Stiftsbezirk aufwarten, dessen Filetstück der berühmte St. Galler Klosterplan ist: die weltweit älteste existierende Architekturzeichnung aus dem frühen Mittelalter. Bisher war das Kronjuwel dem Publikum nur als Faksimile in der St. Galler Stiftsbibliothek zugänglich, nun aber ist der Originalplan in einem neuen, für 2,8 Millionen Franken umgebauten Ausstellungssaal für alle zu sehen.

Ein Augenblick im Dämmerlicht

Aus konservatorischen Gründen nur für knappe 20 Sekunden, doch immerhin im Viertelstundentakt, taucht der berühmte St. Galler Klosterplan in einem separaten Raum des Stiftsarchivs aus einer Art klimatisierter Hightech-Gruft ins wohldosierte dämmrige Licht. Wirklich viel kann man in der kurzen Zeit nicht erkennen, doch darum geht es auch nicht, es geht um die unmittelbare Begegnung mit dem Original des unschätzbar wertvollen karolingischen Plans. Was es mit dem Dokument aus dem frühen 9. Jahrhundert auf sich hat, dem Idealplan für eine Klosteranlage, gezeichnet auf der Insel Reichenau und wahrscheinlich vom dortigen Abt Haito dem St. Galler Abt Gozbert zur Anregung für dessen eigenen Klosterbau zugesandt, erfährt man zuvor in einem kurzen Film.

Wenn das St. Galler Stiftsarchiv, bisher etwas im Schatten der barocken Pracht von Kathedrale und Stiftsbibliothek, nun erstmals in eigenen Ausstellungsräumen das «Wunder der Überlieferung» preist, so darf auch die klösterliche Zelle für einmal gerne mit ein paar Choralgesängen unterlegt sein und warm ausgefüttert in feierlichem Rot daherkommen. Es nützt ja nichts, wenn bloss Mediävisten das Herz hüpft. Wer sich schon vom Bildschirm weg auf Exkursion in die reale Welt eines Museums begibt, will zum einen zwar auf gewohnte Weise beschäftigt werden – sprich: interaktiv mit Schaltflächen zum Anklicken –, zum anderen aber auch an etwas teilhaben, das die persönliche Anwesenheit zu einem Ereignis macht.

So ist der ganze Stiftsbezirk nun gewissermassen eine Huldigung der klösterlichen Geschichte, die ihre ausserordentliche Fülle an geretteten Urkunden aus dem frühen Mittelalter einer Spezialität des Klosters St. Gallen verdankt: Es wurden hier nicht Bücherabschriften der eingehenden Urkunden und Akten angefertigt, sondern die originalen Dokumente in einem eigenen Ablagesystem archiviert und später, ab 1730, in hölzernen «Fluchtkisten» mobil gelagert. So überstanden die Originaldokumente diverse Brände, Kriege und feindliche Überfälle.

Man kennt sich also in St. Gallen mit Originalen aus, und wenn sich die Flügeltüren zum kleinen Raum mit dem Klosterplan, dem grossen Star der Ausstellung, gebührend spektakulär öffnen, versteht man, dass sich Stiftsarchivar Peter Erhart von der aufwendigen Präsentation vor allem eines wünscht: den nötigen Respekt für dieses Dokument.

Vom Wunderglauben ist ein Archivar natürlich weit entfernt. Doch wer vermöchte sich einer leichten Ergriffenheit zu entziehen, wenn der kostbare Plan, weihevoll angekündigt, aus seinem Schrein emporschwebt? Nicht erst die digitalisierte Welt sucht schliesslich den kurzen, physisch spürbaren Schauer vor der Reliquie, die rein durch ihre Präsenz verbalen oder schriftlichen Überlieferungen in der Gegenwart zu so etwas wie Wahrhaftigkeit verhilft.

Aus gutem Grund also nehmen nicht nur Ausstellungsdramaturgien, bei denen das natürlicherweise auf der Hand liegt, gerne Anleihe bei sakralen Vorbildern und Präsentationsformen. Wo, wenn nicht in der Kirche, zumindest in der katholischen, kennt man sich traditionellerweise mit dem Hervorrufen von ekstatischen Gefühlslagen, mit der subtilen bis bombastischen architektonischen Stimmungsmodulation, schon ähnlich gut aus? Also her mit Altar, Zelle und basilikalem Grundriss, auch gerne, wenn es passt, im weltlichen Bereich der Heldenverehrung oder bei der Sakralisierung profaner Gegenstände.

Vom heiligen Plan zum Gral

Dass ein Artefakt dabei nicht erst Jahrhunderte abhängen muss, um Gegenstand der Verehrung zu werden, zeigt sich in der Anziehungskraft, die von persönlichen Gegenständen oder Handschriften berühmter Persönlichkeiten ausgeht. Solche Verehrung kann auch in eine quasireligiöse Anbetung münden. Wo könnte man sich damit besser auskennen als im Richard-Wagner-Museum in Bayreuth, wo im ehemaligen Wohnhaus des Komponisten Leben und Werk eher distanziert-objektivierend zur Darstellung kommen.

Die Szenografie der sogenannten Schatzkammer spielt, durchaus nicht ohne Ironie, mit einer sakralen Aura und Anmutung – ein bisschen grosse Oper darf hier, in gefühlter Nähe zum Heiligen Gral, schon auch sein. Etwas Basilikahaftes besitze der Raum mit abschliessender Rotunden-Apsis im Untergeschoss des Museums ja bereits, erklärt Direktor Sven Friedrich, warum also nicht ein Kirchenschiff nachempfinden, gesäumt von Wandvitrinen mit Devotionalien aus der Büchersammlung und aus dem Skizzenfundus des Komponisten.

Als Höhepunkt der Inszenierung folgt die Altar-Vitrine mit dem jeweils zum aktuellen Repertoire der Bayreuther Festspiele passenden «heiligen» Partitur-Autografen. Um dem Ganzen schliesslich den richtigen transzendenten Glanz zu verleihen, schimmert in der Apsis ein goldener Theatervorhang mit – gleichsam anstelle des Kruzifixes – davor schwebender Wagner-Büste.

Der Welt des schönen Scheins steht dieses Spiel gut an, zumal die Aura sozusagen eine Spezialdomäne der Künste ist. Doch nicht jedes Original taugt dazu, Authentizitätssehnsüchte zu befriedigen. Wehe, wenn es schiefgeht mit der sakralen Inszenierung. Die Geschichte der Inthronisierung eines Dokuments, das ein Bündnis der innerschweizerischen Talschaften Uri, Schwyz und Nidwalden bezeugt, ist allseits bekannt. Das zur Gründungsurkunde der Eidgenossenschaft avancierte Schriftstück wurde in den Zeiten der geistigen Landesverteidigung als grosses Nationalheiligtum verehrt, die Ausstellungsvitrine des Bundesbriefs wurde zum «Altar des Vaterlands». Bloss: Ende der 1960er Jahre wurde die historische Bedeutung des Dokuments relativiert, und der Bundesbrief wanderte, degradiert vom Altar, in eine Gemischtwaren-Vitrine mit anderen historischen Dokumenten.

Die Aura eines Objekts mag zwar nicht einzig von ihm selbst ausgehen, wie Walter Benjamin es beschrieben hat, sondern ebenso sehr von der Bedeutungszuschreibung im Rahmen seiner musealen Inszenierung – doch es muss schon die richtige Substanz vorhanden sein, um eine Erzählung zu tragen –, da ist ein St. Galler Klosterplan die selten zu findende Idealbesetzung.

Quelle: NEUE ZÜRCHER ZEITUNG NZZ - Montag, 20.Mai 2019 - Feuilleton, S. 33

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bauernhausmuseum bielefeld - themenausstellung: ländliche geschichte in 100 objekten - von den anfängen bis heute - seite "26" - die 1. seite des einspruchs von ernas vaters auf den beschluss zur sterilisation durch das erbgesundheitsgericht bielefeld aus der erbgesundheitsakte bezüglich erna kronshage  ...




um heutzutage zum beispiel forschungen zur lokalen und weiteren ns-geschichte zu betreiben, ist man auf gutfunktionierende und zugängliche bestände der archive unweigerlich angewiesen. das ist leider nicht immer ganz "barrierefrei" - nicht etwa (aber auch) weil treppen und barrieren physisch "im wege stehen" - sondern besonders auch, weil einige historiker die angewohnheit entwickelt haben, die bestände wie ihr "persönliches" hab und gut mit argusaugen "mental" zu hüten und zu bewachen - vergleichbar in etwa mit den alleinigen sakramentsverwaltungen durch geweihte männliche katholische priester und würdenträger. auch die bauten, in denen archive oft untergebracht sind, erinnern ja äußerlich manchmal eher an kathedralen - oft sogar mit einem abgetrennten bereich des "allerheiligsten"...

besonders - als dann plötzlich der "persönlichkeits-, familien- und namensschutz" seine hohe bedeutung und schutzwürdigkeit gewann. hier und da war das sicherlich angebracht - wurde aber von den archiven manchmal geradezu in "vorauseilendem gehorsam" und manchmal anscheinend "auf geheiß" von wo auch immer benutzt, nun wie die hennen auf den akten des allgemeinwissens, "ihren" archivalien, zu hocken - und noch immer einblicke dort zu verwehren, wo es längst nichts mehr zu "schützen" gab.

und natürlich hatten auch einige familien aus den mit der ns-geschichte verquickten verstrickungen ein großes interesse daran, jetzt mit hilfe der archive und unter vorschub des "persönlichkeitsschutzes" irgendwie fakten zu "vertuschen" - und vielleicht sogar brisante urkunden verschwinden zu lassen - von daher ist eine gewisse aufmerksamkeit sicherlich angebracht...

in meinen recherchen zum leidensprotokoll meiner tante erna kronshage stieß ich in den späten 80er bzw. den frühen 90er jahren des vorigen jahrhunderts auf den bestand des stadtarchivs bielefeld - gesundheitsamt bielefeld - der dort 1970 erfasst und archiviert wurde - unter: 
  • "Erbgesundheitsgericht Bielefeld: Erbgesundheitssache Erna Kronshage, XIII 31/43 Wg. 81-43, Gesundheitsamt Bielefeld-Land, im Bestand des Stadtarchivs Bielefeld, 1943"
in diesem bestand fand sich unter der registrierungs-nr. 106.1 die erbgesundheitsakte zum zwangssterilisations-verfahren meiner tante erna kronshage.

ich hatte dann das große glück, bei meinem besuch damals in dem als ostwestfälisch "unheilig" eingerichteten gebrauchs-archiv dort die wahrhaft "barrierefreie" historikerin frau dr. monika minninger anzutreffen, die sich als eine wahre expertin in sachen aufarbeitung der ns-gräuel-geschichte in und um bielefeld erwies. ein besonderer weiterer schwerpunkt ihrer tätigkeit war dabei auch die erforschung jüdischen lebens in bielefeld. sie veröffentlichte über dieses thema mehrere bücher.

ohne die großzügige aufklärungsarbeit der ns-verfolgungen in bielefeld und umgebung von frau dr. minninger - also bereits in den achtziger jahren  - wäre das studien- und memorialblog zu "erna's story" insgesamt undenkbar. 

Foto: NW
frau minninger hat mir damals bei meinen besuchen im stadtarchiv sehr "unbürokratisch" - unter umgehung aller sonst noch üblichen "forschungsschranken" auf diesem gebiet in den den archiven in deutschland auf diesem terrain - die kopie der "erbgesundheitsgerichtsakte erna kronshage" aus dem bestand "erbgesundheitsgericht bielefeld-land" ermöglicht, die nun im studien- und memorial-blog reproduziert wiedergegeben werden können...

im alter von 69 jahren ist die historikerin dr. monika minninger im september 2010 leider schon verstorben. 

und genau aus diesem bestand zeigte dann das bielefelder "bauernhausmuseum" 2016 in der themenausstellung: "ländliche geschichte in 100 objekten - von den anfängen bis heute" auch die seite "26" - die 1. seite des einspruchs von ernas vater adolf kronshage auf den beschluss zur sterilisation durch das erbgesundheitsgericht bielefeld - eben original aus der erbgesundheitsakte bezüglich erna kronshage ... - die ich hier mit den weiteren seiten des briefes wiedergebe:


Der Ausstellungs-Begleittext vom Bauernhausmuseums-Leiter Dr. Lutz Volmer zu diesem Exponat lautete:

Ein Vater bettelt um Entlassung seiner Tochter

1943

Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 106.1/Gesundheitsamt Bielefeld, 1970

Erna Kronshage, geb. 1922, kam am 20. Februar
1944 in Gnesen (Gniezno) in der Anstalt
Tiegenhof ums Leben. Wie kam es dazu?

Erna arbeitete bis 1942 auf dem kleinen Hof
ihrer Eltern in der Gemeinde Senne II. Es kam
immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten
mit den nicht gerade toleranten Eltern. Durch
unglückliche Umstände wurde sie polizeilich in
die Provinzial-Heilanstalt Gütersloh
eingewiesen. Dort diagnostizierte man an ihr
Schizophrenie, die dort durch Arbeitstherapie in
Haus und Garten, aber auch eine Schocktherapie
behandelt wurde.

Nach damaliger Lesart der NS-Nomenklatur
handelte es sich um eine Erbkrankheit. Gemäß
des Gesetzes zur Verhütung erbkranken
Nachwuchses von 1934 kam es auf Veranlassung
der Ärzteschaft zu einer Zwangssterilisation. Ihr
Vater Adolf Kronshage hat dagegen vehement
Einspruch erhoben. Die Umstände der
Einweisung in die Klinik wie auch die Diagnose
schienen zweifelhaft.

Obwohl der Vater in einer Reihe von Schreiben
regelrecht darum bettelte, dass seine Tochter
entlassen wurde, arbeiteten die Institutionen
weiter: Als im November 1943 in der Heilanstalt
Gütersloh Betten für andere Zwecke frei
gemacht werden mussten, kam Erna in die
Gauheilanstalt Tiegenhof bei Gnesen im
besetzten Polen. Dort wurde sie nach 100 Tagen
Aufenthalt getötet. Die Sterbeurkunde lautet:

"Vollkommene Erschöpfung".



das original aus dem archivbestand des stadtarchivs bielefeld wurde im bauernhausmuseum ausgestellt (s.o.) - hier in kopie - vergrößerung

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