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der menschheit ganzer jammer...

Jahrestag: 103 jüdische Menschen besteigen am 10. Juli 1942 am Hauptbahnhof einen Zug, angeblich in Richtung Warschau. Eine von ihnen ist die Bielefelderin Thekla Lieber. Ihre Postkarten sind ein letztes Lebenszeichen. Sie bringen Jahrzehnte später eine schreckliche Wahrheit ans Licht...


Erste Deportation nach Auschwitz
begann in Bielefeld

Von Christine Panhorst | NW

Es ist ein Freitag, heute vor 77 Jahren. Am 10. Juli 1942 startet ein Zug vom Bielefelder Bahnhof. In den Waggons: 103 Menschen Jüdinnen und Juden aus dem Gestapobezirk Bielefeld sowie aus Münster, Dortmund und Osnabrück. Das Ziel ist Warschau, so macht man sie glauben. Die Gestapo gestattet ihnen, unterwegs Postkarten zu schreiben. Es sind letzte Lebenszeichen, die Jahrzehnte später eine Spurensuche ermöglichen. An ihrem Ende steht eine schreckliche Gewissheit: Ankunftsort ist damals nicht Warschau, sondern das neue „Zentrum der Massenvernichtung“.

Der Deportationszug aus Bielefeld, das legen jüngste Forschungen nahe, ist der erste
große Transport im Deutschen Reich, der das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau
anfährt. Mehr als 1.000 Jüdinnen und Juden werden aus ihren Familien gerissen und
nach Stopps in Hamburg, Ludwigslust, Berlin und Magdeburg verschleppt. Zugleich ist
es die einzige Deportation vom Startbahnhof Bielefeld, bei der es später keine
Überlebenden geben wird.

Diese Postkarte beginnt Bielefelderin Thekla Lieber am 12. Juli 1942 „kurz vor Berlin“:

Foto:
Sammlung Kai-Uwe von Hollen


„12 – kurz vor Berlin. Meine Lieben! Sicher habt Ihr meine diversen Karten erhalten.

Bisher geht es uns gut, sind sehr betreut. Fahre mit Frau Jakobs aus Sögel mit Tochter
Frau de Vries und Kind. Das Wetter ist herrlich. Allmählich beginnt’s, dass man sich
gewöhnt, ist gut, dass man viel schläft und die Zeit wenigstens nicht nachdenkt. (. . .)
Wir halten und wieder besteigen Hunderte Gefährten diesen unendlich langen Zug. Der Menschheit ganzer Jammer ist zu sehen. Montag werden wird, wenn’s
gut geht, am Ziel sein.
Braucht Euch nicht zu betrüben, so Gott will, wird’s schon werden. Seid nochmals
herzlich gegrüßt und geküßt von Eurer Mutter“

. . . schreibt die Bielefelderin Thekla Lieber am 12. Juli 1942 aus dem Deportationszug
bei Berlin.

Jener Freitag im Juli 1942 ist ein Auftakt zum dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte und Bielefelder Stadtgeschichte. Davon erzählen eindrücklich in Zeilen voller Angst und Hoffnung, Sorge und Liebe die Nachrichten der Deportierten – wie die der Bielefelderin Thekla Lieber.

An der Ritterstraße (heute Ecke Notpfortenstraße) hat die Geschäftsfrau ursprünglich
einen Handel mit Öfen, Eisen- und Haushaltswaren betrieben, der in der
Reichspogromnacht zerstört wird. „Macht euch keinen Kummer um mich, bleibt Ihr
nur gesund“, schreibt die 60-Jährige zwei Tage vor Abfahrt des Zuges auf einer
Postkarte an Tochter und Schwiegersohn in Brüssel. Den Bescheid zur Deportation hat
sie kurz zuvor plötzlich erhalten.

Sie reise über Hamburg, weiß Lieber schon früh. Das Ziel sei Warschau, notiert sie auf
einer ihrer Karten, die sie im Sammellager Kyffhäuser am Kesselbrink schreibt (heute
Standort der Restetruhe). „Ich hoffe, dass, so Gott will, mir die Seelenkräfte verbleiben,
alles zu überwinden.“

Letzte Lebenszeichen: Die Bielefelderin Thekla Lieber, geb. Heine, (*1882)
führte mit ihrem Mann ursprünglich ein Geschäftshaus an der Ritterstraße. Aus
dem Deportationszug darf sie noch Postkarten an Tochter und Schwiegersohn
schreiben, die nach Brüssel flohen.                            Foto: Sammlung Brigitte Decker
Sechs ihrer Postkarten wird ihre geflohene Tochter durch den Krieg retten. Eine davon
schreibt ihr die Mutter aus dem Zug bei Hamburg. Das Kartenschreiben ist den
Deportierten – das ist ungewöhnlich – offenbar gestattet. In ihren Karten berichten sie
zudem von „warmem Essen“ und „allerlei Verpflegung“ unterwegs. Immer heißt es:
Warschau.

Unterdessen führt die Fahrt weiter über Berlin und Magdeburg, an jedem Stopp
steigen Hunderte Menschen zu. Die Witwe Lieber aus Bielefeld schwankt am 12. Juli
zwischen Hoffen und Bangen: „Das Wetter ist herrlich. Allmählich beginnt’s, dass man
sich gewöhnt. (. . .) Wir halten, und wieder besteigen Hunderte Gefährten diesen
unendlich langen Zug. Der Menschheit ganzer Jammer ist zu sehen.“ Es ist ihre letzte
Karte.

Das letzte dokumentierte Lebenszeichen der Deportierten des Bielefelder Zuges
stammt von den Schwestern Clara Lorch (60) und Meta Meyer (53) aus Bad
Lippspringe. Ihre Karte ist in Oppeln abgestempelt – gut 140 Kilometer vor Auschwitz.
Der Rest sind Indizien einer bewussten Täuschung: Mal taucht das Ziel „Warschau“,
mal das Ziel „Auschwitz“ in offiziellen Unterlagen zu diesem Transport auf. Ein Koffer,
der in Auschwitz-Birkenau in einer Ausstellung zu sehen ist, gehört einem in Hamburg
Zugestiegenen. Angehörige senden schon 1942 auf Verdacht Briefe nach Auschwitz
oder erhalten auf Nachfragen hin den Hinweis „Auschwitz/Krakau“.
Abfahrtsort ins Ungewisse: Vorherige Depotationen aus
Bielefeld hatten Warschau oder Riga zum Ziel, wie auch der
Transport am 23.Dezember 1941, der fotografisch dokumentiert
ist. Foto: Stadtarchiv Bielefeld 

Die letzte Gewissheit fehlt. Zu viele Dokumente wurden kurz vor Kriegsende in
Bielefeld vernichtet.

Was bekannt ist: dass sich SS-Reichsführer Heinrich Himmler eine Woche nach Abfahrt
des Bielefelder Zuges das neue Vernichtungslager vorführen lässt.

Postkarten sind Puzzleteile der Vergangenheit: Die Bielefelder Forscher können anhand abgestempelter Postkarten belegen, dass der Zug über Hamburg, Ludwigslust, Berlin, Magdeburg und Breslau bis nach Oppeln in Polen fuhr. Hier verliert sich seine Spur - 140 Kilometer vor Auschwitz.                                                                      Grafik: Schultheiss - Daten: von Hollen, Decker, Freier



  • Der Text ist entstanden in enger Zusammenarbeit mit dem Bielefelder Martin Decker sowie unter Verwendung von Materialien der Holocaustforscher Martin Decker, Kai-Uwe von Hollen und Thomas Freier.


Quelle: Neue Westfälische, 10.7.2019, Lokales S. 17

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„das vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“, hat christa wolf einen ursprünglichen satz von william faulkner weitergeführt. 

und ein bundestagsabgeordneter, der 2019 im deutschen bundestag sitzt, hat ja die gesamte ns-zeit mit all ihrem morden und leiden einfach mal zu einem "vogelschiss" abqualifiziert und heruntergespielt, den wir endlich bitteschön mal vergessen und verdrängen sollen.

da ist es schon ungeheuer wichtig, dass eine zeitung zum jahrestag der abfahrt des ersten durchgehenden deportationszuges nach auschwitz aus bielefeld vor 77 jahren eine ganze lokalseite zur dokumentation dieses vorganges nutzt - und am mahnmal vor dem bielefelder hauptbahnhof heute die namen von 103 deportierten aus bielefeld verlesen werden - es gab keine überlebenden. und vorgelesen werden auch die postkarten-texte dieser menschen, die sie während dieser fahrt in die ungewissheit und letztendlich in den tod an ihre lieben schrieben - erstmals beteiligt sich auch an dieser gedenkveranstaltung ein muslimischer verein, die "kreuzberger initiative gegen antisemitismus und islamfeindlichkeit" bielefeld (kgia).

das können dann hoffentlich auch viele schüler mitnehmen in den ferienstart in ein paar tagen - und vielleicht selbst mittels smart- oder i-phone oder tablet recherchieren, was mindestens genauso spannend und lehrreich ist als irgendein buntes 3-d-spiel, das auf dem display rauf und runter blinkt.

nein, wir dürfen uns nicht "fremd" stellen, wie christa wolf das ausgedrückt hat, wir dürfen uns nicht davon "abtrennen" oder es gar vergessen. wir sind es den opfern und ihrer würde auch nach 77 jahren immer noch und weiter bis in die zukunft schuldig, diese verirrungen eines ganzen volkes an sich herankommen zu lassen und zu durchleben: diese fast 18 stündige bahnfahrt zwischen hoffen und bangen  und dann der todesgewissheit für 1604 kilometer schienenstrecke, mit all den stationen und zusteige-halts: "wieder besteigen hunderte gefährten diesen unendlich langen zug", wie frau lieber das auf ihrer postkarte schreibt: "der menschheit ganzer jammer ist zu sehen" ... - das noch von wegen "vogelsch...".
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update:




















Gegen das Vergessen: Rund 80 Bielefelder erinnerten vor dem Hauptbahnhof an die Deportierten vom 10. Juli 1942. Martin Decker (Friedensgruppe) steht hier am Rednerpult. Foto: Mike-Dennis Müller | NW

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