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Umfrage zur Erinnerungskultur

ein einziger buchstabe - das vorangestellte "v" - macht aus "er-innern" ein "v"er-innern" ein "ver-innerlichen". und dieses verinnern ist es, was die ereignisse in der lebensbiografie dieser gesellschaft hier über die generationen hinweg von "äußerlichkeiten" (vielleicht: "die mir nichts angehen"), umwandeln in ein "sich-einlassen-können", etwas an sich herankommen lassen, um es aufzunehmen, um es zu verinnerlichen, um es mit zu durchleben.

durch-leben, zu was menschen in relativ kurzer zeit (12 jahre) mit ein paar einfachen stellschrauben-änderungen aus der propagandaabteilung der diktatur fähig sind, als mitläufer, als denunzianten, als weggucker, als verräter, als mittäter, als vollstrecker...

ein klitzekleines eigentlich harmloses aber bezeichnendes phänomen davon wurde dieser tage sichtbar gemacht, als die medien darüber berichteten, dass es anrufe bei der polizei gab: "hier gehen fünf menschen eng nebeneinander über den rasen auf dem gesperrten spielplatz, trotz-corona-kontaktsperre, und reden laut miteinander - kommen sie mal vorbei und rufen sie die bitte zur ordnung"...

das ist das klassische phänomen: ich will "regelkonform" zu den "guten" gehören - und ich schwärze die an, die sich offensichtlich fehlverhalten - gegen welche obrigkeit auch immer ...

zu den "guten" zu gehören, die offensichtliche "mehrheitsmeinung" mitzutragen, und "brav" zu sein gegenüber der obrigkeit, ist den menschen von der wiege zumeist anerzogen worden.

aber das ausmaß, das eine solche zustimmung zur nsdap zum beispiel tatsächlich hatte, schlägt nun, einige generationen danach, mit der gleichen soziologischen mechanik um: da ich zu den "guten" gehören will, leugne ich natürlich, dass uropa oder opa seinerzeit voll mitgemacht haben und dabei waren - und sogar das braune parteibuch in der tasche hatten.

und wie bei pippi langstrumpf - die dieser tage auch schon 75 wird, das buch von astrid lindgren erschien also, als der krieg justement zu ende ging - kann sich die heutige generation einfach unbelastet ohne jede skrupel die welt so malen, "wie sie ihr gefällt" - 

und (ur-)oma und (ur-)opa und großtante und großonkel einfach neu erfinden, wie sie es gelernt haben ja auch in den sozialen netzwerken - mit nicknames jeweils eine neue identität zumindest fantasievoll virtuell nebenher zu "leben" - und wieder nach der postmodernen prämisse: "ich bin viele"... - mal so und mal so...

und darum kommt es so auf dieses "verinnerlichen" an, dass man seinem eigenen gewissen wenigstens nichts vormacht und sich nicht selbst belügt oder seine altvorderen einfach verleugnet.

ein großteil der in dieser umfrage hier zur "erinnerungskultur in deutschland" befragten tut das aber: macht sich selbst und anderen etwas vor - und lügt sich selbst in die tasche. verinnerlichen heißt auch, offenen auges "wahr"zunehmen, was in der familie damals tatsächlich los war.

und da helfen auch nicht die stammelnden ersatzhandlungen: das stelenfeld in berlin zu besuchen - aus einer art reue, mit dem bus und der abschlussklasse nach auschwitz und majdanek fahren, und ein referat halten zu einem einzelschicksal der euthanasie-morde - und dann hat man ja wohl genug gebüßt: ich mal mir die welt, wie sie mir gefällt ... 

das problem ist, dass durch verschweigen, durch scham - und schlicht aus unwissenheit und unsensibilität - es oft zu einer vernünftigen aufarbeitung der eigenen herkunfts-familiengeschichte durch schonungslose recherche erst gar nicht kommt.

von einem gestalttherapeuten habe ich vor jahren bereits seine definition des wortes: "ge-schichte" gehört: 

ge-schichte ist das - wie das wort schon andeutet - in uns aufgetürmte, ge-schicht-ete selbst erfahrene und überkommene, vererbte, weitergegebene, erspürte erleben in uns, das sich als ureigene "erfahrung" wie jahresringe über- und durcheinander "schichtet", verstrickt und verkettet und uns individuell prägt und unser verhalten bestimmt - "bis ins 3. und 4. (generations)glied" - wie die bibel in "exodus 20" feststellt - eine zeitspanne, die in psychologischen studien zur "trans-generationalen übertragung" in den heutigen zeiten voll bestätigt wird (click = bundestags-drucksache der 'wissenschaftlichen dienste' zu diesem thema).

geschichte durchläuft also "phasen" des geschehens, die der mensch sich in seinem leben zu eigen machen muss - zumindest muss er sich aktiv damit auseinandersetzen - und sie "lagern sich ab" in seinem inneren erfahrungsschatz - und üben durch ihn ihre choreografie in und an ihm aus, als "designs" und "performances".

und oftmals bestehen diese performances der persönlichen erinnerungkultur im lauf der jahre sicherlich auch aus mancherlei "pirouetten" und "purzelbäumen" und der "schraube rückwärts" in einem ansonsten vielleicht relativ überschaubaren "geschichtsdesign".

und für jede verhaltens-entscheidung gibt es eben tausend andere möglichkeiten - die hat uns unsere uns eingeborene und mitgegebene "freiheit" eingeräumt - und da ist mein eingebautes und mir überkommenes "navi" für "moral" und "gut" und "schlecht" ein guter wegweiser - wenn wir seine inneren signale überhaupt wahrnehmen können - evtl auch als ad-hoc-"bauchentscheidung", wo ja das verinnerlichte [!] "ge-schichte-te" eingelagert erscheint.

und da kommt dann unsere jeweilige "antwort" auf die geschehnisse in und um uns herum ins spiel - unsere "ver-antwort-ung" - also quasi unsere gewählten bewegungsabläufe- und entscheidungsantworten auf die jeweiligen situationen im äußeren und inneren, im uns prägenden hier und jetzt: ecce homo - siehe: ein mensch...

und ob die "zuschauer" im saal, also unsere umwelt, nun mehrheitlich nach jeder sequenz dazu beifall klatschen oder doch trampeln und pfeifen oder sich gar zum "standing ovation" aus ihren sesseln erheben für das jeweilig irgendwie aufgestülpte oder gewählte oder verantwortete "design" - und für die performance und die choreografie-"antwort" dazu - das sei mal dahingestellt.


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Geschichte · Christian Staas
Das Ende der Selbstgewissheit

Eine von der ZEIT in Auftrag gegebene Umfrage zeigt: Der Umgang mit der NS-Vergangenheit ist so umkämpft wie lange nicht. Und die jüngsten Attacken von rechts treffen auf eine Erinnerungskultur, die fragiler ist, als es scheint
Wie halten es die Deutschen mit der Geschichte, 75 Jahre nach dem 8. Mai 1945, nach den Verheerungen des Weltkrieges, nach Zusammenbruch und Befreiung?

Ein paar Antworten:

53 Prozent der Bundesbürger wollen einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen.

77 Prozent halten es für ihre Pflicht, Diktatur und Holocaust nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

66 Prozent möchten mehr über die Geschichte des Nationalsozialismus wissen.

59 Prozent finden es übertrieben, dass ihnen das Thema »fast täglich in den Medien vorgehalten wird«.

Im Auftrag der ZEIT hat das Institut policy matters am Anfang dieses Jahres 1044 Frauen und Männer ab 14 Jahren nach ihren Einstellungen zur NS-Zeit befragt. Die Ergebnisse könnten, selbst wenn man sie mit der gebotenen Skepsis betrachtet, widersprüchlicher kaum sein: Die Deutschen wollen sich erinnern und wollen es doch nicht.

Historische Fragen sind Identitätsfragen, und seit je ist die Haltung zur NS-Vergangenheit hierzulande ein Gradmesser für den Zustand der politischen Kultur. Daran hat sich nichts geändert, auch wenn die großen Geschichtsdebatten vorbei sein mögen. Die sogenannte Neue Rechte hat unterdessen der Erinnerungskultur selbst den Kampf angesagt, und spätestens seit die AfD in den Bundestag eingezogen ist, erfolgen ihre Angriffe auf großer Bühne. Dass zugleich die letzten Zeugen sterben, ist eine bittere Koinzidenz: Die kollektive Erinnerung wird schon bald ohne jene auskommen müssen, die sich noch erinnern können.

Das Bild, das die Umfragedaten zeichnen, kann man da, je nach Gemütslage, als beruhigend oder beunruhigend empfinden. Immerhin sprechen sich stabile 77 Prozent der Befragten für Erinnern und Gedenken aus. Aber meinen sie, was sie sagen? Oder bestätigt sich hier der finstere Verdacht, den der Gießener Politologe Samuel Salzborn kürzlich in seinem Buch Kollektive Unschuld geäußert hat: dass die Erfolgsstory von der Aufarbeitung eine »Lüge« sei, ein dünner Firnis, unter dem sich ein Abgrund von Unbelehrbarkeit, Rassismus und Antisemitismus auftut wie zuletzt in Halle und Hanau?

Sieht man genauer hin, trifft weder das eine noch das andere zu: Es gibt nichts zu beschönigen – und nicht viel zu entlarven. Stattdessen scheinen sich in den Zahlen diffuse Affekte abzubilden, die durchaus in einer Brust wohnen können. Es schließt sich nicht aus, die historische Auseinandersetzung für wichtig zu halten, eine vage Sehnsucht nach »Normalität« zu verspüren (56 Prozent meinen »voll und ganz« oder »eher«, dass ständiges Erinnern »ein gesundes Nationalbewusstsein« verhindere) und, vielleicht aus Unwissenheit, zu denken: »Die Masse der Deutschen hatte keine Schuld, es waren nur einige Verbrecher, die den Krieg angezettelt und die Juden umgebracht haben« (insgesamt 53 Prozent Zustimmung).

Womöglich spiegelt sich in solcher Ambivalenz sogar ein deutscher Normalzustand. Denn sosehr man, wie jüngst die Philosophin Susan Neiman in ihrem Buch Von den Deutschen lernen, die Erinnerungskultur dieser Republik als Errungenschaft begreifen darf, war und ist sie dies im Wortsinn: ein unablässiges Ringen der Gesellschaft (und jedes Einzelnen) mit sich selbst. Die stolze Gewissheit, es im »Aufarbeiten« gleichsam zum Weltmeister gebracht zu haben, hat darüber zuletzt recht großzügig hinweggetäuscht.

Anfechtungen gab es immer wieder: In den Achtzigerjahren – die Deutschen lernten gerade das Wort Holocaust zu buchstabieren, und auch die Konservativen feierten nun den 8. Mai als »Tag der Befreiung« – entbrannte über die relativierenden Thesen Ernst Noltes der Historikerstreit. In den späten Neunzigern litt Martin Walser öffentlich unter der »unaufhörlichen Präsentation unserer Schande«, und der Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein erblickte im geplanten Holocaust-Mahnmal in Berlin ein von außen aufgezwungenes »Schandmal«. Die Gleichzeitigkeit von Schuldabwehr und dem Bekenntnis »Nie wieder!« scheint geradezu das Signum der deutschen Haltung zur NS-Geschichte zu sein.

Besonders im Familiengedächtnis haben sich die alten Muster konserviert. Opa ist heute weniger Nazi denn je: Gerade einmal drei Prozent geben in der aktuellen Umfrage an, ihre Vorfahren hätten das Hitler-Regime befürwortet; 30 Prozent dagegen glauben, aus Familien von Nazi-Gegnern zu stammen. Selbst wenn man die Maßstäbe für die Anhängerschaft sehr eng und die für die Gegnerschaft sehr weit fasst, stehen diese Zahlen in keinem Verhältnis zur historischen Realität.

Die Schlussstrich-Forderung dagegen hat über die Jahre an Zugkraft verloren. Während die Akzeptanz eines selbstkritischen Geschichtsbildes wuchs, schrumpfte die Jetzt-ist-auch-mal-gut-Fraktion nach Befragungen des Allensbach-Institutes von 66 Prozent im Jahr 1986 auf 48 Prozent 2009.

Deuten die nun ermittelten 53 Prozent eine Wende an? Dafür fehlt es an validen Daten. Die Selbstverständigungsdebatte über die NS-Geschichte aber, so viel lässt sich sagen, ist nicht dabei, sich zu harmonisieren. So übertreffen die Rede vom »Vogelschiss« und die Forderung nach einer »erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad« frühere Einwürfe nicht nur an Grobschlächtigkeit.

Die nach Parteipräferenz aufgeschlüsselten Umfragedaten lassen außerdem keinen Zweifel daran, dass die AfD-Wähler nicht anders denken als die Partei-Demagogen. 80 Prozent und mehr teilen folgende Aussagen »ganz und gar« oder »eher«: dass, »gemessen an der langen Geschichte unseres Landes«, der Nationalsozialismus einen »viel zu großen« Raum einnehme; dass man als Deutscher »wegen der NS-Geschichte nicht mehr offen über bestimmte Themen diskutieren« könne; dass es Zeit für einen »Schlussstrich« sei. Die Liste ließe sich fortsetzen. Für 39 Prozent ist die Judenverfolgung »sehr weit weg« und nicht von Interesse. 58 Prozent finden, der Nationalsozialismus werde zu negativ dargestellt; er habe »auch positive Seiten« gehabt.

Der rechte Rand hat sicherlich einen polarisierenden Effekt auf das Gesamtbild. Gänzlich zu erklären aber ist das widersprüchliche Umfrageergebnis damit nicht. Vielmehr zeigt sich, dass der Angriff von rechts kein festgefügtes Bollwerk des »Schuldkults« trifft, wie die Rechte insinuiert, sondern ein fragiles Gebilde, das in stetem Wandel begriffen ist.

Verschoben hat sich in den vergangenen Jahren nicht nur der politische Rahmen. Auch was 59 Prozent der Befragten beklagen – dass der Nationalsozialismus in den Medien übermäßig präsent sei –, ist kaum mehr der Fall (wenn es denn jemals zutraf). Der Spiegel etwa, notorisch im Ruf stehend, mit Hitler Auflage zu machen, hat seit 2016 keine einzige NS-Geschichte mehr auf dem Titel gehabt.

»Hitler sells«, spottete der Freiburger Historiker Ulrich Herbert 2015 in dieser Zeitung. Das stimmte schon damals nicht mehr. Bei den großen Verlagen wie S. Fischer und C. H. Beck haben es NS-Titel seit mindestens zehn Jahren schwer. Selbst im ZDF, wo Guido Knopp den Zuschnitt sämtlicher Aspekte auf Hitler bis an die Grenzen der Selbstparodie getrieben hat, sind Dokumentationen zum »Dritten Reich« deutlich seltener geworden. Das Thema verlagert sich mehr und mehr in Spartenkanäle und Mediatheken. Keiner muss mehr »wegschauen«, wie Martin Walser es 1998 für sich reklamierte. Es genügt, nicht hinzusehen.

Die erinnerungskulturelle Hochphase zwischen 1990 und 2010, sagt Stefan Brauburger, Knopps Nachfolger beim ZDF, »wurde maßgeblich durch die Archivöffnungen in Osteuropa und Russland nach dem Ende des Kalten Krieges ausgelöst«. Zu heben gab es vor allem Quellen über den Krieg und den Holocaust; nicht zuletzt deshalb hätten diese Themen viele Jahre lang überwogen. Diese Welle sei gebrochen, die Einschaltquoten seien danach zurückgegangen. Von »Müdigkeit« und »Sättigung« sprechen auch Brauburgers Kollegen in den Buchverlagen.

An anderer Stelle dagegen ist der Zulauf überwältigend: in den Gedenkstätten. Bevor sie infolge der Corona-Pandemie schließen mussten, vermeldeten sie vielerorts Besucherrekorde.

»Eine Ursache ist der boomende internationale Tourismus«, sagt Volkhard Knigge, der seit 1994 die KZ-Gedenkstätte Buchenwald leitet (nun folgt ihm Jens-Christian Wagner nach, der bisherige Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten). Buchenwald und andere ehemalige Lager seien aber auch mehr denn je Orte der gesellschaftspolitischen Debatte – und der Konfrontation.

Mindestens einmal pro Monat haben es Knigges Mitarbeiter mit rechtsextremen Provokationen, Schmierereien oder Vandalismus zu tun. Seit 2015 registrieren sie bei der Zahl der Vorfälle dramatische Ausschläge nach oben (ZEIT Nr. 27/19). Auch das Schweigen halte wieder Einzug. Nicht das entsetzte, sprachlose, sondern das kalte, unerschütterbare. Mitunter trügen es gesamte Schulklassen zur Schau, als wollten sie sagen: »Wir machen das hier nicht mit.« An manchen ostdeutschen Schulen, sagt Knigge, dominierten rechte Lehrer die Kollegien.

Er sehe allerdings auch eine erstarkende Gegenbewegung. Vor allem junge Leute suchten Buchenwald als einen »Ort ethischer, politischer und historischer Vergewisserung« auf und wollten wissen: Was genau ist geschehen? Was hat das mit heute zu tun?

Eine ähnliche politische Wachheit nimmt Florian Dierl wahr, der das Dokumentationszentrum auf dem früheren Reichsparteitagsgelände in Nürnberg leitet. Die rechtsextremen Übergriffe seien sogar rückläufig. »Vermutlich«, sagt er, »ist das Provokationspotenzial hier einfach geringer als in einer KZ-Gedenkstätte.«

Diese Beobachtung verrät etwas über die deutsche Erinnerungskultur als Ganzes: In den vergangenen 40 Jahren hat sie sich gleichsam von Nürnberg nach Buchenwald verlagert, von der Frage nach dem Regime, nach dessen Aufstieg und Machterhalt, hin zum millionenfachen Massenmord. Wer den Geschichtsdiskurs an seinem neuralgischen Punkt treffen will, zeigt daher nicht auf der Zeppelintribüne den Hitlergruß, sondern ritzt ein Hakenkreuz in die Leichenwanne eines Lager-Krematoriums.

Über allem, sagt der Jenaer Zeithistoriker Norbert Frei, stehe seit je die Frage: »Wie konnte es dazu kommen?« Bis in die Siebzigerjahre habe sie den 30. Januar 1933 gemeint. Seit den Achtziger- und Neunzigerjahren meine sie den Holocaust.

Diese Verschiebung ging mit der Stabilisierung der westdeutschen Demokratie einher – und mit einer allmählichen empathischen Hinwendung der Täterkinder zu den Opfern des Nazi-Terrors. An die Stelle der Faschismus-Analysen der 68er trat die Analyse von Antisemitismus und Rassismus; statt die zwölf NS-Jahre von ihren Anfängen her zu begreifen, erklärt man sie mehr und mehr von ihrem Ende her, den Erschießungsgruben und Todeslagern.

So wichtig dieser Wandel war, hat er mitunter zu einer fragwürdigen Verkürzung des Nationalsozialismus auf den Holocaust geführt. Ein Paradigma, das heute, da die Erinnerung an Weimar wieder wach wird, an Grenzen stößt. So lassen sich mit dem Fingerzeig auf die deutschen Verbrechen zwar der Rassismus und Antisemitismus der neuen Völkischen als das benennen, was sie sind: eine tödliche Gefahr. Um die neurechte Attacke auf Demokratie und Liberalismus mit historischer Tiefenschärfe zu erfassen, ist der Hinweis auf die Leichenberge von Auschwitz jedoch eher ungeeignet.

Der verengte Blick auf Mord und Lagerterror hat zudem eine Tendenz zur emotionalen Überwältigung begünstigt, die in Reinform wenig dazu taugt, die historische Urteilskraft zu stärken. Vermutlich liegt hier auch eine Ursache für das in der Umfrage bekundete Unbehagen an einem gewissen erinnerungspolitischen Konformitätsdruck. »Man kann seine Meinung über die NS-Vergangenheit in Deutschland nicht ehrlich sagen« – diesem Satz schließen sich immerhin 42 Prozent der Befragten an. Knapp die Hälfte gibt zu Protokoll: »Ich habe den Eindruck, dass man, wann immer von den Verbrechen des Nationalsozialismus die Rede ist, Betroffenheit zeigen muss, und das nervt mich.« Die oft abwehrend vorgetragene Selbsteinschätzung, doch schon so viel über die NS-Zeit zu wissen, könnte ähnliche Gründe haben: Die »richtige« Haltung einzunehmen lernen schon Schüler, ohne sich mit allzu vielen Fakten belasten zu müssen. Betroffensein geht schnell.

Vielleicht, sagt Norbert Frei, habe auch der Ruf nach einem »Schlussstrich« vor diesem Hintergrund einen anderen Klang als früher. Entspringe er heute doch nicht mehr dem Bedürfnis der NS-Zeitgenossen, in Ruhe gelassen zu werden, sondern dem Gefühl der Nachgeborenen, das abverlangte Bewältigungspensum erfolgreich absolviert zu haben. Das Wissen über die Zerstörung der Weimarer Republik sei in der Öffentlichkeit unterdessen weithin verschüttet worden. Neuere Forschungen dazu? Gibt es kaum.

Im Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände plant man derzeit eine neue Dauerausstellung; in drei bis vier Jahren soll sie fertig sein. Man wolle sich in Zukunft noch stärker auf den Ort selbst besinnen, sagt Florian Dierl, und weniger in der Breite erzählen. Dafür soll, am konkreten Beispiel Nürnberg, der Zeithorizont erweitert werden – von den Anfängen der NS-Bewegung in Weimar bis zur Nachgeschichte in der Bundesrepublik.

Lange Linien ziehen und mehr historische Konkretion wagen, lautet auch Volkhard Knigges Antwort. »Die Politikerreden, wie dieses Jahr zum Auschwitztag«, findet er, »sind in dieser Hinsicht besser geworden.« Die Zeiten des »selbstgefälligen Stolzes auf die eigene Aufarbeitungsleistung« seien jedenfalls vorbei. Es herrsche ein »neuer Ernst«. Seit die AfD in den Parlamenten sitze, sagt Knigge, sei die Mahnung, einer Wiederholung der Geschichte vorzubeugen, keine Floskel mehr.

Ob der rechte Angriff die Ambivalenten, die Müden, die Selbstgefälligen und Gelangweilten gleichgültig lassen, wachrütteln oder in ihren Ressentiments bestärken wird, ist nicht ausgemacht. Anzeichen liefert die aktuelle Umfrage für alles zugleich.

Ein vorsichtiger Optimismus ist allerdings erlaubt: 74 Prozent der Befragten geben an, dass die Beschäftigung mit der NS-Diktatur sie für Ausgrenzung und Ungerechtigkeit sensibilisiert habe. 53 Prozent ziehen aus der Vergangenheit die klare Konsequenz, dass »wir Deutsche eine besondere Verantwortung gegenüber Verfolgten aus anderen Ländern« haben. Auch die Hoffnung, aus der Geschichte lernen zu können (76 Prozent), scheint ungebrochen.

Bewirkt die Neue Rechte mit ihren Attacken am Ende das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt? Wird die Erinnerungskultur aus den gegenwärtigen Konflikten gestärkt hervorgehen?


Wandeln müssen wird sie sich so oder so – um das Ende der Zeitzeugenschaft zu verkraften und um Antworten zu finden für eine neue Generation und eine politische Welt, die sich von der nach 1945 geschaffenen transnationalen Ordnung schneller entfernt denn je. In der Vergangenheit war das Erinnern oft in Phasen des Streits besonders lebendig. Dass sich im deutschen Selbstgespräch die Widersprüche verschärfen, ist so gesehen eine gute Nachricht.

Ambivalenz und Abwehr
Ergebnisse der ZEIT-Umfrage zur Erinnerungskultur

Schlusstrich ziehen?

"75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sollten wir einen Schlussstrich unter die Vergangenheit des Nationalsozialismus ziehen."

Nicht vergessen?

"Es ist für uns Deutsche Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Geschichte des Nationalsozialismus und der Holocaust nicht vergessen werden."


Mehrheit unschuldig?

"Die Masse der Deutschen hatte keine Schuld, es waren nur einige Verbrecher, die den Krieg angezettelt und die Juden umgebracht haben."







(aus DIE ZEIT 19/2020, S.17 Geschichte)

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dieser gesamttext bildet auch eine neue unterseite auf der "sinedi-website": click here

das erinnern erneuern


Die Erinnerungskultur erneuern

Der Historiker Martin Sabrow fordert: Jetzt muss Nüchternheit Emphase ersetzen. Die Gesellschaft soll der Versuchung widerstehen, den Wertehimmel unserer Zeit auf die Vergangenheit zu projizieren

Die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist in unserer Generation zu einem hohen Gut der nationalen Selbstverständigung geworden. Theodor Adornos Forderung an eine gelingende Aufarbeitung 1959, „dass man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewusstsein“, kann in der Gegenwart für erfüllt angesehen werden. 

Heute gilt ein parteiübergreifender Konsens des liberaldemokratischen Spektrums, dass die fortdauernde Auseinandersetzung mit der historischen Schuld zweier Diktaturen einen Grundpfeiler des bundesdeutschen Selbstverständnisses bilde.

Die seit den 1980er Jahren entstandenen Geschichtsmuseen in der Bundesrepublik blenden die furchtbare Vergangenheit nicht aus, sondern beziehen sie ein. Die bei Adorno noch vor allem gegen den Staat und das staatlich verantwortete Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie gerichtete Bewältigungsforderung hat sich zum Handlungsziel für den Staat entwickelt. Adornos bittere Erfahrung, „im Hause des Henkers soll man nicht vom Strick reden; sonst hat man Ressentiment“, hat nicht nur an Gültigkeit verloren, sie ist in ihr Gegenteil umgeschlagen, wenn der damalige Bundespräsident Joachim Gauck zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz feststellte: „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.“

Auch die Auseinandersetzung mit der zweiten deutschen Diktatur des 20. Jahrhunderts vollzieht sich nicht im Schatten der deutschen Geschichtskultur, sondern unter immer weiter steigender medialer und geschichtspolitischer Aufmerksamkeit. Dies lässt sich eindrucksvoll an der Erinnerungskonkurrenz des 9. Novembers ablesen, der in den vergangenen 30 Jahren zum heimlichen deutschen Nationalfeiertag der deutschen Gesellschaft aufgestiegen ist. Alles gut also?

Nein, nichts ist gut, wie in jüngerer Zeit wieder so schmerzhaft zu erfahren war. Fast hilflos steht die Mehrheitsgesellschaft vor den Konsensverletzungen, die die Karriere des Rechtspopulismus als Massenphänomen auf der Straße und als politische Kraft in den deutschen und europäischen Parlamenten mit sich gebracht haben.

Der Raum des Sag- und Denkbaren und die Orientierungsmarken der gesellschaftlichen Debatte haben sich nicht nur in dramatischer Weise nach rechts geöffnet und die Schleusen eines längst überwunden geglaubten Vergangenheitsdiskurses geöffnet, sie hat auch all diejenigen in die Defensive gedrängt, die sich immer wieder über neurechte Tabubrüche empören und selbst damit noch einem identitären und geschichtsrevisionistischen Denkstil in die Hände spielen, dessen ganzes Programm die bloße Provokation ist.

Wenn jeder vierte Wähler in einem Land, in dem die NSDAP 1930 ihre erste Regierungsbeteiligung erreichte, bei den jüngsten Landtagwahlen in Thüringen seine Stimme einer Partei gab, deren dezidiert rechtsextrem auftretender Spitzenkandidat ungeniert mit seiner politischen Nähe zum Nationalsozialismus kokettiert, dann wird die Frage unvermeidlich, was die Geschichtskultur wert ist, auf deren Geltungskraft wir uns so gern berufen.

Um sie zu beantworten, tut die Erkenntnis not, dass die kritische und selbstkritische Vergangenheitsaufarbeitung nicht allein von außen in Frage gestellt wird, sondern auch in eine innere Krise geraten ist. Vier Herausforderungen stechen dabei hervor.
Es macht einen Unterschied, ob Erinnerung mittelbar oder unmittelbar tradiert wird, ob sie von Menschen überliefert wird oder allein in Texten und Bildern.
  • Die erste ergibt sich aus dem Verlust an Unmittelbarkeit, der mit dem wachsenden Zeitabstand vom 20. Jahrhundert der Extreme einhergeht. Es macht einen Unterschied, ob Erinnerung mittelbar oder unmittelbar tradiert wird, ob sie von Menschen überliefert wird oder allein in Texten und Bildern. Die Epoche der Aufarbeitung war die Epoche der Zeitzeugen, die Auskunft im Geschichtsunterricht gaben, die auf Gedenkveranstaltungen sprachen und Dokudramen beglaubigten: Zeitzeugen in der Diktaturaufarbeitung stillten die Sehnsucht nach der Begegnung mit einer Vergangenheit, die man sich nicht zurückwünschte, und die Aura ihrer Authentizität bestand darin, dass sie das Geschehen von gestern mit den moralischen Maßstäben von heute fassbar machten. Welche Lücke das Verstummen der Zeitzeugen und das Ende der Ära der Unmittelbarkeit reißt, lehrt das angestrengte, aufwendige und oft teure Bemühen um die „authentische“ Rekonstruktion von Orten diktatorischer Herrschaftsinszenierung. Billiger sind virtuelle Zeitzeugen, also die visuelle und akustische Aufzeichnung von Lebenserinnerungen Holocaust-Überlebender, die im Projekt „New Dimensions in Testimony“ der Shoah Foundation auf höchstem technischem Standard digital so aufbereitet werden, dass sie als 3D-Hologramm-Interviewpartner zur Verfügung stehen. Was wie bloße Spielerei aussieht, löst in der Weiterentwicklung die Aura des Zeitzeugen von der lebenden Person und lässt die materielle Realität in der digitalen aufgehen; aber dem digitalen Konstrukt fehlt die Aura des Authentischen und damit das magische Moment, das Menschen in Ausstellungen und an historische Orte treibt.
Aufarbeitung verspricht permanent eine Versöhnung, die sie nicht einlösen kann, weil sie das Schuldbekenntnis nicht mit Vergessen vergelten kann. 
  • Eine Wirkungsbeschränkung anderer Art steckt im Konzept der Aufarbeitung selbst. In der Tiefenpsychologie gilt das erinnernde Durcharbeiten als Schritt zur endgültigen Heilung mit dem Ziel des psychischen Überwindens und Loslassens. Im gesellschaftlichen Aufarbeitungsdiskurs hingegen ist nicht das Loslassen das Ziel, sondern die fortwährende Auseinandersetzung. Die Idee der Aufarbeitung fußt auf einer prinzipiellen Unabschließbarkeit, die ihrer gleichermaßen fundamentalen Vergebungsbereitschaft zuwiderläuft. Anders gesagt: Aufarbeitung verspricht permanent eine Versöhnung, die sie nicht einlösen kann, weil sie das Schuldbekenntnis nicht mit Vergessen vergelten kann.
Das Projekt der historischen Aufklärungist zur Routine einer historischen Selbstbestätigung geworden, die aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht mehr unbequeme und womöglich unwillkommene Erkenntnisse zieht, sondern vertraute Bilder immer wieder reproduziert und ritualisiert. 
  • Eine dritte Problemzone lässt sich schlagwortartig als Umschlag von Aufklärung in Affirmation überschreiben. Im selben Maß, in dem der opferzentrierte Aufarbeitungskonsens zum selbstverständlichen Fundament unserer politischen Kultur wurde, hat er begonnen, sein aufrüttelndes und tabubrechendes Potenzial einzubüßen: 93 Prozent aller 2018 befragten Deutschen im Alter von 16 bis 92 Jahren halten die Erinnerung an die Vernichtung von Menschen in Konzentrationslagern für einen wichtigen oder den wichtigsten Inhalt des Geschichtsunterrichts. Mit dem Sieg der schmerzhaften Aufarbeitung über die bequeme Verdrängung hat sich der Anspruch auf kritische Bewältigung der Vergangenheit in die Realität einer historischen Legitimation der Gegenwart zu verwandeln begonnen. Das Projekt der historischen Aufklärung ist zur Routine einer historischen Selbstbestätigung geworden, die aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht mehr unbequeme und womöglich unwillkommene Erkenntnisse zieht, sondern vertraute Bilder immer wieder reproduziert und ritualisiert. Die Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch hat sich zu einer Ästhetik des Grauens entwickelt, von der KZ-Souvenirs und Auschwitz-Selfies zeugen. Auch das Holocaust-Mahnmal in der Mitte Berlins ist eine Touristenattraktion, die für Erschütterung und Entspannung gleichermaßen zur Verfügung steht.
Auch in Deutschland verwandelt sich kritische Distanz in vereinnahmenden Repräsentationsanspruch
  • Ein viertes Krisenphänomen bildet die zunehmende Ersetzung von Distanz durch Identifikation. Wie stark Geschichte als Identitätsressource beansprucht wird, lehren nicht nur Länder wie die Türkei, die seit 2007 gesetzlich verbietet, „Geschichte und die gemeinsame Vergangenheit des türkischen Volkes beleidigen“, oder Polen, dessen „Holocaust-Gesetz“ Termini wie „polnische Vernichtungslager“ ebenso kriminalisiert wie die Behauptung einer polnischen Mitverantwortung für NS-Verbrechen. Auch in Deutschland verwandelt sich kritische Distanz in vereinnahmenden Repräsentationsanspruch, wenn etwa im Konflikt um das Jüdische Museum in Berlin und den Rücktritt seines angeblich anti-israelisch eingestellten Direktors Peter Schäfer 2019 aus dem Blick geriet, dass das Museum sich ungeachtet seines Namens seit der Gründung nicht als ein jüdisches Museum, sondern als Museum über Juden verstand. Aus der Bürgergesellschaft wiederum erheben sich immer wieder Stimmen, die historisch tradierte Sichtachsen identitätspolitisch zu verändern verlangen. Im Streben nach Entmilitarisierung und Dekolonisierung des öffentlichen Raums sind Hindenburgstraßen und Carl-Peters- Plätze zu einem Konfliktfeld geworden, in dem Tradition und Benennungszusammenhang immer stärker dem Anspruch auf Identitätsschutz zu weichen haben. Nicht anders ergeht es Mohren-Apotheken und Mohren-Hotels, die vergeblich darauf pochen, seit Hunderten von Jahren so zu heißen, sondern mit dem Argument entwaffnet werden, dass egal sei, wie es einmal gemeint war oder wie Historiker das einordnen; wichtig sei, wie sich die betroffene Menschengruppe heute dabei fühlt. Die Krise des Allgemeinen ist auch eine Krise des Historischen. Sie nimmt der Vergangenheit ihr Eigenrecht und macht sie zur Projektionsfläche von konkurrierenden Zugehörigkeitsansprüchen, die gleichermaßen Identität über Historizität stellen.
...keine Rückkehr zum Vergessen 
und Verdrängen,
wohl aber einen Übergang 
zu einer Form der Auseinandersetzung 
mit historischem Unrecht 
und historischer Fehlentwicklung, 
die aufklärerische Emphase gegen 
historiografische Nüchternheit eintauscht.

Unser Umgang mit der Vergangenheit ist im Wandel begriffen. Die Erinnerungskultur, wie wir sie kennen, war in starkem Maße ein Generationsprojekt. Sie hat einen beispiellosen Siegeszug erlebt, aber sie ist mittlerweile von der Offensive in die Defensive gerutscht. Die geglaubte Sicherheit, dass die deutsche Gesellschaft aus ihrer unheilvollen Vergangenheit gelernt habe, ist einer neuen Ungewissheit gewichen. Der Abschied von der Aufarbeitung als Epoche bedeutet keine Rückkehr zum Vergessen und Verdrängen, wohl aber einen Übergang zu einer Form der Auseinandersetzung mit historischem Unrecht und historischer Fehlentwicklung, die aufklärerische Emphase gegen historiografische Nüchternheit eintauscht. Die Geschichtsschreibung in der Zeit nach der Aufarbeitung muss sich gegen geschichtsrevisionistische Umdeutungen zur Wehr setzen, und sie muss zugleich ihre Stimme gegen die Versuchung erheben, den Wertehimmel unserer Zeit auf die Vergangenheit zu projizieren. 

Und sie muss den eigentümlichen Schulterschluss von Gedenkpolitik, Geschichtskultur und Fachwissenschaft neu reflektieren, der der Berliner Republik so selbstverständlich scheint. Wenn sie es aber tut, kann die Arbeit an der Geschichte darauf vertrauen, dass die drängenden Herausforderungen der heutigen Erinnerungskultur nicht nur eine Krise bedeuten, sondern auch eine Chance.
  • Professor Martin Sabrow ist Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam.


aus: DER TAGESSPIEGEL Nr. 24 075, SONNTAG 26. Januar 2020, Beilage "NIE WIEDER", S. B7

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tja - das spüre ich inzwischen an meiner fast 40-jährigen arbeit hier vor ort zur aufarbeitung des "euthanasie"-mordprotokolls zu meiner tante erna kronshage auch: dass es nämlich zeit- und epochenabhängige aber auch persönliche innerpsychische wandlungen von "er-innerung" und "gedenken" gibt, wobei es aber "keine Rückkehr zum Vergessen und Verdrängen [geben darf], wohl aber einen Übergang zu einer Form der Auseinandersetzung mit historischem Unrecht und historischer Fehlentwicklung, die aufklärerische Emphase gegen historiografische Nüchternheit eintauscht."

für mich in meinem verständnis und in meinem praktischen alltags-umgang "übersetzt" bedeutet das, dass ich mich wohl weiterhin "empören" darf und das psychohygienisch auch muss, dass aber vor lauter abscheu und empörung "nicht der mund übergeht, wess das 'herz' voll ist" ...

in diesem zusammenhang sehe ich auch die zur zeit immer noch vereinzelt stattfindenden "prozesse" gegen "kleine" wachsoldaten in den kz's, die damals 16-/17 jahre alt waren, und direkt aus dem arbeitsdienst mitmachen mussten oder mitgemacht haben, weil es auch keine "lehre" oder "arbeit" anderweitig zu dem zeitpunkt gab - und die heute, weit in die 90, angeklagt sind wegen "beihilfe zum x-tausendfachen mord im kz xy", wo sie wachaufgaben erfüllen mussten und befehlen folge leisten - "führer befiehl - wir folgen", war ja das einzige was sie bisher gelernt hatten - und mit ihnen zig millionen deutsche auch, die nicht wegen "beihilfe" heutzutage mehr belangt werden, obwohl sie mehr oder minder diesen "tatbestand" sicherlich auch erfüllt haben - deutschland ist das tätervolk, und bis auf ein paar wenige waren alle damals mit verstrickt in irgendeiner weise und leisteten zumindest "beihilfe" - als denunzianten, als "heil-hitler"-rufer, als uniformträger, als blockwarte, als soldaten, als fürsorgerinnen, als ärzte und schwestern, als pfarrer innerhalb der sogenannten "deutschen christen", als lehrer, als chefs von unternehmen oder großbauern, die zwangsarbeiter beschäftigten und ausbeuteten usw. usf.... 

das sind für mich heuzutage falsch laufende und viel zu spät einsetzende reflexe der staatsanwaltschaften und der justiz und der politik, die meines erachtens dringend geboten einer "historiografischen nüchternheit" bedürfen.

schon vor ein paar jahren habe ich zum mordkomplex meiner tante festgestellt, dass es "den mörder" oder "die mörderin" zu ihrem gewaltsamen tod nicht geben kann, dass es sich um eine konglomerats-kette von immer schiefer und aus dem ruder verlaufenden schlägen und irrtümern handelt, die ich heute im nachhinein zwar konstatieren und erkennen, aber auch achselzuckend zur kenntnis nehmen muss, die sich aber im ns-zeitgeist des "damals" in diesem einzelfall so und nicht anders ergeben haben - und das alles war getragen von nach heutigen maßstäben wissenschaftlich begründeten falscheinschätzungen und dazu erlassenen durchsetzungs-gesetzgebungen, schlichten irrtümern, kriegswirren - ungleiche, gestörte, zumeist vertikale und nicht gelingende kommunikation, die zumeist nicht im miteinander sondern nur als massenkommunikation (radio per "volks-empfänger") stattfand - familiäre, nachbarschaftliche und amtliche fehleinschätzungen und denunziationen (nach heutiger beurteilung).

das führt dann eben 80 jahre später auch zu der spannenden und doch makaberen aber auch irgendwo resignierenden fragestellung, ob die menschen, die wegen (gezielter?) lebensmittel-unterversorgung verhungert sind - und die, deren hungertod gezielt durch nahrungsentzug bei ausreichender lokaler versorgungslage bewusst und vorsätzlich herbeigeführt wurde - wer davon jeweils zu den "euthanasie"-toten hinzuzurechnen ist, oder ... 
das sind für mich "unentscheidbare" fragestellungen, die eigentlich in sich schon etwas "verrückt" sind, aber eben der auseinandersetzung mit dieser "verrückten" zeit entspringen können.

in den jahren 1933-1945 hat dieses "deutsche reich" aufgestachelt und propagandistisch verblendet als kollektiv meiner meinung nach im massenwahn und in der massenhaften hysterie verharrt - und nur wenige konnten sich dagegen wehren oder durch flucht entziehen, ansonsten wurden sie wie auch immer mit hereingerissen in diesen strudel und auf diese immer schiefer sich neigenden ebene.

wir müssen diesen gesellschafts-pathologischen zustand individuell, in der familie, in der region und im land immer wieder gründlich aufarbeiten und verstrickungen versuchen nachzugehen und so aufzuzeigen, damit sich mechanismen abzeichnen und gegenkräfte dazu entwickeln können, innerpsychisch und gesellschaftlich und politisch, damit so etwas unterbunden bleibt. und das geschieht auf keinen fall mit "ad-acta-legen" oder herunterspielen, das gelingt nur mit umfassender, auch familiär erzieherischer, schulischer und universitärer prophylaxe, die nicht nur von außen durch fachbuch und seminar und "zeitzeugen" authentisch wachsen kann - da muss auch bei jedem einzelnen von kindauf die persönliche ethische richtschnur immer wieder neu kalibriert werden - zu einem gesunden resilienz-vermögen.

Gedenken & Erinnern


Die Aufarbeitung aufarbeiten

Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie fordert: Wir müssen die blinden Flecken beider deutschen Staaten ausleuchten - für eine Ächtung und Bekämpfung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit heute

Ist es nicht endlich genug mit der Vergangenheitsbewältigung, was können wir dafür, wenn unsere Groß- und Urgroßeltern im sogenannten Dritten Reich Mist gebaut haben? So fordern bisweilen jüngere Menschen einen Schlussstrich unter der NS-Vergangenheit. Die listige Reaktion des Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger auf frühere Einlassungen, nun sei es aber genug mit Hitler und Holocaust, war einmal: Man müsse sich auch um die Reparatur der Kanalisation kümmern, wenn die Urgroßväter sie gebaut und womöglich vermasselt haben. Die zeitgemäße Analogie sind die Brücken, die autoverrückte Babyboomer zuschanden gefahren haben und eine Generation in Stand setzen muss, die womöglich gar nicht mehr Autofahren will (oder darf). Manche Verantwortungen lassen sich nicht einfach abweisen; auch wenn die Generation der Schuldigen nun endgültig abtritt.

stolpersteine sind eine "gesamtdeutsche" gedenk- und
kunstform - der erste stein wurde 1992 vom künstler
gunter demnig im köln gelegt - inzwischen gbt es über 75.000
gedenksteine in ganz europa.
Heute geht es nicht mehr um Schuld. Aufgearbeitet werden muss heute vielmehr die Art und Weise, wie NS-Verbrechen in zwei konträren politischen Systemen bearbeitet worden sind, die heute noch kulturell gespalten wirken: eine „Aufarbeitung der Aufarbeitung“ gewissermaßen. Nicht beiläufig verlangen gerade im Westen Deutschlands sozialisierte Politiker von rechts außen wie Alexander Gauland und Björn Höcke (beide AfD) eine 180-Grad-Wende und erklären die Thematisierung des Holocaust zur nationalen Schande. Sie spekulieren auf Resonanz vor allem im Osten des Landes und verdienen genau den Widerspruch, den CSU-Chef Franz Josef Strauß 1969 zu spüren bekam, als er „Schluss mit ewiger Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftlicher Dauerbüßeraufgabe“ verlangte.

Wie und warum kam es zu den „zwei Erinnerungskulturen“ in Deutschland? Blicken wir zurück auf die „Stunde null“: 1945 lag das Deutsche Reich materiell und moralisch am Boden, Stacheldraht und Mauer spalteten es in zwei verfeindete Lager. Im Kalten Krieg war die Vorgeschichte, darunter der Holocaust, gewissermaßen eingefroren. Erst in den 1980er Jahren trat er wieder ins allgemeine Bewusstsein. Bis dahin fühlte man sich weder im Westen noch im Osten subjektiv befreit; die objektive Einordnung des 8. Mai 1945 durch den damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker löste 1985 noch Empörung aus. Im Westen redete man lieber vom „Zusammenbruch“, im Osten sprach der Begriff „Befreiung“ dem Wirken der sowjetischen Besatzer Hohn. Beide Seiten scheuten lange die Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Bombardements, vielen Gefallenen und Kriegsversehrten, drückende Reparationen, die nicht ganz so drückende Entnazifizierung, der Nürnberger Prozess gegen die Hauptschuldigen - das schien doch genug der Buße zu sein.

Deutschlandweit war die Verdrängung eine fast natürliche Reaktion; „kommunikatives Beschweigen“ bezeichnete 1983 der Philosoph Hermann Lübbe diese alltägliche Haltung, wonach man um die Schuldigen wusste, aber nicht offen über ihre Taten sprechen wollte. Lübbe meinte, dieser Akt politischer Hygiene sei der Bundesrepublik unterm Strich gut bekommen, die nächste Generation fand das nicht und forderte dagegen die radikale Selbstaufklärung über die personelle, institutionelle und mentalitätsmäßige Kontinuität über die Stunde null hinaus.

Die gar keine war, auch in der DDR nicht. Dort waren NS-Täter ebenso stillschweigend übernommen worden und war „der Schoß fruchtbar noch, aus dem das kroch“, wie Bertolt Brecht wohl nicht nur im Blick auf das „Bonner Regime“ dichtete. Er konnte in Berlin beobachten, wie in Ostdeutschland - das ist der wichtigste Unterschied - eine Diktatur in eine andere überging, während Westdeutschland nicht nur das sogenannte „Wirtschaftswunder“, sondern auch eine verordnete, dann aber mehr und mehr verinnerlichte Demokratisierung von Politik und Gesellschaft zugutekam. In SBZ (Sowjetische Besatzungszone) und DDR wurde erneut politische Justiz geübt, die Opposition unterdrückt, die künstlerische Freiheit beschnitten, es wurde weiter bespitzelt und denunziert. Die rote Diktatur unterschied sich von der braunen, sie war aber auch eine. Die teilweise Virulenz autoritärer, völkisch-nationalistischer Einstellungen in den neuen Ländern belegt, wie autoritäre Persönlichkeiten und Verhältnisse politische und individuelle Freiheiten über Jahrzehnte, oft bereits vom Kaiserreich an bis in die 1990er Jahre durchgängig einschränkten. Eine ernsthafte Aufarbeitung der Vergangenheit erfordert einen demokratischen Rahmen und eine freie Zivilgesellschaft. Was nicht bedeuten soll, autoritäre Einstellungen hätten im Westen des Landes keinen Bestand gehabt, wo ebenfalls erneut Judenhass und Fremdenfeindlichkeit zutage treten, die überwunden galten.

Die DDR kann sich zugutehalten, in der justiziellen Aufarbeitung strenger, in der Staatsbürgerkunde entschiedener und mit der Errichtung von Gedenkstätten früher am Start gewesen zu sein. Dem widersprachen aber die Form wie die Zielrichtung der Aufarbeitung, die vor allem gegen die „Globkes“ gerichtet war; so hieß Adenauers rechte Hand, ein Mitverfasser der NS-Rassegesetze. Sie verlief Top-down und war dem Kulturkampf und Systemwettbewerb untergeordnet. Die nach allseitiger Verdrängung entzündete Debatte in einer freien Presse, im öffentlichen Raum, an Schulen und Universitäten und in den Gedenkstätten war in der DDR systembedingt blockiert; Ausnahmen wie Jurek Beckers Roman „Jakob der Lügner“ und einige DEFA-Filme bestätigen nur die Regel. Mögen manche 68er im Westen ihren Furor gegen die NS-Generation übertrieben haben, dieser Aufstand fehlte im Osten Deutschlands.

So stand der Systemkonflikt einer ehrlichen Aufarbeitung im Wege. Die SED hatte es besonders geschickt anlegen wollen: Sie erklärte die BRD zum einzigen Nachfolgestaat des NS-Regimes, entzog sich damit selbst der kollektiven Verantwortung und erhob den Antifaschismus zur Staatsdoktrin. Selbst die Mauer und die Teilnahme der Nationalen Volksarmee, der NVA, an der Intervention in der CSSR 1968 wurden als Schutz gegen den Faschismus gerechtfertigt. Die frühe SED, der auch aufrechte Widerstandskämpfer gegen Hitler angehörten, wurde ihrerseits dominiert von Stalinisten, die die sozialistische Idee verrieten und eine andere Spielart des Totalitarismus exekutierten; dabei stellten sie unter dem Deckmantel des Antizionismus in den 1950er Jahren auch Juden nach.

So blieb die in der DDR geübte „Aufarbeitung der Vergangenheit“ vielfach ein hohles, oft verlogenes Ritual, das vor allem die Bonner Republik ob ihres NS-Personals in Verlegenheit bringen sollte. Damit hatte sich die DDR kollektiv ent-schuldigt und geradezu an die Seite der sowjetischen Siegermacht geschmuggelt. Die im Übrigen eine abwegige und veraltete Faschismus-Theorie geliefert hatte: Den Dimitroff-Thesen der Komintern von 1935 zufolge war der „Faschismus die höchste Stufe des Kapitalismus“, und so saß vor allem letzterer auf der Anklagebank. „Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk aber bleibt bestehen“, lautete ein Bonmot Stalins, das die schwer in dem Nationalsozialismus verstrickte Mehrheit der Deutschen kollektiv entlastete. Und weil damit der rassistische Kern des Völkermords im Dunkeln blieb, wurde offiziell vor allem kommunistischer Widerständler und sowjetischer Soldaten und Zwangsarbeiter gedacht, nicht der Millionen ermordeter und vertriebener Juden, die zudem kaum entschädigt wurden. Auch Sinti und Roma, Homosexuelle, „Asoziale“ und Opfer anderer Minderheiten wurden kaum in den Blick genommen. Solche ideologischen Blüten richteten sich gegen die politische Kultur des Westens und „Amerika“. Dieser politisch-kulturelle Antiamerikanismus verdeckte kaum die Kontinuität nationalistischen Denkens; die immer noch virulente Opfer-Legende Dresdens, von „angloamerikanischen Bombern“ zerstört worden zu sein, ist in der DDR gewachsen. Die Folge: Bis in die 1980er Jahre hinein wurden rassistische und antisemitische Neigungen, etwa bei rechtsradikalen Skinheads, als „Rowdytum“ verharmlost. Da wird ein verzerrtes Geschichtsbild zum echten Zukunftsproblem ganz Deutschlands.

Ein letztes Defizit muss benannt werden, das auch die westdeutsche Linke trifft: Eine ähnlich kritische Aufarbeitung des Stalinismus und des autoritären „Realsozialismus“ unterblieb vor 1989 und ist auch nach der „Wende“ nicht intensiv betrieben worden. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur genießt allgemein weit weniger Aufmerksamkeit als die NS-Diktatur. Darin manifestiert sich ein Ost-West-Gefälle der Geschichtspolitik, und es bleibt wohl einer wirklich gesamteuropäischen Erinnerungskultur überlassen, die mit „Holocaust“ und „GULag“ markierten Totalitarismen zu durchleuchten, darunter den für Ostmitteleuropa desaströsen Hitler-Stalin-Pakt von 1939, ohne dabei in wechselseitiger Relativierung und Gleichsetzung, Opferkonkurrenz und Aufrechnung zu verharren. Im KZ Buchenwald manifestiert sich die Überschneidung darin, dass nach deren Befreiung dort Gegner der Sowjets und der SED interniert wurden.

Das Wissen um den Holocaust nimmt Umfragen zufolge unter Jugendlichen heute eher ab als zu, während antisemitische Einstellungen auch in dieser Altersgruppe manifester werden. Zeitgemäß aufbereitet, könnte das Gedenken an den 27. Januar 1945 helfen, die Angriffe von rechts außen besser zu kontern. Dazu muss man die blinden Flecken beider Staaten ausleuchten und angemessene Schlüsse ziehen für die Ächtung und Bekämpfung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit heute. Denn in China zieht ein neuer Totalitarismus auf, der Minderheiten einsperrt und Opposition mundtot macht.
  • Claus Leggewie ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität Gießen und war bis 2017 Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Zum Thema Geschichtspolitik erschien sein Buch „Der Kampf um die europäische Erinnerung“ im C. H. Beck Verlag München 2011
aus: DER TAGESSPIEGEL Nr. 24 075, SONNTAG 26. Januar 2020, Beilage "NIE WIEDER", S. B6

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irgendwie erinnern mich die aussagen dieser zeilen von claus leggewie an ein "patt" im schach. da hat nämlich die eine seite geschwiegen und versäumt - und auch die andere seite aus anderen oft genuinen voraussetzungen nach der stunde "null" und aus irgendwelchen verdrängungsgründen heraus ebenfalls verheimlicht, umkonstruiert und einschlägige akten einbalsamiert und weggeschlossen.

den 68ern im westen immerhin billigt leggewie zwar eine vielleicht etwas übertrieben lautstarke auseinandersetzung mit der eltern- und großelterngeneration zu - aber er konstatiert auch auf der anderen seite im osten eben das gänzliche fehlen einer ähnlich aktiven oppositionsbewegung "von unten" und im wahrsten sinne des wortes "auseinander-setzen" in den familien, außerhalb des establishments, mit viel emsiger archiv-recherche und erstveröffentlichungen von erkenntnissen zu den ns-gräueltaten - erst nach einer überlangen schockstarre ab den späten 70er/frühen 80er jahren - zunächst in kleinen alternativ-verlagen und von nur einer handvoll interessierter autoren, die sich zum teil damit ihre ersten seminararbeiten für das studium zusammentippten - ehe dann der main-stream der großen verlage eine allmähliche nachfrage zu diesem geschehen ausmachte und auf diesen zug endlich mit aufsprang - und die inzwischen darauf anspringenden historiker ab den 90er jahren daraufhin ein regelrechtes spezialgebiet um "holocaust" und ns-"euthanasie" eingrenzten.

allerdings hat diese "freie marktwirtschaft" im west-literaturbetrieb unter den autoren und interessengemeinschaften in den veröffentlichungen auch rasch zu ab- und ausgrenzungen geführt - und zu debatten bis hin zu kleinen oft unfairen scharmützeln in den feuilletons und historischen verlagen, wo autoren sich gegenseitig ihre (un)aufrichtigkeit und (un)genauigkeit aufrechneten und sich gegenseitig recherchefehler vorwarfen - und es wurden auch forschungsmäßige hierarchien gebildet zu den jeweiligen opfergruppen: es wurden oft abstufungen vorgenommen zwischen "politischen" kz-opfern, opfern jüdischen glaubens, den ermordeten der "euthanasie", den homosexuellen, den sinti und roma, den zwangsarbeitern usw.

aber vielleicht hing diese gruppen- und kategorienabbildung in der "aufrechnung" mit der "ent- und aufdeckung" einzelner vernichtungsstätten und -abteilungen zusammen - auch an der unvorstellbaren menge von fast 7 mio. ermordeter menschen, jeweils durch industriell organisierte und letztlich abgestuft kleinteilig tötende teams und täterketten, die sich dazu - zum töten - den staffelstab in form der giftspritze, des gaswagens oder der erschießung weiterreichten und im laufe des unterfangens immer mehr skrupel davor verloren und sich einreihten.

da hatten dann chemische und pharmazeutische großbetriebe und konzerne oder kliniken und auch die großen überregionalen sozialeinrichtungen schon ein interesse daran, dass eine damalig einschlägige "historie" in ihrem sinne faltenfrei und glatt fortgeschrieben wurde nach der "stunde null". sie hatten sich oftmals mehr oder weniger an der massenhersherstellung etwa der vergasungsgifte und der tödlichen medikamente mitbeteiligt und damit geld verdient, bzw. hatten die sozialeinrichtungen sich direkt oder indirekt sogar an der tötung selbst mitbeteiligt - und nötigenfalls ließ man sich dann auf ein kritisches historien-gutachten eben auch mal ein "gegengutachten" von einer bezahlten koryphäe erstellen und ließ dann die gerichte entscheiden, was die "wahrheit" ist.

beide teile deutschlands  - auch in den familien und damit eben das "volk" - hatte also jeweils ihre aufarbeitungs- und abspaltungsprobleme damit, wie es weitergehen oder wie gekonnt verschwiegen werden konnte - und wie eine aufarbeitung von wem, wann und in welchem umfang vonstatten gehen sollte ...

und wolf biermann, der liedermacher aus dem osten, singt ja die zeilen:
"das kann doch nich alles gewesn sein
da muss doch noch irgend was kommen! nein
da muss doch noch leebn ins leebn
eebn" ...

und franz-josef degenhardt stimmt da ein mit:
"ärmel aufkrempeln, zupacken, aufbauen"...

und diese aufgabe bleibt: im osten wie im westen ... - jeder nach seiner facon und seiner "ge-schichte".

erinnerungsarbeit durch und durch

Kriege und ihre Folgen werden im TAMdrei im interkulturellen Stück durch die Intensität der Darstellung sehr präsent. 
Foto: Tim Ilskens/Theater - NW u. WB




Das Recht auf Erinnerung

Parallele Welten im TAM-drei: Heldentaten oder Verbrechen?

Von Burgit Hörttrich | WB

Wieso hatte der Großvater keine Freude daran, mit den Enkeln zu spielen? „Das kommt vom Krieg“, sagt die Großmutter. Ist der Onkel ein Held, weil sein Name irgendwo in einem Dorf im Kosovo auf einem Kriegerdenkmal steht? Die Großmutter erzählt von den Haustieren und von selbst gestrickten Socken, wenn es um die Vertreibung aus der Heimat geht. Oder sie erzählen gar nichts vom Krieg, die Verwandten.

Gibt es ein Recht darauf, zu erfahren, was Eltern, Großeltern, Onkel, Cousins im Krieg erlebt haben? Dieser Frage sind 16 Bielefelder zwischen 17 und 56 Jahren mit kurdischen, türkischen, kosovarischen, deutschen, serbischen, bosniakischen, ägyptischen, italienischen, syrischen und russischen Wurzeln seit mehr als einem Jahr nachgegangen. Gemeinsam mit Schauspieler Omar El-Saeidi und Theaterpädagogin Martina Breinlinger haben sie daraus ein Stück gemacht. „Krieg.Erinnern“ wurde bei der Premiere im TAM-drei gefeiert – nach minutenlangem, betroffenem Schweigen.

Familienfotos von „früher“, angefangen vom Ersten Weltkrieg, aber auch Alltagsszenen aus vermeintlich glücklichen Zeiten, sind Anknüpfungspunkte für Fragen, um Geschichten zu erzählen, Erinnerungen auszutauschen. Durchaus lustige Geschichten, aber auch solche Fragmente, bei denen der Erzähler mitunter nicht so recht weiß, ob er das, was er da erzählt, selbst erlebt hat, gehört hat, es seiner Fantasie entspringt. Buchstäblich laufend, suchen die Protagonisten nach Wahrheit. Oder doch nach Antworten. Denn die, die sie mitunter bekommen, passen nicht so recht ins Weltbild.

Berichtet wird auch von Kriegen, die in der Allgemeinheit längst in Vergessenheit geraten sind, bei den Betroffenen aber tiefe Narben hinterlassen haben. Die einen wollen reden, jedes Detail ausbreiten, die anderen am liebsten vergessen, nicht „darüber“ sprechen. Darüber zum Beispiel, dass der Großvater im Konzentrationslager gearbeitet hat, darüber, dass man ja nichts gewusst hat. Es gibt Geschichten von Versöhnung. Oder zumindest Versöhnungsversuchen.

Da ist die Sorge, dass die erlebte Erinnerung mit Tätern und Opfern stirbt, dass nur noch Bücher und Fotos, Erzählungen aus dritter, vierter Hand zurück bleiben. Das seien dann „Momentaufnahmen, die kalt werden“. Die Stück-Collage schildert bewegend emotionale Berg- und Talfahrten, wenn Angehörige befragt werden, die Skrupel, die eigenen Verwandten zu „verhören“ und auch die Angst davor, Dinge zu erfahren, die man gar nicht wissen wollte, die nichts ins eigene Denkmuster passen.

Die Mitwirkenden Mohammad Alhammadi, Derya Bal, Edda Barteit, Luca Buxel, Marwan El Sayed, Merisa Ferati, Canip Gündogdu, Daniel Heinrih, Khani Hussein, Delia Kornelsen, Giacomo Monaca, Gaye Mutluay, Ingo Nie, Demokrat Ramadani, Baris Solmaz und Ayhan Turan spielten mit großen Engagement. Sie waren sie selbst und auch wieder andere, deren Schicksale ihnen sichtbar nahe ging.

Die Projektreihe Parallele Welten mit Laien und Künstlern des Theaters gibt es bereits seit 2012 - und erzeugt große Aufmerksamkeit. So wurde 2015 das Stück „Ehrlos“ für das Welt-Amateur-Theatertreffen in Monaco nominiert und zum Theatertreffen der Jugend eingeladen.

„Krieg.Erinnern“ ist zu sehen am 10., 12. und 13. Dezember im TAM-drei

WESTFALEN-BLATT | Montag, 9. Dezember 2019 | Seite 12: Bielefelder Kultur



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Kriege und der Blick zurück

Wie ist das mit den Erinnerungen? Welche Rechte hat man an denen der vorherigen Generationen? Und wenn sie sich erinnern, sind diese dann wahr? Oder sind sie nicht vielmehr immer subjektiv und selektiv?

Von Christiane Buuck | NW

„Krieg. Erinnern“ lautet der Titel des aktuelles Stücks in der Projektreihe „Parallele Welten“ des Theaters Bielefeld. Ein Jahr lang haben die Mitspieler zwischen 17 und 62 Jahren unterschiedlichster Herkunft mit Menschen aus verschiedenen Ländern gearbeitet, deren Erinnerungen aufgeschrieben und szenisch umgesetzt. Dabei ging es um die zentrale Frage, wie subjektiv und selektiv Erinnerungen sind. Können sie wirklich die Wahrheit abbilden?

Unter der Leitung von Theaterpädagogin Martina Breinlinger und Schauspieler Omar El-Saeidi hatten sich die Mitspieler mit kurdischen, türkischen, kosovarischen, serbischen, ägyptischen, italienischen, syrischen, russischen und deutschen Wurzeln ein Jahr lang mit diesen Fragen auseinandergesetzt und sie szenisch umgesetzt.

Bei der Premiere am Samstag im TAMdrei hatte die Aufführung bereits begonnen, als die Zuschauer sich ihre Plätze suchen. Auf dem Boden sitzend schauen sich die Spieler alte Familienfotos an und unterhalten sich darüber. Die Familien der Spieler sind größtenteils Opfer eines Krieges. Ein Teil ihres Lebens, an das sie bisher nicht erinnert werden wollten, wurde von ihren Kindern hinterfragt. Kriege und deren Folgen werden durch die Schilderungen sehr präsent in dem kleinen Theaterraum, die Barriere zwischen Darstellern und Zuschauern verschwimmt. Diese Nähe wirkt so manches Mal – insbesondere für die erste Reihe – fast beängstigend und bei der Bewegungs- und Gefühlsintensität, mit der die Darsteller präsent sind, berührt und entsetzt der Inhalt des Vorgetragenen das Publikum. Das Erlebte, die Ängste und das Grauen der Kriege bekommen Gesichter. Die Zuschauer verfolgen Diskussionen um Fragen wie „Was bedeutet es, Pazifist zu sein?“, „Was ist wahr?“ und nicht zuletzt auch die Frage nach der Schuld. In einer Clown-Maske setzt Canip Gündogdu dem entgegen: „Ich will nicht von Dingen sprechen, von denen ich keine Ahnung habe.“ Aber wie bildet man sich eine eigene Meinung, da doch Gedanken und Gefühle von Kindheit an gelenkt werden – im Elternhaus oder auch von den Medien ?

Nach der Premiere sind alle erleichtert, Mohammad Alhammadi gibt zu, große Angst vor dem Auftritt gehabt zu haben, doch: „Ich will, dass die Kriege aufhören!“ Alle haben Mut bewiesen und Großartiges geleistet an diesem Abend, gerade, weil sie auch ganz viel von sich selbst Preis gegeben haben. Die Zuschauer waren mehr als nachdenklich – dieses Stück, so grandios es auch ist, ist schwere Kost und wirkt noch sehr lange nach.

NEUE WESTFÄLISCHE | Dienstag 10. Dezember 2019 | S. 19: Lokales Bielefeld 

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genau die hier sich offenbarenden fragen und antworten und  wirklichkeiten und behauptungen und auch das eiserne beschweigen mancher zeugen, denen es die sprache verschlagen hat - das sind die themen einer zeitgemäßen erinnerungs- und gedenkkultur, so wie sie - vielleicht auch durch aktives rollenspiel - einer jungen generation vermittelt werden können, wenn die zeitzeugen selbst allmählich die bühne verlassen.

damit lässt sich dann in szene setzen, was jetzt auch noch von den traumatisierten selbst oder eben auch von kindern, enkeln und urenkeln und neffen und großnichten er-innert wird.

schon das wort er-innern - ist für mich jedenfalls die physische umkehrung des verinnerlichens - also sousagen die "schluckauf"- und "aufstoß"-variante verinnerlichter geschehnisse, die selbst erlebt oder durch verbale und auch nonverbale überkommene erzählungen in uns herumschwirren - und die sich "gehör" und "wahrnehmung" verschaffen wollen.

denn sie sind für alle menschen, egal welcher religiöser wurzeln, staatsangehörigkeit und hautfarbe und welchen geschlechts, egal welchen alters oder welcher sexueller orientierung, profilierende und beeinflussende fakten, die ein "lebenslänglich" in irgendeiner weise prägen.
Magnetresonanztomographie-
Aufnahmen eines menschlichen 
Gehirns

und damit das "herumschwirren" in uns, auf welcher art auch immer, nicht "überhand" nimmt und pathologische nuancen ausbildet, sollten wir das, was nach außen drängt, auch nicht einfach quasi "unverdaut" wieder herunterschlucken, sondern "ausspucken" im weitesten sinne: wir sollten uns endlich mal "um kopf & kragen reden", die "seele aus dem leib" reden, ja uns mal "auskotzen", sollten einfach losstammeln und das ausdrücken, was wir da vom uropa wissen, oder von der tante, oder was wir an mitteilungshemmnissen an der eigenen mutter beobachten können oder konnten.

das sind die spuren, die in jedem von uns gelegt sind - und die uns - direkt und indirekt - berühren und betreffen - von denen wir abhängig sind.

und solche "improvisations"-elemente auf den tatsächlichen "brettern, die die welt bedeuten", also im profesionellen theater, sollten vielleicht auch in schul-kursen und laienspielgruppen unter dieser prämisse ergründet, erarbeitet, dargestellt - und so zum allgemeinen erhaltenswerten kulturgut werden, da wo er-innerung "hautnah" gelebt und ausgelebt werden kann, damit sie tatsächlich verinnerlicht, integriert und zum gesunden bestandteil des ich wird.

es sind quasi stolpersteine, vor denen man nicht stutzt, um sie zu lesen - sondern innerlich gelegt, um genauso innerlich und tatsächlich im miteinander drüber zu stolpern...


jugendvolxtheater bethel in dem stück "ich will leben", 2018

noch ein beispiel dazu siehst du auch hier...