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Generationale Abspaltungen

Das öffentliche und das private Gedenken unterscheiden sich stark, sagt Samuel Salzborn. FOTO: REUTERS



Antisemitismus und Erinnerungskultur

Die größte Lüge der Bundesrepublik

Die deutsche Erinnerungspolitik hält sich für vorbildlich. Der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn erklärt die gelungene Aufarbeitung der NS-Verbrechen zum Mythos. 

VON CHRISTOPH DAVID PIORKOWSKI | TAGESSPIEGEL

Die Überzeugung, erinnerungspolitischer Weltmeister zu sein, ist ein zentrales Motiv der gegenwartsdeutschen Selbsterzählung. Zuweilen scheint es, als sei die einstige Wahnvorstellung rassischer Überlegenheit dem Glauben an eine moralische Überlegenheit gewichen. Die vermeintlich vorbildliche Vergangenheitsbewältigung legen sich Teile der deutschen Gesellschaft als Zeugnis kultureller Fortschrittlichkeit aus. 

Wie zuletzt der Essayist Max Czollek gezeigt hat, ist es dabei zur gängigen Praxis geworden, sich auf der vielbespielten Bühne des Erinnerungstheaters am Ritus kollektiver Läuterung zu laben.

Dass es mit dem Mythos einer schonungslosen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen nicht so weit her ist, wie es die einschlägigen Debatten nahelegen, unterstreicht der Berliner Politikwissenschaftler Samuel Salzborn nun mit seinem neuen Werk „Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern“. 

Öffentliche vs. private Erinnerung

In einem pointierten Essay bündelt Salzborn zentrale Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen und historischen Antisemitismusforschung. Ausgangsthese des Werks ist, dass sich der erinnerungspolitische Diskurs der Deutschen (und der Österreicher) durch eine einschneidende Kluft definiert: Hier das Gedenken im öffentlichen Raum, dort die Leugnung im Privaten.

Das Narrativ einer tatsächlichen Aufarbeitung des Holocaust sei nicht weniger als „die größte Lüge der Bundesrepublik“. Salzborn zufolge glaubt eine kleine, linksliberale Elite, ihr intellektueller Erinnerungsdiskurs durchdringe die Gesellschaft im Ganzen.

Tatsächlich aber bestimmten Schuldabwehr und oftmals latenter Antisemitismus den psychischen Haushalt des Tätervolks. Die Metastasen von verdrängter Schuld und verdrängtem Antisemitismus manifestieren sich in einer unversöhnlichen „Israelkritik“, die durch die aus der Antisemitismusforschung bekannten drei D’s – Dämonisierung, Delegitimierung und doppelte Standards – geprägt ist.

Verkappte Antisemiten aller politischen Richtungen und gesellschaftlichen Milieus könnten ihr verschwiemeltes Ressentiment so ins schmückende Gewand der Solidarität mit den Palästinensern kleiden.

Die Schuld der Vorfahren wird verdrängt

Das große Problem ist Salzborn zufolge, dass man in Deutschland zwar gemeinhin die Verbrechen der Nazis anerkennt, die eigenen Verwandten und die „gewöhnlichen Deutschen“ jedoch oftmals amnestiert werden. Diese Unschuldsvermutung aber offenbare sich aufgrund „der antisemitischen Täterschaft in so gut wie allen Familiengeschichten der Bundesrepublik“ bei näherer Betrachtung als Lügengespinst. 

So hat die Geschichtswissenschaft die tiefe Verstrickung weitester Teile der deutschen Gesellschaft in den Komplex der Enteignung, Entrechtung und Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden schon lange umfänglich belegt.

Das Verdrängen familiärer Schuldhaftigkeit macht Salzborn dabei an diversen sozialwissenschaftlichen Studien aus Gegenwart und jüngerer Vergangenheit fest. Schon 2002 zeigte die familienbiografische Studie „Opa war kein Nazi“ von Harald Walzer, Sabine Müller und Karoline Tschungnall wie zahlreiche Deutsche ihre Tätervorfahren in Opfer oder Widerstandskämpfer umdefinieren.

Selbstviktimisierung

Den gängigen Schätzungen zufolge liegt der Anteil derjenigen, die potenziellen NS-Opfern geholfen haben bei 0,3 Prozent, was etwa 200 000 Menschen entspricht. Die Memo-Studie 2019 des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft zeigt jedoch, dass etwa 28,7 Prozent der Deutschen ihren Vorfahren eine Helfer-Vita andichten. 69,8 Prozent glauben, ihre Vorfahren seien nicht unter den Tätern gewesen. Und 35,9 Prozent erklären ihre Angehörigen gar zu Opfern.

Der psychische Abwehrmechanismus der „Selbstviktimisierung“, den Margarete und Alexander Mitscherlich 1967 in ihrem bahnbrechenden Werk „Die Unfähigkeit zu trauern“ sezierten, setzte Salzborn zufolge in beiden deutschen Teilstaaten unmittelbar nach ihrer Gründung ein. 

In den oft jeden historischen Kontext verleugnenden Debatten um deutsche Flüchtlinge oder Bombenopfer in Dresden und in Filmen wie „Die Gustloff“ und „Der Untergang“ sieht Salzborn den Opfermythos nach wie vor am Werk. Dass etwa die späteren Flüchtlinge an der völkischen Germanisierungspolitik einen gehörigen Anteil hatten, und demnach nicht von ungefähr vertrieben wurden, werde häufig verleugnet. Die Shoah erscheine dabei im postmodernen Nebel einer allgemeinen Gewaltkritik als eine Katastrophe unter vielen.

Täter-Opfer-Umkehr

Juden wiederum wird vorgeworfen, den Finger konstant in die Wunde zu legen. Anstatt sich mit den konkreten Taten der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern zu befassen, werden die Opfer und ihre Nachfahren dafür gescholten, die Schuld-Erinnerung wachzuhalten. 

Nach einer Studie der Anti-Defamation League von 2019 waren 42 Prozent der Deutschen der Meinung, Juden würden zu viel über den Holocaust sprechen. Solche Zahlen und die darin anklingenden Schlussstrichforderungen, zeigen wie wichtig dieses Sprechen doch ist. Folgt man Salborns Analyse, sind die revisionistischen Forderungen vieler AfD-Politiker und anderer Neo-Faschisten schließlich im Schoß einer Gesellschaft gewachsen, die sich ihre kollektive Unschuld erschwindelt.

  • Samuel Salzborn: Kollektive Unschuld: Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern. Hentrich und Hentrich Verlag Berlin 2020, 136 Seiten, 15 Euro.
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Der sicherlich umstrittene Historiker Götz Aly hat schon 2013 in einem SPIEGEL-Gespräch aber sicherlich zutreffend errechnet, dass ungefähr jeder achte erwachsene Deutsche direkt mit Jemanden verwandt sei, der in die NS-Krankenmorde, der "Euthanasie", in irgendeinerweise verstrickt sei.

Und wenn man die angeheirateten Verwandten dazunehme, würde fast jeder in seiner Familie in den Generationen zurück jemand Beteiligten ausfindig machen können - seitens der Täter oder Opfer.

In den meisten Familien aber würde bis heute nicht darüber gesprochen - auch wenn immer mehr öffentliche Gedenkstätten und Erinnerunsorte und Stolpersteine zugänglich sind und offizielle Gedenkveranstaltungen dazu abgehalten werden.

Die Ermordeten sind in den Familien selbst oft schlichtweg vergessen - und ob jemand aktiv in die Krankenmorde mit involviert war, wird ausgeblendet und verdrängt und abgespalten.

(Das SPIEGEL-Gespräch mit Aly fand am 22.04.2013 statt.)

Diese Überlegungen zeigen, dass die oben im Artikel beschriebenen Verdrängungsmechanismen zur "Shoah" und zum "Holocaust" auch 1:1 übertragbar sind für auf die Aufarbeitung der NS-"Euthanasie"-Mordschicksale.

Solche Vorkommnisse in der eigenen Familie, sowohl bei (Mit-)Tätern und Opfern, werden verleugnet, ausgeblendet und immer noch - auch 80 Jahre danach - verdrängt, oder sind tatsächlich inzwischen "vergessen" und aus der Familien-"Gene" getilgt.

Und das war ja auch das Ziel der Rassenpolitik und all dieser darauf fußenden konzertierten Mord-Aktionen der allermeisten involvierten deutschen Nazis (9 Millionen waren aktive Mitglieder der NSDAP) und deren verblendete weit verbreitete Mitläufer in den Jahren 1933-1945:

"Das Vergessen der Vernichtung
 ist Teil 
 der Vernichtung selbst"

so hat es Harald Welzer in Anlehnung an Jean Baudrillard allerdings erst in unseren Tagen formuliert: Das Vergessen des Grauens ist von den Ideologen und Tätern im damaligen faschistischen System zumindest implizit mitgedacht und haargenau kalkuliert mit geplant und einkalkuliert worden - das war quasi Sinn der Vernichtungsaktionen: Vollständige und totale "Ausmerze" und konsequentes restloses "Niederführen" - diese faschistischen Unworte schließen ja eine endgültige "Tilgung" mit ein - zur erbbiologischen "Gesundung" des "deutschen Volkskörpers"...



Enthüllungen mit Fehlfarben



Münchener Strafjustizzentrum

Relief zum NSU-Prozess enthüllt

Künstler Sebastian Jung hat am Strafjustizzentrum in München ein Werk enthüllt: Das Relief setzt sich mit dem NSU-Prozess auseinander und basiert auf Zeichnungen, die der Künstler im Gerichtssaal machte.

youtube-Video & Text: faz.net

na klar - über "kunst" lässt sich bekanntlich streiten: das ganze sieht für mich aus wie eine brave abschlussarbeit im werkunterricht der 8. jahrgangsstufe: unspektakuläre geistersilhouetten in- und aufeinandereinander angedeutet: die versammlung einer geisterstunde vielleicht -

und ich bekomme eine geruchsassoziation nicht aus meinem riechsinn, die für mich über diese szene sanft dahinzuwogen scheint: der blaue duft kubanischer zigarren der teureren sorte: die, die einzeln in silbernen alu-schraub- oder steckröhrchen angeboten werden - und die gerhard schröder immer von der gazprom als lobbyistengeschenk mitgebracht hat - wenn du verstehst was ich meine ...

und irgendwie hat man hier die erst heute gängigen mundnasen-abdeckmasken zur derzeitigen coronakrise wie von selbst gleich mit eingearbeitet, wenigstens verlieren sich die angedeuteten geistergesichter unter den beiden augenpunkteinbohrungen jeweils im nichts - wie in einer karikatur ... - und wie heutzutage eben in jedem kaufhaus und wahrscheinlich auch in jedem gerichtssaal: beim nach dem seuchengesetz angeordneten "masketragen".

aber dieses in diesem werk angedeutete "masketragen" wiederum führt dann die gesamtaussage dieses reliefs tatsächlich doch noch auf den bodensatz einer tiefgründigeren  bedeutungsschwangeren aussage-ebene: ja - genauso - wie hinter mund-/nasenmasken fand dieser nsu-prozess all die jahre seiner unendlichen zähen dauer statt - mit seinem langatmigen "auf-die-stelle-treten" führt er hier für mich zur wahrscheinlich ungewollt in szene gebrachten abstraktion der jeweiligen prozess-teilnehmerfiguren, denn jedes be-maskierte geistergesicht fasst irgendwie auch diese altbekannten aussageattribute der berühmten "drei affen"
zusammen, die sich jeweils augen, ohren und mund zuhalten und bedecken: nichts hören, nichts sagen, nichts sehen: der prozess der stummen und tauben und blinden geister, die ziellos den jeweiligen betrachter fixieren - und auch zum beschweigen, erblinden und ertauben bringen.

ich weiß nicht, ob ich das unter diesen umständen tatsächlich richtig sehe: aber das relief-material scheint im video wie eine preiswertere grobstrukturierte holzspanplatte - und wenn das tatsächlich so ist, wird sie nicht mal die zeitdauerdistanz des prozesses überstehen und an ihn erinnern können - und schon vorher dann an altersschwäche zergehen. 

aber gut, dass wir mal wieder - nichtssagend - "deutsche erinnerungskultur" so gekonnt in szene gesetzt haben - und sogar im f.a.z.-feuilleton: das ist ja schon fast der gipfel ...


Denkmaler stürzen?

Interview
Historikerin zu Kolonial-Denkmälern 
"Debattieren, nicht stürzen"

Die Bielefelder Historikerin Christina Morina hält nichts davon, zweifelhafte Denkmäler einfach zu stürzen. Sie plädiert dafür, diese mit Informationen zu umrahmen.

Von Stefan Brams | NW

Auch das Otto-von-Bismarck-Denkmal in Hamburg wurde beschmiert. Bismarck wird rassistische Kolonialpolitik vorgeworfen. | © Jonas Klüter | NW


Frau Morina, in den USA, in Großbritannien und Belgien wurden in den Tagen nach der Ermordung von George Floyd immer wieder Denkmäler von Persönlichkeiten aus der Kolonialzeit gestürzt oder beschmutzt. Hat Sie diese Entwicklung überrascht?

Christina Morina: Bewegungen, die eine nachhaltige, fast schon revolutionäre Kraft entfalten wie jetzt in den USA, greifen oft gerade Symbole des alten Systems an, um durch deren Zerstörung den Umsturz auch bildlich sichtbar zu machen. Das können wir in vielen Epochen beobachten, daher ist das, was wir in den USA und auch in anderen Ländern gerade erleben, historisch gesehen nichts Überraschendes.

Wie bewerten Sie diese Aktionen?

Morina: Als Phänomen finde ich sie absolut nachvollziehbar. Als politischen Akt halte ich diese Aktionen für nicht wirklich sinnvoll, denn mit dem Verschwinden der Denkmäler verschwindet ja das Problem nicht – in diesem Fall der Rassismus. Ich halte es für angemessener, zweifelhafte Denkmäler im sprichwörtlichen und buchstäblichen Sinne von ihren Sockeln zu holen, sie neben diese zu stellen, neu einzurahmen und zu kommentieren. Und wenn es um heute von Menschen als offen verletzend wahrgenommene Objekte geht, dann gehören sie ins Museum, um dort ihren Kontext umfassender aufklären zu können. Aber ich halte nichts davon, die Denkmäler einfach zu zerstören.

Die Initiative „Berlin Postkolonial" spricht sich wie Sie gegen den Denkmalsturz aus und regt stattdessen an, Künstler die Denkmale verfremden oder durch die Kunst brechen zu lassen. Auch ein Ansatz für Sie?

Morina: Künstlerinnen und Künstler einzubeziehen, ist sicherlich ein zusätzlicher Ansatz, wobei die Kunst die nötige inhaltliche und gesellschaftliche Auseinandersetzung freilich nicht ersetzen, sondern diese spiegeln und ergänzen kann. Solche Debatten müssen umfassend und multiperspektivisch geführt werden – politisch, historisch, institutionell und gesellschaftlich.

Oft ist die Geschichte, die sich hinter einem Denkmal verbirgt, sehr komplex. Wollen Sie alle zweifelhaften Werke ins Museum bringen, um umfassend aufklären zu können?

Morina: Nein, es reicht oft schon, wenn man im Umfeld des Denkmals darüber aufklärt, dass sich hinter dieser Ehrung individuelles und staatliches Unrecht verbirgt, das nun hinterfragt und als solches anerkannt wird. So wird sichtbar, dass der Umgang mit der Vergangenheit ein lebendiger, wandelbarer Prozess ist, der die Gesellschaft immer wieder neu herausfordert.

Wann kann denn ein Denkmal auf keinen Fall stehen bleiben?

Morina: Generelle Grenzen zu ziehen, ist schwer. Wenn aber ein Symbol gegen das Grundgesetz und die freiheitlich-demokratische Grundordnung verstößt, dann hat es im öffentlichen Raum nichts zu suchen und gehört höchstens ins Museum. Aber es gibt eben auch Grauzonen wie das Karl-Marx-Denkmal in Trier, das die chinesische Regierung gestiftet hat, oder das jetzt gerade von der MLPD in Gelsenkirchen aufgestellte Lenin-Denkmal. Auch über diese gehen die Meinungen weit auseinander. Umfassend zu thematisieren, wofür diese Denkmäler stehen, warum sie an einem bestimmten Ort stehen und wer sie gestiftet hat, sind Voraussetzungen dafür, dass sie Akzeptanz finden. Eine Gesellschaft sollte in jedem einzelnen Fall transparent aushandeln, warum ein Denkmal aufgestellt und wem eines gewidmet wird.

Die Zivilgesellschaft ist also gefragt?

Morina: Ja, aber nicht nur sie. Auch Politik, Behörden, Bürgerschaft einer Stadt, Unternehmen, Schulen und Universitäten sollten einbezogen sein. Denkmäler sollten Orte lebendiger Auseinandersetzung sein.

In vielen deutschen Städten stehen Bismarck-Denkmäler so auch in Bielefeld. Hier hat die Antifa gefordert, es zu beseitigen, weil Bismarck für die blutige deutsche Kolonialpolitik stehe. Andere verweisen dagegen auf seine Verdienste zum Beispiel in der Sozialgesetzgebung und der Einigung des Deutschen Reiches. Was tun mit zwiespältigen Persönlichkeiten wie ihm?

Morina: Das ist ein wichtiger Punkt. Geehrte sind oft zwiespältige Persönlichkeiten. Und den ihnen gewidmeten Denkmälern ist stets das Denken der Zeit eingeschrieben, in der sie jeweils entstanden. Wir sollten die Vielschichtigkeit der Personen und Denkmäler offen diskutieren und nicht das Denkmal ersatzlos entfernen, denn das beendet ja die Debatte in gewisser Weise. Dass diese nun auch in Bezug auf den deutschen Kolonialismus öffentlich noch stärker in Gang kommt, ist nur zu begrüßen, denn sie war hierzulande viel zu lange viel zu wenig geführt worden.

Warum ist die Debatte über den deutschen Kolonialismus bisher viel weniger intensiv betrieben worden als die über unsere NS-Vergangenheit? Auch damals wurden vom Deutschen Reich bereits Völkermorde begangen.

Morina: Ich denke, dass die NS-Verbrechen teilweise sicher die Verbrechen der Kolonialgeschichte so sehr überlagert haben, dass sie dadurch lange im Hintergrund blieben. Es ist dennoch denk- und kritikwürdig, dass die Folgen der deutschen Kolonialpolitik bei uns viel länger unbeachtet blieben als in anderen Ländern. Aber die Chance zur stärkeren öffentlichen Auseinandersetzung, zur Intensivierung und vor allem auch Wahrnehmung der wissenschaftlichen Forschung ist jetzt da.

Debattiert wird nicht nur über den Umgang mit Denkmälern, sondern auch, wie man mit Denkern wie zum Beispiel Immanuel Kant umgehen sollte, der ja auch einige rassistische Schriften verfasst hat wie „Von den verschiedenen Rassen der Menschen", „Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse" oder „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht". Gehört er auch vom Sockel gestürzt?

Morina: Diese Seite Kants wird ja schon länger thematisiert. Er ist eben nicht nur der große Moralphilosoph, sondern auch einer der Wegbereiter moderner Rassentheorien. Ich halte aber nichts davon, ihn deshalb einfach aus dem Aufklärungskanon zu werfen. Eher müssen wir zu einem Perspektivenwechsel bereit sein und uns viel stärker zum Beispiel der Frage stellen, was es mit Menschen damals und seither machte, die in seinen Schriften einer vermeintlich minderwertigen „Rasse" zugeordnet wurden, und wie sie darauf reagierten. Wir müssen die eurozentrische und diesem rassistischen Denken immer noch stark verbundene Perspektive auf unseren Kanon aufgeben. Da stehen wir noch ganz am Anfang.

Brauchen wir überhaupt noch Denkmäler?

Morina: Ja, denn auch über Denkmäler vergewissern sich Gesellschaften ihrer selbst, sie sagen viel darüber aus, wie sie verfasst sind und wahrgenommen werden wollen. Oft sind Debatten über Denkmäler in einer freien Gesellschaft ungeheuer spannend. Manchmal ist sogar die Debatte das eigentliche Denkmal.

Information
Zur Person

Christina Morina ist Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld.
Sie forscht und lehrt zur Geschichte des 19., 20. und 21. Jahrhunderts, insbesondere zu Krieg, Nachkrieg, Erinnerungskulturen und Demokratisierungsprozessen in Deutschland und Europa.
Jüngst veröffentlichte sie (gemeinsam mit N. Frei, F. Maubach und M. Tändler) das Buch „Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus". Das Buch ist 2019 im Ullstein Verlag erschienen.


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tja - das ganze interview hätte man genauso - mit den gleichen antworten - auch mit mir führen können: es spiegelt haarklein meine meinung dazu... 

am besten gefällt mir der letzte satz: "manchmal ist sogar die debatte das eigentliche denkmal!"... denn in der debatte, in dem für und wider, bleibt die historie im direkten gespräch, sei es nun eine figur oder ein ereignis.

wenn irgendwo irgendwozu eine gedenkveranstaltung stattfindet, dann geschieht das in deutschland zumeist nach ganz bestimmten ritualen - zumeist entlehnt den beerdigungsfeierlichkeiten der konfessionen: zu beginn ein ernstes musikstück: meistens irgendwie "tragend", dann gibt es eins - zwei grußworte - dann eine längere wohlgestelzte rede zum erinnerungsanlass - dann eine kranzniederlegung oder die platzierung eines überdimensionalen teuren blumenstraußes mit schärpe, zumeist zu den klängen erneuter ernster klassischer musik, und dann das schlusswort irgendeines zufälligen amtsinhabers - und das alles unter den blitzlichtfotos der herbeibeorderten presseleute, und manche zaungäste nehmen das ganze mit ihren smartphones auf, um es irgendwo in einem sozialen netz hochzuladen und online zu stellen - und wenn das interesse vermeintlich über die lokalen grenzen hinausgeht, läuft auch noch vielleicht die video-kamera eines tv-senders für die "aktuelle stunde" oder die "lokalzeit" mit - und mit verhaltener wispernder stimme raunt ein reporter das jeweils wahrgenommene ins mikro, oder liest es von der "presseerklärung" des veranstalters ab - und zur tatsächlichen sendung wird das ganze dann zu einem beitrag von 1:30 min. zusammengestöpselt - un gutt is...

aber dann ist es das auch gewesen - und wenn man am nächsten tag einen bekannten fragt: "hast du gestern den beitrag zu ...'dingens da'... gesehen", sagt der, "nee - ich war da wohl just mit dem hund raus..."

eine ritualisierte variante dieser art von erinnern ist es auch, bei solchen gelegenheiten jeweils die vielen dutzend opfernamen mit brüchiger stimme von mehreren abwechselnden lesern vorzulesen: "arndfried appelt, alfred beierlein, gertrud brzinski, gottfried bullkötter usw. - bis xyz"... - aber am ende der 8-minütigen namensverlesung - direkt hinter "walter zimmermann", kann sich niemand mehr an "arndfried appelt" vom anfang der verlesung erinnern - denn namen sind "wie schall & rauch", sie verwehen im windhauch... - aber: "gut, dass wir mal drüber gesprochen haben" ...

und schon deshalb ist eine auch meinetwegen handfeste diskussion zum für und wider einer historischen person oder eines historischen ereignisses im hier & jetzt - oder eine diskussionsrunde im klassenraum der schule oder im unterricht per videokonferenz - in jedem falle wesentlich eindrücklicher - und vielleicht bleibt ein fitzelchen in den ventrikeln der teilnehmer haften oder brennt sich gar ein ...

mit denkmälern ist es also ganz ähnlich: nicht das daran vorbei- und vorübergehen bleibt haften, ein abbauen und umstürzen löst erst recht keine bleibende eindrückliche "auseinandersetzung" aus, sondern immer nur die authentische "wahrnehmung" - und dieses antike (nach-)"bewegen im herzen" ["... aber behielt alle diese worte und bewegte sie in ihrem herzen" (lk 2, 19)...] - und all diese komplizierten geschichten dazu kommunizieren - sich auf die google-recherche machen in wort & bild - und gar die eltern und (ur-)großeltern dazu befragen - und dieses "warum haben die da jetzt bei dem 'bismarck-denkmal' noch diese 'info-tafel' angebracht, die wir für die nächste geschichts-stunde abschreiben - 'und anschließend erörtern' sollen" ...: - aber genau das ist für mich gedenken & erinnern - und vielleicht die frage, ob man nicht zum nächsten ortsfest etc. vielleicht ein "theaterstück" zu dieser lokalen thematik miteinstudieren sollte ... - natürlich auch mit all den benötigen hintergrundinformationen dazu ...

Bildersturm

ERINNERUNGSKULTUR

Warum Bilderstürmerei nie zu Aufklärung führt


Von Dankwart Guratzsch | WELT


Berlins ehemaliger Stadtentwicklungssenator Peter Strieder will das Olympiastadion entnazifizieren. Der Denkmalsturzwahn pseudoreligiöser Eiferer trifft damit auch die Architektur. Erreichen werden sie nichts.

Für Peter Strieder, den einstigen Stadtentwicklungssenator von Berlin, gibt es kein Wenn und Aber. Über das Berliner Olympiastadion sagt er: „Die Skulpturen, Wandgemälde, Reliefs müssen weg. Das Maifeld samt Führertribüne sollte abgeräumt und nutzbar gemacht werden für neue Sportfelder, Trainingsplätze, Spielwiesen. Alle Namen der Gebäude und Straßen und Trainingsplätze aus der Zeit der Nazis gehören revidiert, künftig sollten sie beispielsweise nach Opfern der jüngsten rechtsterroristischen Gewalttaten benannt werden.“

Ja, so einfach ist es. Aber so einfach ist es nicht.

Es trifft ja zu, dass die NS-Propaganda exakt auf die überwältigende ideologische Wirkung der von den Brüdern March zwischen 1932 und 1936 errichteten Olympiabauten spekulierte. Aber 75 Jahre nach dem Ende der Hitler-Diktatur sollte man davor nicht mehr in die Knie gehen und zwischen Architektur und Politik unterscheiden können.

Architektur ist gut oder schlecht, aber jenseits von Propaganda und Gegenpropaganda erst einmal unpolitisch. Dass sie politisch instrumentalisiert werden kann, steht auf einem anderen Blatt.

Über das Berliner Olympiagelände sagt der Hamburger Architekt Volkwin Marg: „Olympiapark, Olympiastadion, Schwimmstadion, Sporthochschule, Maifeld, Langemarckhalle und Waldbühne sind Teile eines stadtlandschaftlichen Ensembles, das als Gesamtkunstwerk bewundert wurde. Es erhielt vom Olympischen Komitee 1936 die Goldmedaille für Architektur.“

Damit nicht genug, zur Architektur, so Marg, „gehörten nebenbei die bildenden und darstellenden Künste, wie Skulpturen, Reliefs, Malerei, steinerne Texte, die erste Inszenierung des Olympischen Fackellaufs, der gewaltige Lichtdom der Scheinwerfer zur Abschlussveranstaltung, die weltweit erste Telefunken-Fernsehübertragung für das Public Viewing sowie danach Leni Riefenstahls Filmopus ‚Olympia‘“.

Bilderstürmerei führt nie zur Aufklärung

Marg plädiert für die Erhaltung der Bautengruppe und ein Dokumentationszentrum vor Ort. Mit seinem Architekturbüro Gerkan, Marg und Partner hat er dem Stadion ein transluzentes Dach hinzugefügt und unter der „Führerloge“ eine ökumenische Andachtskapelle eingebaut, die innen mit dem Vaterunser in allen Sprachen und außen mit dem Luther-Text aus dem Matthäusevangelium beschriftet ist: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele.“

Tut man Peter Strieder Unrecht, wenn man darauf hinweist, dass Exorzismus gegen Kunstwerke eine Praxis von Diktatoren ist? Bilderstürmerei, die gerade wieder in Mode kommt, hat ja tatsächlich noch nie zur Aufklärung beigetragen.

Man betrachte den Furor der Selbstgerechtigkeit, mit dem sich die Revolutionäre von 1789 wie in Selbsthypnose gegenseitig aufs Schafott befördert haben. Über Geschichte wächst kein Gras. Wer sich mit dem Brecheisen an ihr zu schaffen macht, rührt sie auf.

Auch der Tugendterror der Französischen Revolution hat nichts beendet, keinen Frieden gestiftet, keine Erinnerung beerdigt. Die Magie des leeren Ortes besagt, dass Architektur auch dort ist, wo keine ist. Auch das Nicht-Denkmal, das gestürzte Denkmal, das gesprengte Denkmal gestaltet Raum – indem es Blickbeziehungen eröffnet, in die Korrespondenz von Bauwerken eingreift, als Landschaftswunde schwärt.

Sind die Denkmäler von Kolonialherren, Rassisten, Generälen erst mal beseitigt, ist eine andere Öffentlichkeit, ein anderer öffentlicher Raum, ein anderer Bewegungsraum des Menschen hergestellt. Aber die Lücke gibt keine Ruhe. Man braucht sich nur bewusst zu machen, in welchem großem zeitlichem Abstand immer neue Wiederaufbauprojekte entstehen und von den Menschen wie ein Lebensrecht eingefordert werden.

Die Einrede und Widerrede von Gegnern feuert sie nur an. In seiner hygienisch sterilen, geradlinigen, rechteckigen, geschichtsleeren Behausung giert der entwurzelte Weltbürger nach nichts so sehr wie nach Bindung, Relevanz, Aufklärung über sich selbst.

Das abgeschaltete Denkmal redet weiter

Es gibt einen Rückstoßeffekt, der jeden Bildersturm konterkariert. Das liegt an der Sprachfähigkeit der Monumente, die sich durch Eingriffe nicht verkürzen, nicht auf leise stellen, nicht unterdrücken lässt. Das abgeschaltete, minimierte Denkmal redet weiter, doch es gibt die Botschaft der Geschichte verharmlosend wieder, zoomt nicht nur das Große, sondern auch das Böse auf ein Normalmaß herunter.

So schafft man Bilder eines glücklichen Gestern, dessen Stigma man gerade abtöten wollte. Auch die Totalrevision, die Ausmerzung und Nivellierung löscht nichts aus, markiert aber die Handlung. Niemals konnte das Feuer der Bücherverbrennung ausgetreten, nie die „entartete Kunst“ zum Schweigen gebracht werden.

Die Bücher und die Kunstwerke leben ein zweites, unauslöschliches Leben. Bloßgestellt und gezeichnet für alle Zeiten sind die Brandstifter und Scharfrichter, die es ersticken wollten.

Es ist das Paradox, dass das heroische Manichäertum, dessen Zeuge wir gerade sind, zur Farce macht. Die pseudoreligiösen Eiferer, die Dichter wie Ernst Moritz Arndt und Eugen Gomringer, Philosophen wie Immanuel Kant, Maler wie Emil Nolde, Eroberer und Entdecker wie Christoph Columbus, Politiker wie Winston Churchill als Rassisten vom Sockel stürzen, tappen in die Falle der Selbstkarikierung.

Was sie betreiben, ist vergleichbar dem Abschlagen der Nasen von antiken Skulpturen, mit dem die frühen Christen die Magie der alten Götter zu brechen suchten.

Die wirksamste, dauerhafteste Korrektur der Überlieferung leistet die Geschichte selbst. Während die stehen gebliebenen Monumente in ihrem Heroismus und martialischen Gestus immer komischere, zeitfremdere Züge annehmen, bleiben die beseitigten wie Untote lebendig.

Kein Bauwerk der Antike redet noch von den Schrecken und Blutopfern, unter denen und für die es errichtet worden ist. Die Pyramiden stellen sich wie Himmelszeichen dar, die den Enthusiasmus glaubensseliger Völker durch die Jahrtausende tragen. Ihr finsteres Gottkönigtum bringen sie nicht zurück.

Bauhaus-Architektur in Tel Aviv, errichtet von zum größten Teil deutschstämmige Juden, die nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten im Jahr 1933 aus Deutschland "ausgewandert" waren. (Archiv)
Wer zu ergründen sucht, woraus sich die neue Mordlust am Alten herleitet, stößt auf ein weiteres Paradox. Hinter ihr steht kein gefestigtes kulturelles Selbstbewusstsein, keine gesättigte, weitgespannte historische Erfahrung, sondern das Gegenteil: tiefe Zukunftsangst, Versagensangst vor Entwicklung, Wandel, Werden, das die armseligen Errungenschaften einer sang- und klanglosen Gegenwart infrage stellen, überholen oder relativieren könnte.

Das Bemühen, die Sprache zu säubern, den eigenen Standpunkt als „wissenschaftlich“ und „alternativlos“ darzustellen, das für „wahr“ Erkannte als ewig, unteilbar, unanfechtbar zum Gesetz zu machen, will nichts als einen eigenen, neuen Denkmalkult etablieren. Der Denkmalsturz soll Bildern und Denkmälern Platz machen, die keinen Widerspruch mehr dulden.

Der Philosoph Hermann Lübbe hat die Zeit, die wir durchleben, eine Zeit der „Gegenwartsschrumpfung“ genannt, in der sich das Neue selbst überholt und das Alte immer jünger wird. Wir erleben den Umschlag der Gegenwartsschrumpfung in Gegenwartsverewigung, ein Lebensgefühl, das der Vergangenheit seine Überzeugungen, seine Urteile und seine Wahrheit überzustülpen, das seine Gesetze zum Muster für alle Völker und Kulturen zu machen versucht.

In der manifestesten aller Künste, der Architektur, hat diese Vorstellung in den Werken der Revolutionsarchitekten monumentalen Ausdruck gefunden, Werken, die das Ewiggültige gefeiert und als unantastbar dargestellt haben. In der Gestalt der Kugel und der Pyramide, gesteigert zu übermenschlicher Größe und unfassbarer Monumentalität, suchten diese Werke die Politik und den Einsturz aller irdischen Ordnungen als Vollstreckung der ehernen Gesetze des Kosmos auf Erden unverrückbar zu verankern.

Der Totalitarismus der elementaren Form

Die reine Geometrie als das schlechthin Unüberbietbare, Unbezweifelbare, die Berufung auf Newton, die Wissenschaft, den „mechanischen Ursprung“ des Alls, die Feier der vergöttlichten Vernunft sollten eine Moral des Bauens und Gestaltens exekutieren, die nichts neben sich duldete und alles je Erschaffene nur noch als unvollkommen, wertlos und marginal gegenüber dem selbsterschaffenen Einzigwahren, Höchstvollkommenen und Ewiggültigen erscheinen ließ.

Es war der Totalitarismus der reinen elementaren Form. Und an ihm haben sich die Diktatoren des 20. Jahrhunderts orientiert.

Der Chauvinismus gegenüber dem Alten, der sich in den Wiederaufbaujahren in Deutschland Bahn gebrochen hat, dem unzählige unersetzbare Städtebilder und Monumente zum Opfer gefallen sind, war von sehr ähnlicher Qualität. Auch wenn er nicht mit fantastischen Konstrukten wie die Revolutionsarchitekten hervorgetreten ist, bediente doch auch er sich der elementaren Grundform als Waffe, um sein neues Ordnungsschema der Welt als ewig zu deklarieren.

Mit dem Rückgriff auf den alten lateinischen Lehrsatz: „simplex sigillum veri“, das Einfache ist das Siegel des Wahren, bemächtigte sich eine ernüchterte, bilderarme Gegenwart des schönen Alten, um es unter der Verdächtigung, es sei nichts anderes als des „Schrecklichen Anfang“ gewesen, klanglos zu entsorgen.

Dieser Geist ist wieder auferstanden. Wir erleben gerade am Beispiel des Kreuzes auf der Kuppel des Humboldtforums und am Streit über die Potsdamer Garnisonkirche, am Säuberungsfeldzug gegen das Berliner Olympiastadion und gegen alte und neue vermeintlich rechte Räume, an der Korrektur von Straßennamen und an der Absolutsetzung eines gendergerechten Sprachgebrauchs, am Ausmisten von Filmarchiven und Bibliotheken, an der Verstümmelung und Retusche von Biografien und Ehrentiteln, welche Blüten die Bereinigungsraserei treibt.

In ihr liegt eine seltsame, unfreiwillige, paradoxe Logik, die uns erst die neue Physik sehen gelehrt hat: Je weiter wir in dem sich immer schneller ausdehnenden Universum blicken, desto tiefer sehen wir in die Vergangenheit, je weniger wir von dieser Kenntnis nehmen, desto beschränkter unser Horizont.

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also - auch für mich ist es quatsch, den "negerhäuptling" aus pippi langstrumpf in einen "südseehäuptling" political correct umzubiegen. oder etwa kirchenglocken mit einem eingegossenen hakenkreuz einschmelzen zu müssen - oder mit der flex daran handanlegen zu wollen.

solche relikte aus der nazi-zeit sind nun nicht besonders erhaltenswert - quasi zum "neuwert" zu restaurieren etwa.

nein - ein hinweisschild - eine erklärung - eine schriftliche distanzierung - reicht völlig aus. ansonsten muss man ja gerade die allmählich zu bruch gehende gigantomanie des "dritten reiches" vor augen führen und als irrtum gebrandmarkt festhalten.

nur weil einige "privatgelehrte" und spinner irgendetwas in die externsteine hineingeheimnissen wollen, darf man dieses naturdenkmal doch nicht in gänze in frage stellen.

oder stonehenge - ja- und auch die pyramiden.

die bilderstürmerei der protestanten nach der reformation verhindert heute immer noch ein unbelastetes ökumenisches aufeinander zugehen und zeitigte den verlust unschätzbarer kunstwerke.

und die jeweilige bedeutung "politisch" wechselhaft interpretierbarer bauwerke und archäologie-fundstücke kann man in israel erkunden: wo man alte mauerreste als "herodianisch" oder "muslimisch" oder "römisch" oder "ur-christlich" oder "kanaanitisch" oder "ägyptisch" usw. einordnet, um es morgen vielleicht doch auch anders zu interpretieren, je nach gusto der jeweiligen regierungen und der jeweiligen "deutungshoheiten" - aber niemand würde wohl auf die idee kommen, diese artefakte gänzlich zu zerstören.

das machten der totalitäre islamische "is" und die taliban mit alten götterstatuen aus der vormuslimischen zeit - und es gab völlig zu recht einen weltweiten aufschrei der empörung...

kunstwerke und kultur-artefakte vernichtet haben zumeist nur pur totalitäre ideologie-regime: die nazis und all ihre deutschen helfershelfer haben synagogen angesteckt und bücher verbrannt - sie sollten in keinster weise irgendwie ein vorbild sein in ihrem völkischen wahn.

ach so - auch das original-wort "rassismus" sollte unserem grundgesetz auch aus nostalgischen gründen in artikel 3 erhalten bleiben, als reines wort - nicht als sinn ...

und heute morgen hörte ich den rest eines gottesdienstes im autoradio, als der zelebrant dazu aufrief, den glauben "mit den worten unserer väter" zu bekennen...: ich kritisiere ja immer, dass das apostolische christliche glaubensbekenntnis nur sehr knappe angaben zur biografie jesu beinhaltet - und nichts von seiner botschaft, seiner message, nichts von seinem frieden, seiner demut, seiner bergpredigt ... - aber "mit den worten unserer väter" konnte ich es sogar wieder innerlich mitsprechen.

Umfrage zur Erinnerungskultur

ein einziger buchstabe - das vorangestellte "v" - macht aus "er-innern" ein "v"er-innern" ein "ver-innerlichen". und dieses verinnern ist es, was die ereignisse in der lebensbiografie dieser gesellschaft hier über die generationen hinweg von "äußerlichkeiten" (vielleicht: "die mir nichts angehen"), umwandeln in ein "sich-einlassen-können", etwas an sich herankommen lassen, um es aufzunehmen, um es zu verinnerlichen, um es mit zu durchleben.

durch-leben, zu was menschen in relativ kurzer zeit (12 jahre) mit ein paar einfachen stellschrauben-änderungen aus der propagandaabteilung der diktatur fähig sind, als mitläufer, als denunzianten, als weggucker, als verräter, als mittäter, als vollstrecker...

ein klitzekleines eigentlich harmloses aber bezeichnendes phänomen davon wurde dieser tage sichtbar gemacht, als die medien darüber berichteten, dass es anrufe bei der polizei gab: "hier gehen fünf menschen eng nebeneinander über den rasen auf dem gesperrten spielplatz, trotz-corona-kontaktsperre, und reden laut miteinander - kommen sie mal vorbei und rufen sie die bitte zur ordnung"...

das ist das klassische phänomen: ich will "regelkonform" zu den "guten" gehören - und ich schwärze die an, die sich offensichtlich fehlverhalten - gegen welche obrigkeit auch immer ...

zu den "guten" zu gehören, die offensichtliche "mehrheitsmeinung" mitzutragen, und "brav" zu sein gegenüber der obrigkeit, ist den menschen von der wiege zumeist anerzogen worden.

aber das ausmaß, das eine solche zustimmung zur nsdap zum beispiel tatsächlich hatte, schlägt nun, einige generationen danach, mit der gleichen soziologischen mechanik um: da ich zu den "guten" gehören will, leugne ich natürlich, dass uropa oder opa seinerzeit voll mitgemacht haben und dabei waren - und sogar das braune parteibuch in der tasche hatten.

und wie bei pippi langstrumpf - die dieser tage auch schon 75 wird, das buch von astrid lindgren erschien also, als der krieg justement zu ende ging - kann sich die heutige generation einfach unbelastet ohne jede skrupel die welt so malen, "wie sie ihr gefällt" - 

und (ur-)oma und (ur-)opa und großtante und großonkel einfach neu erfinden, wie sie es gelernt haben ja auch in den sozialen netzwerken - mit nicknames jeweils eine neue identität zumindest fantasievoll virtuell nebenher zu "leben" - und wieder nach der postmodernen prämisse: "ich bin viele"... - mal so und mal so...

und darum kommt es so auf dieses "verinnerlichen" an, dass man seinem eigenen gewissen wenigstens nichts vormacht und sich nicht selbst belügt oder seine altvorderen einfach verleugnet.

ein großteil der in dieser umfrage hier zur "erinnerungskultur in deutschland" befragten tut das aber: macht sich selbst und anderen etwas vor - und lügt sich selbst in die tasche. verinnerlichen heißt auch, offenen auges "wahr"zunehmen, was in der familie damals tatsächlich los war.

und da helfen auch nicht die stammelnden ersatzhandlungen: das stelenfeld in berlin zu besuchen - aus einer art reue, mit dem bus und der abschlussklasse nach auschwitz und majdanek fahren, und ein referat halten zu einem einzelschicksal der euthanasie-morde - und dann hat man ja wohl genug gebüßt: ich mal mir die welt, wie sie mir gefällt ... 

das problem ist, dass durch verschweigen, durch scham - und schlicht aus unwissenheit und unsensibilität - es oft zu einer vernünftigen aufarbeitung der eigenen herkunfts-familiengeschichte durch schonungslose recherche erst gar nicht kommt.

von einem gestalttherapeuten habe ich vor jahren bereits seine definition des wortes: "ge-schichte" gehört: 

ge-schichte ist das - wie das wort schon andeutet - in uns aufgetürmte, ge-schicht-ete selbst erfahrene und überkommene, vererbte, weitergegebene, erspürte erleben in uns, das sich als ureigene "erfahrung" wie jahresringe über- und durcheinander "schichtet", verstrickt und verkettet und uns individuell prägt und unser verhalten bestimmt - "bis ins 3. und 4. (generations)glied" - wie die bibel in "exodus 20" feststellt - eine zeitspanne, die in psychologischen studien zur "trans-generationalen übertragung" in den heutigen zeiten voll bestätigt wird (click = bundestags-drucksache der 'wissenschaftlichen dienste' zu diesem thema).

geschichte durchläuft also "phasen" des geschehens, die der mensch sich in seinem leben zu eigen machen muss - zumindest muss er sich aktiv damit auseinandersetzen - und sie "lagern sich ab" in seinem inneren erfahrungsschatz - und üben durch ihn ihre choreografie in und an ihm aus, als "designs" und "performances".

und oftmals bestehen diese performances der persönlichen erinnerungkultur im lauf der jahre sicherlich auch aus mancherlei "pirouetten" und "purzelbäumen" und der "schraube rückwärts" in einem ansonsten vielleicht relativ überschaubaren "geschichtsdesign".

und für jede verhaltens-entscheidung gibt es eben tausend andere möglichkeiten - die hat uns unsere uns eingeborene und mitgegebene "freiheit" eingeräumt - und da ist mein eingebautes und mir überkommenes "navi" für "moral" und "gut" und "schlecht" ein guter wegweiser - wenn wir seine inneren signale überhaupt wahrnehmen können - evtl auch als ad-hoc-"bauchentscheidung", wo ja das verinnerlichte [!] "ge-schichte-te" eingelagert erscheint.

und da kommt dann unsere jeweilige "antwort" auf die geschehnisse in und um uns herum ins spiel - unsere "ver-antwort-ung" - also quasi unsere gewählten bewegungsabläufe- und entscheidungsantworten auf die jeweiligen situationen im äußeren und inneren, im uns prägenden hier und jetzt: ecce homo - siehe: ein mensch...

und ob die "zuschauer" im saal, also unsere umwelt, nun mehrheitlich nach jeder sequenz dazu beifall klatschen oder doch trampeln und pfeifen oder sich gar zum "standing ovation" aus ihren sesseln erheben für das jeweilig irgendwie aufgestülpte oder gewählte oder verantwortete "design" - und für die performance und die choreografie-"antwort" dazu - das sei mal dahingestellt.


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Geschichte · Christian Staas
Das Ende der Selbstgewissheit

Eine von der ZEIT in Auftrag gegebene Umfrage zeigt: Der Umgang mit der NS-Vergangenheit ist so umkämpft wie lange nicht. Und die jüngsten Attacken von rechts treffen auf eine Erinnerungskultur, die fragiler ist, als es scheint
Wie halten es die Deutschen mit der Geschichte, 75 Jahre nach dem 8. Mai 1945, nach den Verheerungen des Weltkrieges, nach Zusammenbruch und Befreiung?

Ein paar Antworten:

53 Prozent der Bundesbürger wollen einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen.

77 Prozent halten es für ihre Pflicht, Diktatur und Holocaust nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

66 Prozent möchten mehr über die Geschichte des Nationalsozialismus wissen.

59 Prozent finden es übertrieben, dass ihnen das Thema »fast täglich in den Medien vorgehalten wird«.

Im Auftrag der ZEIT hat das Institut policy matters am Anfang dieses Jahres 1044 Frauen und Männer ab 14 Jahren nach ihren Einstellungen zur NS-Zeit befragt. Die Ergebnisse könnten, selbst wenn man sie mit der gebotenen Skepsis betrachtet, widersprüchlicher kaum sein: Die Deutschen wollen sich erinnern und wollen es doch nicht.

Historische Fragen sind Identitätsfragen, und seit je ist die Haltung zur NS-Vergangenheit hierzulande ein Gradmesser für den Zustand der politischen Kultur. Daran hat sich nichts geändert, auch wenn die großen Geschichtsdebatten vorbei sein mögen. Die sogenannte Neue Rechte hat unterdessen der Erinnerungskultur selbst den Kampf angesagt, und spätestens seit die AfD in den Bundestag eingezogen ist, erfolgen ihre Angriffe auf großer Bühne. Dass zugleich die letzten Zeugen sterben, ist eine bittere Koinzidenz: Die kollektive Erinnerung wird schon bald ohne jene auskommen müssen, die sich noch erinnern können.

Das Bild, das die Umfragedaten zeichnen, kann man da, je nach Gemütslage, als beruhigend oder beunruhigend empfinden. Immerhin sprechen sich stabile 77 Prozent der Befragten für Erinnern und Gedenken aus. Aber meinen sie, was sie sagen? Oder bestätigt sich hier der finstere Verdacht, den der Gießener Politologe Samuel Salzborn kürzlich in seinem Buch Kollektive Unschuld geäußert hat: dass die Erfolgsstory von der Aufarbeitung eine »Lüge« sei, ein dünner Firnis, unter dem sich ein Abgrund von Unbelehrbarkeit, Rassismus und Antisemitismus auftut wie zuletzt in Halle und Hanau?

Sieht man genauer hin, trifft weder das eine noch das andere zu: Es gibt nichts zu beschönigen – und nicht viel zu entlarven. Stattdessen scheinen sich in den Zahlen diffuse Affekte abzubilden, die durchaus in einer Brust wohnen können. Es schließt sich nicht aus, die historische Auseinandersetzung für wichtig zu halten, eine vage Sehnsucht nach »Normalität« zu verspüren (56 Prozent meinen »voll und ganz« oder »eher«, dass ständiges Erinnern »ein gesundes Nationalbewusstsein« verhindere) und, vielleicht aus Unwissenheit, zu denken: »Die Masse der Deutschen hatte keine Schuld, es waren nur einige Verbrecher, die den Krieg angezettelt und die Juden umgebracht haben« (insgesamt 53 Prozent Zustimmung).

Womöglich spiegelt sich in solcher Ambivalenz sogar ein deutscher Normalzustand. Denn sosehr man, wie jüngst die Philosophin Susan Neiman in ihrem Buch Von den Deutschen lernen, die Erinnerungskultur dieser Republik als Errungenschaft begreifen darf, war und ist sie dies im Wortsinn: ein unablässiges Ringen der Gesellschaft (und jedes Einzelnen) mit sich selbst. Die stolze Gewissheit, es im »Aufarbeiten« gleichsam zum Weltmeister gebracht zu haben, hat darüber zuletzt recht großzügig hinweggetäuscht.

Anfechtungen gab es immer wieder: In den Achtzigerjahren – die Deutschen lernten gerade das Wort Holocaust zu buchstabieren, und auch die Konservativen feierten nun den 8. Mai als »Tag der Befreiung« – entbrannte über die relativierenden Thesen Ernst Noltes der Historikerstreit. In den späten Neunzigern litt Martin Walser öffentlich unter der »unaufhörlichen Präsentation unserer Schande«, und der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein erblickte im geplanten Holocaust-Mahnmal in Berlin ein von außen aufgezwungenes »Schandmal«. Die Gleichzeitigkeit von Schuldabwehr und dem Bekenntnis »Nie wieder!« scheint geradezu das Signum der deutschen Haltung zur NS-Geschichte zu sein.

Besonders im Familiengedächtnis haben sich die alten Muster konserviert. Opa ist heute weniger Nazi denn je: Gerade einmal drei Prozent geben in der aktuellen Umfrage an, ihre Vorfahren hätten das Hitler-Regime befürwortet; 30 Prozent dagegen glauben, aus Familien von Nazi-Gegnern zu stammen. Selbst wenn man die Maßstäbe für die Anhängerschaft sehr eng und die für die Gegnerschaft sehr weit fasst, stehen diese Zahlen in keinem Verhältnis zur historischen Realität.

Die Schlussstrich-Forderung dagegen hat über die Jahre an Zugkraft verloren. Während die Akzeptanz eines selbstkritischen Geschichtsbildes wuchs, schrumpfte die Jetzt-ist-auch-mal-gut-Fraktion nach Befragungen des Allensbach-Institutes von 66 Prozent im Jahr 1986 auf 48 Prozent 2009.

Deuten die nun ermittelten 53 Prozent eine Wende an? Dafür fehlt es an validen Daten. Die Selbstverständigungsdebatte über die NS-Geschichte aber, so viel lässt sich sagen, ist nicht dabei, sich zu harmonisieren. So übertreffen die Rede vom »Vogelschiss« und die Forderung nach einer »erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad« frühere Einwürfe nicht nur an Grobschlächtigkeit.

Die nach Parteipräferenz aufgeschlüsselten Umfragedaten lassen außerdem keinen Zweifel daran, dass die AfD-Wähler nicht anders denken als die Partei-Demagogen. 80 Prozent und mehr teilen folgende Aussagen »ganz und gar« oder »eher«: dass, »gemessen an der langen Geschichte unseres Landes«, der Nationalsozialismus einen »viel zu großen« Raum einnehme; dass man als Deutscher »wegen der NS-Geschichte nicht mehr offen über bestimmte Themen diskutieren« könne; dass es Zeit für einen »Schlussstrich« sei. Die Liste ließe sich fortsetzen. Für 39 Prozent ist die Judenverfolgung »sehr weit weg« und nicht von Interesse. 58 Prozent finden, der Nationalsozialismus werde zu negativ dargestellt; er habe »auch positive Seiten« gehabt.

Der rechte Rand hat sicherlich einen polarisierenden Effekt auf das Gesamtbild. Gänzlich zu erklären aber ist das widersprüchliche Umfrageergebnis damit nicht. Vielmehr zeigt sich, dass der Angriff von rechts kein festgefügtes Bollwerk des »Schuldkults« trifft, wie die Rechte insinuiert, sondern ein fragiles Gebilde, das in stetem Wandel begriffen ist.

Verschoben hat sich in den vergangenen Jahren nicht nur der politische Rahmen. Auch was 59 Prozent der Befragten beklagen – dass der Nationalsozialismus in den Medien übermäßig präsent sei –, ist kaum mehr der Fall (wenn es denn jemals zutraf). Der Spiegel etwa, notorisch im Ruf stehend, mit Hitler Auflage zu machen, hat seit 2016 keine einzige NS-Geschichte mehr auf dem Titel gehabt.

»Hitler sells«, spottete der Freiburger Historiker Ulrich Herbert 2015 in dieser Zeitung. Das stimmte schon damals nicht mehr. Bei den großen Verlagen wie S. Fischer und C. H. Beck haben es NS-Titel seit mindestens zehn Jahren schwer. Selbst im ZDF, wo Guido Knopp den Zuschnitt sämtlicher Aspekte auf Hitler bis an die Grenzen der Selbstparodie getrieben hat, sind Dokumentationen zum »Dritten Reich« deutlich seltener geworden. Das Thema verlagert sich mehr und mehr in Spartenkanäle und Mediatheken. Keiner muss mehr »wegschauen«, wie Martin Walser es 1998 für sich reklamierte. Es genügt, nicht hinzusehen.

Die erinnerungskulturelle Hochphase zwischen 1990 und 2010, sagt Stefan Brauburger, Knopps Nachfolger beim ZDF, »wurde maßgeblich durch die Archivöffnungen in Osteuropa und Russland nach dem Ende des Kalten Krieges ausgelöst«. Zu heben gab es vor allem Quellen über den Krieg und den Holocaust; nicht zuletzt deshalb hätten diese Themen viele Jahre lang überwogen. Diese Welle sei gebrochen, die Einschaltquoten seien danach zurückgegangen. Von »Müdigkeit« und »Sättigung« sprechen auch Brauburgers Kollegen in den Buchverlagen.

An anderer Stelle dagegen ist der Zulauf überwältigend: in den Gedenkstätten. Bevor sie infolge der Corona-Pandemie schließen mussten, vermeldeten sie vielerorts Besucherrekorde.

»Eine Ursache ist der boomende internationale Tourismus«, sagt Volkhard Knigge, der seit 1994 die KZ-Gedenkstätte Buchenwald leitet (nun folgt ihm Jens-Christian Wagner nach, der bisherige Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten). Buchenwald und andere ehemalige Lager seien aber auch mehr denn je Orte der gesellschaftspolitischen Debatte – und der Konfrontation.

Mindestens einmal pro Monat haben es Knigges Mitarbeiter mit rechtsextremen Provokationen, Schmierereien oder Vandalismus zu tun. Seit 2015 registrieren sie bei der Zahl der Vorfälle dramatische Ausschläge nach oben (ZEIT Nr. 27/19). Auch das Schweigen halte wieder Einzug. Nicht das entsetzte, sprachlose, sondern das kalte, unerschütterbare. Mitunter trügen es gesamte Schulklassen zur Schau, als wollten sie sagen: »Wir machen das hier nicht mit.« An manchen ostdeutschen Schulen, sagt Knigge, dominierten rechte Lehrer die Kollegien.

Er sehe allerdings auch eine erstarkende Gegenbewegung. Vor allem junge Leute suchten Buchenwald als einen »Ort ethischer, politischer und historischer Vergewisserung« auf und wollten wissen: Was genau ist geschehen? Was hat das mit heute zu tun?

Eine ähnliche politische Wachheit nimmt Florian Dierl wahr, der das Dokumentationszentrum auf dem früheren Reichsparteitagsgelände in Nürnberg leitet. Die rechtsextremen Übergriffe seien sogar rückläufig. »Vermutlich«, sagt er, »ist das Provokationspotenzial hier einfach geringer als in einer KZ-Gedenkstätte.«

Diese Beobachtung verrät etwas über die deutsche Erinnerungskultur als Ganzes: In den vergangenen 40 Jahren hat sie sich gleichsam von Nürnberg nach Buchenwald verlagert, von der Frage nach dem Regime, nach dessen Aufstieg und Machterhalt, hin zum millionenfachen Massenmord. Wer den Geschichtsdiskurs an seinem neuralgischen Punkt treffen will, zeigt daher nicht auf der Zeppelintribüne den Hitlergruß, sondern ritzt ein Hakenkreuz in die Leichenwanne eines Lager-Krematoriums.

Über allem, sagt der Jenaer Zeithistoriker Norbert Frei, stehe seit je die Frage: »Wie konnte es dazu kommen?« Bis in die Siebzigerjahre habe sie den 30. Januar 1933 gemeint. Seit den Achtziger- und Neunzigerjahren meine sie den Holocaust.

Diese Verschiebung ging mit der Stabilisierung der westdeutschen Demokratie einher – und mit einer allmählichen empathischen Hinwendung der Täterkinder zu den Opfern des Nazi-Terrors. An die Stelle der Faschismus-Analysen der 68er trat die Analyse von Antisemitismus und Rassismus; statt die zwölf NS-Jahre von ihren Anfängen her zu begreifen, erklärt man sie mehr und mehr von ihrem Ende her, den Erschießungsgruben und Todeslagern.

So wichtig dieser Wandel war, hat er mitunter zu einer fragwürdigen Verkürzung des Nationalsozialismus auf den Holocaust geführt. Ein Paradigma, das heute, da die Erinnerung an Weimar wieder wach wird, an Grenzen stößt. So lassen sich mit dem Fingerzeig auf die deutschen Verbrechen zwar der Rassismus und Antisemitismus der neuen Völkischen als das benennen, was sie sind: eine tödliche Gefahr. Um die neurechte Attacke auf Demokratie und Liberalismus mit historischer Tiefenschärfe zu erfassen, ist der Hinweis auf die Leichenberge von Auschwitz jedoch eher ungeeignet.

Der verengte Blick auf Mord und Lagerterror hat zudem eine Tendenz zur emotionalen Überwältigung begünstigt, die in Reinform wenig dazu taugt, die historische Urteilskraft zu stärken. Vermutlich liegt hier auch eine Ursache für das in der Umfrage bekundete Unbehagen an einem gewissen erinnerungspolitischen Konformitätsdruck. »Man kann seine Meinung über die NS-Vergangenheit in Deutschland nicht ehrlich sagen« – diesem Satz schließen sich immerhin 42 Prozent der Befragten an. Knapp die Hälfte gibt zu Protokoll: »Ich habe den Eindruck, dass man, wann immer von den Verbrechen des Nationalsozialismus die Rede ist, Betroffenheit zeigen muss, und das nervt mich.« Die oft abwehrend vorgetragene Selbsteinschätzung, doch schon so viel über die NS-Zeit zu wissen, könnte ähnliche Gründe haben: Die »richtige« Haltung einzunehmen lernen schon Schüler, ohne sich mit allzu vielen Fakten belasten zu müssen. Betroffensein geht schnell.

Vielleicht, sagt Norbert Frei, habe auch der Ruf nach einem »Schlussstrich« vor diesem Hintergrund einen anderen Klang als früher. Entspringe er heute doch nicht mehr dem Bedürfnis der NS-Zeitgenossen, in Ruhe gelassen zu werden, sondern dem Gefühl der Nachgeborenen, das abverlangte Bewältigungspensum erfolgreich absolviert zu haben. Das Wissen über die Zerstörung der Weimarer Republik sei in der Öffentlichkeit unterdessen weithin verschüttet worden. Neuere Forschungen dazu? Gibt es kaum.

Im Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände plant man derzeit eine neue Dauerausstellung; in drei bis vier Jahren soll sie fertig sein. Man wolle sich in Zukunft noch stärker auf den Ort selbst besinnen, sagt Florian Dierl, und weniger in der Breite erzählen. Dafür soll, am konkreten Beispiel Nürnberg, der Zeithorizont erweitert werden – von den Anfängen der NS-Bewegung in Weimar bis zur Nachgeschichte in der Bundesrepublik.

Lange Linien ziehen und mehr historische Konkretion wagen, lautet auch Volkhard Knigges Antwort. »Die Politikerreden, wie dieses Jahr zum Auschwitztag«, findet er, »sind in dieser Hinsicht besser geworden.« Die Zeiten des »selbstgefälligen Stolzes auf die eigene Aufarbeitungsleistung« seien jedenfalls vorbei. Es herrsche ein »neuer Ernst«. Seit die AfD in den Parlamenten sitze, sagt Knigge, sei die Mahnung, einer Wiederholung der Geschichte vorzubeugen, keine Floskel mehr.

Ob der rechte Angriff die Ambivalenten, die Müden, die Selbstgefälligen und Gelangweilten gleichgültig lassen, wachrütteln oder in ihren Ressentiments bestärken wird, ist nicht ausgemacht. Anzeichen liefert die aktuelle Umfrage für alles zugleich.

Ein vorsichtiger Optimismus ist allerdings erlaubt: 74 Prozent der Befragten geben an, dass die Beschäftigung mit der NS-Diktatur sie für Ausgrenzung und Ungerechtigkeit sensibilisiert habe. 53 Prozent ziehen aus der Vergangenheit die klare Konsequenz, dass »wir Deutsche eine besondere Verantwortung gegenüber Verfolgten aus anderen Ländern« haben. Auch die Hoffnung, aus der Geschichte lernen zu können (76 Prozent), scheint ungebrochen.

Bewirkt die Neue Rechte mit ihren Attacken am Ende das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt? Wird die Erinnerungskultur aus den gegenwärtigen Konflikten gestärkt hervorgehen?


Wandeln müssen wird sie sich so oder so – um das Ende der Zeitzeugenschaft zu verkraften und um Antworten zu finden für eine neue Generation und eine politische Welt, die sich von der nach 1945 geschaffenen transnationalen Ordnung schneller entfernt denn je. In der Vergangenheit war das Erinnern oft in Phasen des Streits besonders lebendig. Dass sich im deutschen Selbstgespräch die Widersprüche verschärfen, ist so gesehen eine gute Nachricht.

Ambivalenz und Abwehr
Ergebnisse der ZEIT-Umfrage zur Erinnerungskultur

Schlusstrich ziehen?

"75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sollten wir einen Schlussstrich unter die Vergangenheit des Nationalsozialismus ziehen."

Nicht vergessen?

"Es ist für uns Deutsche Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Geschichte des Nationalsozialismus und der Holocaust nicht vergessen werden."


Mehrheit unschuldig?

"Die Masse der Deutschen hatte keine Schuld, es waren nur einige Verbrecher, die den Krieg angezettelt und die Juden umgebracht haben."







(aus DIE ZEIT 19/2020, S.17 Geschichte)

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