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die interne auseinandersetzung mit dem "frieden" nach einem verheerenden krieg

Zeitungs-Schlagzeilen vom 08.Mai 1945
„Eine große Zäsur, aber keine Stunde Null“

Der Historiker Daniel Siemens über das Endes des Weltkrieges vor 75 Jahren, wie eine moderne Gedenkkultur aussehen könnte und warum es so schwer ist, aus der Geschichte zu lernen. Der 8. Mai sollte in Deutschland zu keinem Feiertag werden. Der aus Bielefeld stammende Historiker Daniel Siemens lehrt und forscht an der Universität von Newcastle. 

Herr Siemens, was geht uns das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren heute noch an?

Daniel Siemens: Für die allermeisten Menschen ist das zunächst einmal ein historisches Datum und nichts, was man noch aus eigenem Erleben kennt. Dennoch ist es nach wie vor sehr wichtig für die politische Kultur dieses Landes. An das unermessliche Leid, die 60 Millionen Toten des Zweiten Krieges, dem Holocaust und die deutsche Verantwortung zu erinnern, bleibt zentral. Das Ende des Krieges ist ein für die Geschichte des 20. Jahrhunderts bedeutender Einschnitt, der übrigens auch positive Seiten hatte.

Wie meinen Sie das?

Siemens: Damals wurden ja tatsächlich Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen. Es galt, eine dauerhafte Friedensarchitektur zu schaffen, also durch internationale Kooperationen weitere weltumspannende Kriege in Zukunft nach Möglichkeit zu verhindern. In diesem Sinne könnte man am 8. Mai auch an diese optimistische Phase des Neubeginns erinnern, etwa die Gründung der Vereinten Nationen im Juni 1945. Aus diesem Geist sind dann später noch viele weitere internationale Organisationen entstanden, etwa der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Aus meiner Sicht ein Weg, auf dem die Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts recht gut unterwegs gewesen ist.

Nun scheint aber das Zeitalter der globalen Kooperationen gerade zu verblassen, wenn nicht gar zu enden?

Siemens: Es sieht tatsächlich so aus, als ob hier gerade etwas in die Brüche geht. Aber noch sitzen die USA, China, Russland und die anderen Vetomächte im Sicherheitsrat der UN gemeinsam an einem Tisch. Was auch immer man über diese Art der Weltregierung denkt, es ist jedenfalls eine Ordnung, die unmittelbar mit dem Kriegsende vor 75 Jahren zusammenhängt. 1945 war eine große Zäsur für die Welt, wenn auch keine Stunde Null.

Warum war der 8. Mai keine Stunde Null, wie oft behauptet wird?

Siemens: Obwohl das Ende des Zweiten Weltkrieges in vielen Ländern tiefe Einschnitte zur Folge hatte, haben die Menschen natürlich nicht einfach ihre Einstellungen, weder ihre guten noch ihre schlechten, über Bord geworfen. Wie sollten sie auch? Von einer Stunde Null im Sinne von Tabula rasa, einem Neubeginn ohne die Prägungen der Vergangenheit, kann daher keine Rede sein.

Die deutsche Erinnerungskultur, die spät, aber dann sehr intensiv Fahrt aufnahm, gilt vielen heute als vorbildlich. Wie bewerten Sie diese?

Siemens: Nach der bedingungslosen Kapitulation war klar, dass die Deutschen ihre Handlungsmacht weitgehend eingebüßt hatten und zudem durch die Verbrechen des NS-Regimes schwer kompromittiert waren. Wollte man international Respektabilität zurückgewinnen, musste man sich dieser Situation stellen und etwa materielle Wiedergutmachung leisten. Westdeutschland bemühte sich daher seit den frühen 1950er Jahren um einen Ausgleich mit Israel und jüdischen Organisationen wie der Claims Conference. In Ostdeutschland galt das Hauptaugenmerk fast ausschließlich den politisch Verfolgten, etwa den von den Nazis verfolgten Kommunisten. Moralische Erwägungen standen anfangs deutlich weniger im Vordergrund bei der Überlegung, sich der Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust zu stellen. Das änderte sich erst mit der nächsten Generation, die die Frage der moralischen Schuld annahm, intensiv in den Fokus rückte und die deutsche Erinnerungskultur fortan prägen sollte.

Wie vorbildhaft ist diese?

Siemens: Ich finde, das ist eine Frage, die – wenn überhaupt – Menschen anderer Länder beurteilen sollen. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Generation der Kinder und Enkel der NS-Täter sich diese Frage der moralischen Schuld tatsächlich intensiv angenommen hat. Der deutsche Philosoph Karl Jaspers hatte dies schon unmittelbar nach Kriegsende gefordert, fand damit aber zunächst wenig Gehör. Offenbar ist etwas zeitlicher Abstand nötig, um kritisches Erinnern in Gang zu bringen.

In den vergangenen Jahren ist die Forderung nach einem Schlussstrich unter der Auseinandersetzung mit den Themen Zweiter Weltkrieg, Holocaust und NS-Regime immer lauter geworden und hat durch die AfD neuen Auftrieb erfahren. Muss wirklich mal Schluss sein nach 75 Jahren im Büßergewand, wie manche fordern?

Siemens: Die meisten, die heute so argumentieren, haben das Büßergewand nie getragen. Das ist zunächst einfach mal eine politische Behauptung zu politischen Zwecken. In diesem Diskurs geht es gar nicht um das Gedenken an die Vergangenheit. Vielmehr ist es ein kalkulierter Angriff auf einen Grundpfeiler der bundesdeutschen Demokratie. Über Formen des Gedenkens kann man natürlich streiten – aber nicht alle sind dazu gleichermaßen legitimiert.

Wie kann denn die Erinnerung lebendig gehalten werden, denn mit jedem Jahr rückt sie ein Stück weiter weg von uns?

Stolperstein Erna Kronshage
Siemens: Wir müssen uns in der Tat Gedanken darüber machen, wie sich jede Generation neu mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzen kann. Die Muster der vorhergehenden Generationen sind nicht für alle Zeit in Stein gemeißelt. Wenn heute junge Leute sagen, die Art und Weise, wie wir der NS-Vergangenheit gedenken, das sagt mir nichts mehr, dann liegt darin auch eine Chance, über neue Wege der Vermittlung nachzudenken. Da heißt aber eben nicht, einen Schlussstrich zu ziehen.

Wie kann Erinnerung heute aussehen?

Siemens: Das Herausgreifen von Einzelschicksalen ist eine sehr gute Methode, um Menschen die NS-Verbrechen, aber auch die politische und moralische Ordnung, die diese Verbrechen hervorgebracht hat, nahezubringen. So wird Geschichte anschaulich und bleibt nicht abstrakt. Wichtig ist es aus meiner Sicht aber auch, den internationalen Jugendaustausch stärker zu intensivieren. Menschen mit unterschiedlichen Vorprägungen über die Vergangenheit miteinander in Gespräche zu verwickeln, ist ein sehr taugliches Mittel, um das Gedenken auf europäischer Ebene lebendig zu halten und über unterschiedliche Sichtweisen und Standpunkte zu debattieren.

Sollte der 8. Mai, der Tag der Befreiung, hierzulande zum Feiertag erklärt werden, um ihn stärker ins Bewusstsein zu rücken?

Siemens: Auch wegen der Ambivalenz dieses Datums denke ich nicht, dass wir diesen Tag zum Feiertag erklären sollten. Über das Kriegsende und das Ende der NS-Herrschaft kann man auch ohne Feiertag nachdenken.

Wenn wir Erinnerungstage wie den 8. Mai begehen, dann schwingt immer auch die Hoffnung mit, dass wir Menschen aus der Geschichte etwas lernen. Geht das überhaupt?

Siemens: Natürlich ist der Mensch lernfähig, sonst gäbe es zum Beispiel überhaupt keine Wissenschaften. Daher können Menschen natürlich auch aus der Geschichte lernen, aber eben nicht im Sinne einer konkreten Handlungsanweisung. Die Analyse der Vergangenheit stellt uns allenfalls Argumente bereit, die wir daraufhin überprüfen können, ob sie für uns in unserer aktuellen Situation hilfreich sein könnten. Aber die Entscheidung selbst, welche Wege wir einschlagen, kann uns die Geschichte niemals abnehmen.

Obwohl der Holocaust von diesem Land ausging und es die schon erwähnte starke Erinnerungskultur gibt, erleben wir seit einigen Jahren einen wiedererstarkenden Antisemitismus. Wie erklären Sie sich das?

Siemens: Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Antisemitismus zuletzt wirklich angewachsen ist. Der war ja auch in Jahrzehnten zuvor virulent. Ich habe eher den Eindruck, dass jetzt manche beginnen, beflügelt durch den Aufstieg der Rechtspopulisten, ihre antisemitischen Einstellungen offener zu äußern. Man sollte hier keine falschen Hoffnungen haben: Egal wie viel Aufklärungs- und Bildungsarbeit wir betreiben, es wird auch in Zukunft Menschen mit antisemitischen und rechtsradikalen Einstellungen geben. Es muss darum gehen, dass diese Menschen den gesellschaftlichen Diskurs in Deutschland nicht bestimmen dürfen. Das ist der Gedanke der „wehrhaften Demokratie“. Toleranz ist wahrlich nicht angesagt in der Auseinandersetzung mit Rechtsradikalen und Antisemiten.

Ist das Ende des Zweiten Weltkrieges ein Ereignis, das für immer zentral sein wird?

Siemens: Historiker sind meist schlechte Prognostiker. Dennoch: Auch in Hunderten von Jahren werden der Zweite Weltkrieg und der Holocaust noch zentrale Ereignisse der Menschheitsgeschichte sein. Diese Ereignisse sind viel zu groß, als dass wir je mit ihnen ganz fertig werden könnten.

Das Interview führte Stefan Brams | NEUE WESTFÄLISCHE
aus: NW, 06.Mai 2020, Seite 3

Zur Person 
Daniel Siemens, geboren 1975 in Bielefeld, ist seit 2017 Professor für Europäische Geschichte an der Universität von Newcastle in Großbritannien. 
Auf deutsch erschien von ihm zuletzt das Buch „Sturmabteilung. Die Geschichte der SA“ (Siedler Verlag, München, 2019, 592 S.). 
Aktuell arbeitet Siemens an einer Biografie des Journalisten Hermann Budzislawski sowie an der Geschichte der United Restitution Organization (URO), einer nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten jüdischen Rechtsschutzorganisation für Opfer des Holocausts und ihrer Angehörigen.
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jede generation wird ihre geschichten erzählen oder denken müssen zum 2. weltkrieg. mit seinen verwüstungen und massenmorden und seinem verantwortungslosen beginn und seinem erbärmlichen ende. und den folgen mit den historischen umwälzungen in der welt - mit den neuordnungen, vertreibungen, flucht, ansiedlungen, urbarmachungen - und all den "neuen ufern", die so ein tiefgreifendes umpflügen alles bisher dagewesenen im (er)leben mit sich bringt.

und jede generation wird sich auf ihre art & weise erinnern und erzählen - oder auch schweigen, weil es ihr die sprache verschlagen hat - aber es dann in ihren herzen bewegen müssen.

jede generation wir sich stellen müssen, wird stellung beziehen müssen zu diesem komplexen konglomerat aus nationalistischen verirrungen, blut & boden denken, herrisches rassedenken (..."über alles in der welt..."), dem "ausmerzen" der weniger leistungsfähgigen und kranken als "ballastexistenzen", dem verleumden und denunzieren und anschwärzen des "andersdenkenden" von nebenan - aber auch die verstrickung der eigenen familie in all dem wust von aspekten, die diese ereignisse mit sich brachten und bringen - "bis ins 3. und 4. glied", wie es die bibel in der übersetzung luthers formuliert - und was die modernen psychodynamischen forschungen auch der transgenerationalen weitergabe und übertragung traumatischer erfahrungen über die generationen voll bestätigt.

also mit dem 8. mai 1945 war zwar historisch der krieg zu ende, aber in den generationen setzt er sich jeweils in irgendeiner weise fort in der verarbeitung, in den schrecken, in den (tag)träumen, in den ängsten, in den späten rechtfertigungen.

bei aller verdrängung ist also irgendwie doch jede und jeder mit der eigenen familiengeschichte mitbeteiligt. und für alle "war da was", was nach worten und begriffen und stellungnahmen und "haltung" ringt, schon zur eigenen psychosomatischen prophylaxe - vergleichbar vielleicht aktuell in der corona-pandemie mit einer virtuell anzulegenden innerpsychischen "mund-/nasenmaske" zum schutz - im erwachsen einer ureigenen haltung im leben mit all den innerpsychischen kriegsfolgen und -verarbeitungen - in der eigenen person und in der familie - in der gesellschaft - ein jeglicher nach seiner art & weise ...