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Die haben nur nach rechts oder links gewinkt

75 Jahre Befreiung von Auschwitz 
Das verunsicherte Gedenken



„Vorne standen SS-Offiziere“, erzählt der 90-jährige Auschwitz-Überlebende Peter-Johann Gardosch, seinem 13-jährigen Zuhörer. „Die haben nur nach rechts oder links gewinkt.“

Links war das Leben, wenn auch ein elendes, am Rande des Todes, in Zwangsarbeit. Rechts war der Tod, die Gaskammer.

Links oder rechts? Leben oder Tod?

Mindestens 1,1 Millionen Menschen ermordeten Deutsche allein in Auschwitz. Und in diesem Moment an der Rampe ist das ganze Grauen der industriell organisierten Vernichtung enthalten: Das Lapidare der Worte und Gesten im Kontrast zu ihrer unumkehrbar grausamen Folge, die kaum vorstellbar große Zahl der Ermordeten – all das, was Auschwitz bis heute zu einem der wirkmächtigsten Symbole für die deutsche Vernichtungsmaschinerie macht und besonders für die Shoa, denn der überwiegende Teil der Ermordeten waren Juden.

Die Leichtfertigkeit, mit der heute Deutsche im Internet den Tod anderer Menschen fordern, sich das Ertrinken von Flüchtlingen wünschen, Juden mit Mord drohen und Frauen mit Vergewaltigung; die Willkür und das Lapidare gepaart mit dem Maximalgrausamen, das ist dasselbe Böse. Es ist dieselbe furchterregende Gleichgültigkeit, die Elie Wiesel an jenem SS-Mann wahrnahm; der gleiche kranke Geist, der das Leben mit einem Wort vernichtet: Links. Rechts.

Das sehen zu können, ist der Wert des Gedenkens. Aber um die neuen Erscheinungsformen des Bösen zu erkennen, wappnet uns die Erinnerung schlecht. Wir sagen uns seit Jahrzehnten, dass sich Geschichte nicht wiederholt – und suchen doch nach historischen Symptomen: Den Blick fest auf den Nationalsozialismus geheftet, fürchten wir uns vor allem vor organisierter Gewalt, vor Massenaufmärschen, vor Parteien und Anführern. Wir tun uns hingegen schwer, die Gefahr zu sehen, wenn sich Rechtsradikale wie der Attentäter von Christchurch und der Attentäter von Halle gegenseitig über das Internet infizieren, wenn wir es mit vermeintlichen Einzeltätern zu tun haben. Wir trösten uns damit, die AfD von Regierungen auszuschließen.

Das Gedenken ist unersetzlich, denn es hilft uns, die Essenz des Bösen zu erkennen. Nicht aber seine Form. Wir dürfen nicht allein fragen: Wie war es? Sondern: Wie könnte es sein? Es braucht Wachsamkeit. Wir können von den Opfern nicht länger erwarten, dass sie uns vor uns selbst retten. Wir müssen es selbst tun.

Auszug aus einem Essay von Anna Sauerbrey im Tagesspiegel vom 27.Januar 2020: dem "Tag der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus", dem Tag, als vor 75 Jahren Auschwitz befreit wurde.




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