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das erinnern erneuern


Die Erinnerungskultur erneuern

Der Historiker Martin Sabrow fordert: Jetzt muss Nüchternheit Emphase ersetzen. Die Gesellschaft soll der Versuchung widerstehen, den Wertehimmel unserer Zeit auf die Vergangenheit zu projizieren

Die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist in unserer Generation zu einem hohen Gut der nationalen Selbstverständigung geworden. Theodor Adornos Forderung an eine gelingende Aufarbeitung 1959, „dass man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewusstsein“, kann in der Gegenwart für erfüllt angesehen werden. 

Heute gilt ein parteiübergreifender Konsens des liberaldemokratischen Spektrums, dass die fortdauernde Auseinandersetzung mit der historischen Schuld zweier Diktaturen einen Grundpfeiler des bundesdeutschen Selbstverständnisses bilde.

Die seit den 1980er Jahren entstandenen Geschichtsmuseen in der Bundesrepublik blenden die furchtbare Vergangenheit nicht aus, sondern beziehen sie ein. Die bei Adorno noch vor allem gegen den Staat und das staatlich verantwortete Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie gerichtete Bewältigungsforderung hat sich zum Handlungsziel für den Staat entwickelt. Adornos bittere Erfahrung, „im Hause des Henkers soll man nicht vom Strick reden; sonst hat man Ressentiment“, hat nicht nur an Gültigkeit verloren, sie ist in ihr Gegenteil umgeschlagen, wenn der damalige Bundespräsident Joachim Gauck zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz feststellte: „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.“

Auch die Auseinandersetzung mit der zweiten deutschen Diktatur des 20. Jahrhunderts vollzieht sich nicht im Schatten der deutschen Geschichtskultur, sondern unter immer weiter steigender medialer und geschichtspolitischer Aufmerksamkeit. Dies lässt sich eindrucksvoll an der Erinnerungskonkurrenz des 9. Novembers ablesen, der in den vergangenen 30 Jahren zum heimlichen deutschen Nationalfeiertag der deutschen Gesellschaft aufgestiegen ist. Alles gut also?

Nein, nichts ist gut, wie in jüngerer Zeit wieder so schmerzhaft zu erfahren war. Fast hilflos steht die Mehrheitsgesellschaft vor den Konsensverletzungen, die die Karriere des Rechtspopulismus als Massenphänomen auf der Straße und als politische Kraft in den deutschen und europäischen Parlamenten mit sich gebracht haben.

Der Raum des Sag- und Denkbaren und die Orientierungsmarken der gesellschaftlichen Debatte haben sich nicht nur in dramatischer Weise nach rechts geöffnet und die Schleusen eines längst überwunden geglaubten Vergangenheitsdiskurses geöffnet, sie hat auch all diejenigen in die Defensive gedrängt, die sich immer wieder über neurechte Tabubrüche empören und selbst damit noch einem identitären und geschichtsrevisionistischen Denkstil in die Hände spielen, dessen ganzes Programm die bloße Provokation ist.

Wenn jeder vierte Wähler in einem Land, in dem die NSDAP 1930 ihre erste Regierungsbeteiligung erreichte, bei den jüngsten Landtagwahlen in Thüringen seine Stimme einer Partei gab, deren dezidiert rechtsextrem auftretender Spitzenkandidat ungeniert mit seiner politischen Nähe zum Nationalsozialismus kokettiert, dann wird die Frage unvermeidlich, was die Geschichtskultur wert ist, auf deren Geltungskraft wir uns so gern berufen.

Um sie zu beantworten, tut die Erkenntnis not, dass die kritische und selbstkritische Vergangenheitsaufarbeitung nicht allein von außen in Frage gestellt wird, sondern auch in eine innere Krise geraten ist. Vier Herausforderungen stechen dabei hervor.
Es macht einen Unterschied, ob Erinnerung mittelbar oder unmittelbar tradiert wird, ob sie von Menschen überliefert wird oder allein in Texten und Bildern.
  • Die erste ergibt sich aus dem Verlust an Unmittelbarkeit, der mit dem wachsenden Zeitabstand vom 20. Jahrhundert der Extreme einhergeht. Es macht einen Unterschied, ob Erinnerung mittelbar oder unmittelbar tradiert wird, ob sie von Menschen überliefert wird oder allein in Texten und Bildern. Die Epoche der Aufarbeitung war die Epoche der Zeitzeugen, die Auskunft im Geschichtsunterricht gaben, die auf Gedenkveranstaltungen sprachen und Dokudramen beglaubigten: Zeitzeugen in der Diktaturaufarbeitung stillten die Sehnsucht nach der Begegnung mit einer Vergangenheit, die man sich nicht zurückwünschte, und die Aura ihrer Authentizität bestand darin, dass sie das Geschehen von gestern mit den moralischen Maßstäben von heute fassbar machten. Welche Lücke das Verstummen der Zeitzeugen und das Ende der Ära der Unmittelbarkeit reißt, lehrt das angestrengte, aufwendige und oft teure Bemühen um die „authentische“ Rekonstruktion von Orten diktatorischer Herrschaftsinszenierung. Billiger sind virtuelle Zeitzeugen, also die visuelle und akustische Aufzeichnung von Lebenserinnerungen Holocaust-Überlebender, die im Projekt „New Dimensions in Testimony“ der Shoah Foundation auf höchstem technischem Standard digital so aufbereitet werden, dass sie als 3D-Hologramm-Interviewpartner zur Verfügung stehen. Was wie bloße Spielerei aussieht, löst in der Weiterentwicklung die Aura des Zeitzeugen von der lebenden Person und lässt die materielle Realität in der digitalen aufgehen; aber dem digitalen Konstrukt fehlt die Aura des Authentischen und damit das magische Moment, das Menschen in Ausstellungen und an historische Orte treibt.
Aufarbeitung verspricht permanent eine Versöhnung, die sie nicht einlösen kann, weil sie das Schuldbekenntnis nicht mit Vergessen vergelten kann. 
  • Eine Wirkungsbeschränkung anderer Art steckt im Konzept der Aufarbeitung selbst. In der Tiefenpsychologie gilt das erinnernde Durcharbeiten als Schritt zur endgültigen Heilung mit dem Ziel des psychischen Überwindens und Loslassens. Im gesellschaftlichen Aufarbeitungsdiskurs hingegen ist nicht das Loslassen das Ziel, sondern die fortwährende Auseinandersetzung. Die Idee der Aufarbeitung fußt auf einer prinzipiellen Unabschließbarkeit, die ihrer gleichermaßen fundamentalen Vergebungsbereitschaft zuwiderläuft. Anders gesagt: Aufarbeitung verspricht permanent eine Versöhnung, die sie nicht einlösen kann, weil sie das Schuldbekenntnis nicht mit Vergessen vergelten kann.
Das Projekt der historischen Aufklärungist zur Routine einer historischen Selbstbestätigung geworden, die aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht mehr unbequeme und womöglich unwillkommene Erkenntnisse zieht, sondern vertraute Bilder immer wieder reproduziert und ritualisiert. 
  • Eine dritte Problemzone lässt sich schlagwortartig als Umschlag von Aufklärung in Affirmation überschreiben. Im selben Maß, in dem der opferzentrierte Aufarbeitungskonsens zum selbstverständlichen Fundament unserer politischen Kultur wurde, hat er begonnen, sein aufrüttelndes und tabubrechendes Potenzial einzubüßen: 93 Prozent aller 2018 befragten Deutschen im Alter von 16 bis 92 Jahren halten die Erinnerung an die Vernichtung von Menschen in Konzentrationslagern für einen wichtigen oder den wichtigsten Inhalt des Geschichtsunterrichts. Mit dem Sieg der schmerzhaften Aufarbeitung über die bequeme Verdrängung hat sich der Anspruch auf kritische Bewältigung der Vergangenheit in die Realität einer historischen Legitimation der Gegenwart zu verwandeln begonnen. Das Projekt der historischen Aufklärung ist zur Routine einer historischen Selbstbestätigung geworden, die aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht mehr unbequeme und womöglich unwillkommene Erkenntnisse zieht, sondern vertraute Bilder immer wieder reproduziert und ritualisiert. Die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch hat sich zu einer Ästhetik des Grauens entwickelt, von der KZ-Souvenirs und Auschwitz-Selfies zeugen. Auch das Holocaust-Mahnmal in der Mitte Berlins ist eine Touristenattraktion, die für Erschütterung und Entspannung gleichermaßen zur Verfügung steht.
Auch in Deutschland verwandelt sich kritische Distanz in vereinnahmenden Repräsentationsanspruch
  • Ein viertes Krisenphänomen bildet die zunehmende Ersetzung von Distanz durch Identifikation. Wie stark Geschichte als Identitätsressource beansprucht wird, lehren nicht nur Länder wie die Türkei, die seit 2007 gesetzlich verbietet, „Geschichte und die gemeinsame Vergangenheit des türkischen Volkes beleidigen“, oder Polen, dessen „Holocaust-Gesetz“ Termini wie „polnische Vernichtungslager“ ebenso kriminalisiert wie die Behauptung einer polnischen Mitverantwortung für NS-Verbrechen. Auch in Deutschland verwandelt sich kritische Distanz in vereinnahmenden Repräsentationsanspruch, wenn etwa im Konflikt um das Jüdische Museum in Berlin und den Rücktritt seines angeblich anti-israelisch eingestellten Direktors Peter Schäfer 2019 aus dem Blick geriet, dass das Museum sich ungeachtet seines Namens seit der Gründung nicht als ein jüdisches Museum, sondern als Museum über Juden verstand. Aus der Bürgergesellschaft wiederum erheben sich immer wieder Stimmen, die historisch tradierte Sichtachsen identitätspolitisch zu verändern verlangen. Im Streben nach Entmilitarisierung und Dekolonisierung des öffentlichen Raums sind Hindenburgstraßen und Carl-Peters- Plätze zu einem Konfliktfeld geworden, in dem Tradition und Benennungszusammenhang immer stärker dem Anspruch auf Identitätsschutz zu weichen haben. Nicht anders ergeht es Mohren-Apotheken und Mohren-Hotels, die vergeblich darauf pochen, seit Hunderten von Jahren so zu heißen, sondern mit dem Argument entwaffnet werden, dass egal sei, wie es einmal gemeint war oder wie Historiker das einordnen; wichtig sei, wie sich die betroffene Menschengruppe heute dabei fühlt. Die Krise des Allgemeinen ist auch eine Krise des Historischen. Sie nimmt der Vergangenheit ihr Eigenrecht und macht sie zur Projektionsfläche von konkurrierenden Zugehörigkeitsansprüchen, die gleichermaßen Identität über Historizität stellen.
...keine Rückkehr zum Vergessen 
und Verdrängen,
wohl aber einen Übergang 
zu einer Form der Auseinandersetzung 
mit historischem Unrecht 
und historischer Fehlentwicklung, 
die aufklärerische Emphase gegen 
historiografische Nüchternheit eintauscht.

Unser Umgang mit der Vergangenheit ist im Wandel begriffen. Die Erinnerungskultur, wie wir sie kennen, war in starkem Maße ein Generationsprojekt. Sie hat einen beispiellosen Siegeszug erlebt, aber sie ist mittlerweile von der Offensive in die Defensive gerutscht. Die geglaubte Sicherheit, dass die deutsche Gesellschaft aus ihrer unheilvollen Vergangenheit gelernt habe, ist einer neuen Ungewissheit gewichen. Der Abschied von der Aufarbeitung als Epoche bedeutet keine Rückkehr zum Vergessen und Verdrängen, wohl aber einen Übergang zu einer Form der Auseinandersetzung mit historischem Unrecht und historischer Fehlentwicklung, die aufklärerische Emphase gegen historiografische Nüchternheit eintauscht. Die Geschichtsschreibung in der Zeit nach der Aufarbeitung muss sich gegen geschichtsrevisionistische Umdeutungen zur Wehr setzen, und sie muss zugleich ihre Stimme gegen die Versuchung erheben, den Wertehimmel unserer Zeit auf die Vergangenheit zu projizieren. 

Und sie muss den eigentümlichen Schulterschluss von Gedenkpolitik, Geschichtskultur und Fachwissenschaft neu reflektieren, der der Berliner Republik so selbstverständlich scheint. Wenn sie es aber tut, kann die Arbeit an der Geschichte darauf vertrauen, dass die drängenden Herausforderungen der heutigen Erinnerungskultur nicht nur eine Krise bedeuten, sondern auch eine Chance.
  • Professor Martin Sabrow ist Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam.


aus: DER TAGESSPIEGEL Nr. 24 075, SONNTAG 26. Januar 2020, Beilage "NIE WIEDER", S. B7

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tja - das spüre ich inzwischen an meiner fast 40-jährigen arbeit hier vor ort zur aufarbeitung des "euthanasie"-mordprotokolls zu meiner tante erna kronshage auch: dass es nämlich zeit- und epochenabhängige aber auch persönliche innerpsychische wandlungen von "er-innerung" und "gedenken" gibt, wobei es aber "keine Rückkehr zum Vergessen und Verdrängen [geben darf], wohl aber einen Übergang zu einer Form der Auseinandersetzung mit historischem Unrecht und historischer Fehlentwicklung, die aufklärerische Emphase gegen historiografische Nüchternheit eintauscht."

für mich in meinem verständnis und in meinem praktischen alltags-umgang "übersetzt" bedeutet das, dass ich mich wohl weiterhin "empören" darf und das psychohygienisch auch muss, dass aber vor lauter abscheu und empörung "nicht der mund übergeht, wess das 'herz' voll ist" ...

in diesem zusammenhang sehe ich auch die zur zeit immer noch vereinzelt stattfindenden "prozesse" gegen "kleine" wachsoldaten in den kz's, die damals 16-/17 jahre alt waren, und direkt aus dem arbeitsdienst mitmachen mussten oder mitgemacht haben, weil es auch keine "lehre" oder "arbeit" anderweitig zu dem zeitpunkt gab - und die heute, weit in die 90, angeklagt sind wegen "beihilfe zum x-tausendfachen mord im kz xy", wo sie wachaufgaben erfüllen mussten und befehlen folge leisten - "führer befiehl - wir folgen", war ja das einzige was sie bisher gelernt hatten - und mit ihnen zig millionen deutsche auch, die nicht wegen "beihilfe" heutzutage mehr belangt werden, obwohl sie mehr oder minder diesen "tatbestand" sicherlich auch erfüllt haben - deutschland ist das tätervolk, und bis auf ein paar wenige waren alle damals mit verstrickt in irgendeiner weise und leisteten zumindest "beihilfe" - als denunzianten, als "heil-hitler"-rufer, als uniformträger, als blockwarte, als soldaten, als fürsorgerinnen, als ärzte und schwestern, als pfarrer innerhalb der sogenannten "deutschen christen", als lehrer, als chefs von unternehmen oder großbauern, die zwangsarbeiter beschäftigten und ausbeuteten usw. usf.... 

das sind für mich heuzutage falsch laufende und viel zu spät einsetzende reflexe der staatsanwaltschaften und der justiz und der politik, die meines erachtens dringend geboten einer "historiografischen nüchternheit" bedürfen.

schon vor ein paar jahren habe ich zum mordkomplex meiner tante festgestellt, dass es "den mörder" oder "die mörderin" zu ihrem gewaltsamen tod nicht geben kann, dass es sich um eine konglomerats-kette von immer schiefer und aus dem ruder verlaufenden schlägen und irrtümern handelt, die ich heute im nachhinein zwar konstatieren und erkennen, aber auch achselzuckend zur kenntnis nehmen muss, die sich aber im ns-zeitgeist des "damals" in diesem einzelfall so und nicht anders ergeben haben - und das alles war getragen von nach heutigen maßstäben wissenschaftlich begründeten falscheinschätzungen und dazu erlassenen durchsetzungs-gesetzgebungen, schlichten irrtümern, kriegswirren - ungleiche, gestörte, zumeist vertikale und nicht gelingende kommunikation, die zumeist nicht im miteinander sondern nur als massenkommunikation (radio per "volks-empfänger") stattfand - familiäre, nachbarschaftliche und amtliche fehleinschätzungen und denunziationen (nach heutiger beurteilung).

das führt dann eben 80 jahre später auch zu der spannenden und doch makaberen aber auch irgendwo resignierenden fragestellung, ob die menschen, die wegen (gezielter?) lebensmittel-unterversorgung verhungert sind - und die, deren hungertod gezielt durch nahrungsentzug bei ausreichender lokaler versorgungslage bewusst und vorsätzlich herbeigeführt wurde - wer davon jeweils zu den "euthanasie"-toten hinzuzurechnen ist, oder ... 
das sind für mich "unentscheidbare" fragestellungen, die eigentlich in sich schon etwas "verrückt" sind, aber eben der auseinandersetzung mit dieser "verrückten" zeit entspringen können.

in den jahren 1933-1945 hat dieses "deutsche reich" aufgestachelt und propagandistisch verblendet als kollektiv meiner meinung nach im massenwahn und in der massenhaften hysterie verharrt - und nur wenige konnten sich dagegen wehren oder durch flucht entziehen, ansonsten wurden sie wie auch immer mit hereingerissen in diesen strudel und auf diese immer schiefer sich neigenden ebene.

wir müssen diesen gesellschafts-pathologischen zustand individuell, in der familie, in der region und im land immer wieder gründlich aufarbeiten und verstrickungen versuchen nachzugehen und so aufzuzeigen, damit sich mechanismen abzeichnen und gegenkräfte dazu entwickeln können, innerpsychisch und gesellschaftlich und politisch, damit so etwas unterbunden bleibt. und das geschieht auf keinen fall mit "ad-acta-legen" oder herunterspielen, das gelingt nur mit umfassender, auch familiär erzieherischer, schulischer und universitärer prophylaxe, die nicht nur von außen durch fachbuch und seminar und "zeitzeugen" authentisch wachsen kann - da muss auch bei jedem einzelnen von kindauf die persönliche ethische richtschnur immer wieder neu kalibriert werden - zu einem gesunden resilienz-vermögen.

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