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8. Mai 1945: Tag der Befreiung vom Faschismus


8. Mai 1945: Tag der Befreiung







mit verstrickt: die nazis sind wir - nicht "die anderen"

© Can Stock Photo





Großeltern im Zweiten Weltkrieg

Die Nazis, das waren wir

Unser Autor hat seine Großeltern nie nach ihrer Rolle im Krieg gefragt. Jetzt fühlt er sich schuldig. Wie umgehen mit dem deutschen Erbe, wenn alle Zeugen tot sind?

Ein Essay von Hannes Leitlein | ZEIT online

Wenn Oma vom Krieg erzählt hat, saß sie in ihrem Sessel, ich auf dem Sofa. Sie weinte oft, ich kämpfte mit der Müdigkeit in ihrer viel zu warmen Stube. Manchmal lief der Fernseher, Oma schaute gerne Bingo!. Sie erzählte von Bomben, von der Flucht, davon, dass ihr Vater Eisenbahner war und tagelang als vermisst galt und sie schon dachten, er sei tot. Je näher ihr eigener Tod rückte, desto öfter bestimmten diese Erinnerungen unsere Treffen.

Für Oma hat der Zweite Weltkrieg 1944 angefangen. In Crailsheim, der Kleinstadt im Nordosten Baden-Württembergs, in der sie aufgewachsen ist, gab es einen Flugplatz der Luftwaffe und einen wichtigen Bahnhof. Beide wurden ein Jahr vor Kriegsende Ziel alliierter Luftangriffe. Am 20. April 1945, knapp drei Wochen vor der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, wurde Crailsheim durch US-amerikanische Bomber fast komplett zerstört. Oma suchte mit ihren Schwestern Schutz im Keller, dann flohen sie aus der Stadt. Erst versteckte ihr Vater sie im Wald, später kamen sie auf dem Hof von Verwandten unter. Es fiel ihr schwer, über diese Zeit zu sprechen. Meine Eltern sind auf württembergischen Bauernhöfen aufgewachsen. Da wurde überhaupt nicht viel geredet, schon gar nicht über den Krieg, es gab ja immer etwas zu tun.

Meine Oma ist Jahrgang 1936. Als Crailsheim zerstört wurde, war sie gerade mal acht Jahre alt. Sie ist 2015 gestorben. Fragen kann ich sie nicht mehr. Auch meine anderen Großeltern sind tot, auch sie habe ich nie auf ihre Erinnerungen angesprochen, schon gar nicht auf die Verstrickungen unserer Familie in die deutsche Nazigeschichte. Man könnte sagen, das ist nun eben so, Chance verpasst. Doch mich ärgert mein Schweigen, besonders am 8. Mai, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Mein Unterlassen fühlt sich an, als hätte ich nicht genug getan zur Wiedergutmachung und damit die deutsche Schuld fortgeschrieben.

Nur einmal habe ich Oma gefragt, ob sie etwas mehr erzählen mag. Das war einige Zeit nach Opas Tod, als mir klar geworden war, dass ich ihn nicht mehr fragen kann. Doch wieder erzählte sie nur von ihrem Leid der letzten Kriegstage – und ich hatte nicht den Mumm, trotz ihrer Tränen nachzuhaken. Was hat Opa im Krieg gemacht? Wusste dein Vater, mein Uropa, als Eisenbahner nichts von den Deportationen? Crailsheim hatte laut Bundesarchiv mindestens 53 jüdische Einwohnerinnen und Einwohner. Bist du, Oma, womöglich sogar mal den Jüdinnen und Juden in deiner Stadt begegnet? Wärst du gerne zur Hitlerjugend gegangen?

53 Prozent der Bundesbürger wollen 75 Jahre nach Kriegsende lieber einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen. Das hat kürzlich eine Umfrage der ZEIT ergeben. 53 Prozent Zustimmung auch zu dieser Aussage: "Die Masse der Deutschen hatte keine Schuld, es waren nur einige Verbrecher, die den Krieg angezettelt und die Juden umgebracht haben." Eine deutliche Mehrheit findet, dass das ständige Erinnern "ein gesundes Nationalbewusstsein" verhindert. Was immer das sein soll. Immerhin sprechen sich 77 Prozent der Befragten dennoch für ein Erinnern und Gedenken aus. Aber meinen sie echte Auseinandersetzung mit der eigenen Schuldgeschichte, den Taten und zumindest dem Geschehenlassen der eigenen Familie? Wie ernst ist es uns Nachfahren mit der Aufarbeitung? Und ist mein Unterlassen nicht implizit auch eine Art Schlussstrich? Was unterscheidet mich, der ich meine Großeltern lieber in Ruhe lassen wollte, von jenen, die von der deutschen Geschichte lieber nicht mehr behelligt werden wollen?

Nur ein Überzeugungstäter

Ich könnte von Glück sprechen: Meine Familie ist nicht sonderlich belastet. Alles, was ich bisher in Erfahrung bringen konnte, deutet darauf hin, dass sie alle entweder noch zu jung waren oder als Müller, Bauern und Förster an anderer Stelle dringender gebraucht wurden. Dass allerdings mein Uropa als Eisenbahner nichts mitbekommen hat von den Deportationen der Crailsheimer Jüdinnen und Juden nach Dachau, Auschwitz, Theresienstadt und ins Warschauer Ghetto, ist kaum vorstellbar. Hat er nie davon erzählt?

Mein Opa mütterlicherseits war zwar 1944 in Oberstaufen gewesen, zur Vorbereitung auf den Krieg gegen Russland, da war er 16. Die Front aber blieb ihm (und mir?) erspart. Der Kurier mit dem Stellungsbefehl wurde unterwegs getötet. Ob er Nazideutschland verteidigt hätte, wie er zu Hitler stand — ich weiß es nicht. Ich kann nur hoffen, dass sich meine guten Erinnerungen an ihn decken mit der Wirklichkeit. Oma wäre wohl gerne hingegangen, zur Hitlerjugend, aber sie durfte nicht. Auf dem Hof wurde jede helfende Hand gebraucht. Meine Mutter nennt das: "das Glück, nicht überall dabei gewesen zu sein".

Nur ein Bruder meines Uropas war mit 19 Jahren in die NSDAP eingetreten, seine Ahnentafel dokumentiert das. Dort steht "Tätigkeit im öffentlichen Leben: NSDAP seit 1. Oktober 1931, Zellenleiter". Damit stand er in der Parteistruktur sechs Ränge unter dem Führer, er hatte vier bis acht Blocks zu verwalten und die dazugehörigen Blockwarte unter sich. Ein Bild von Onkel Emil hing, so erzählt es meine Mutter, noch lange im Zimmer der Großmutter, der Stammbaum der Familie war auf der Rückseite versteckt. Emil ist in Russland gefallen. Wie war das, einen überzeugten Nazi zum Onkel zu haben? Und war er der einzige Überzeugungstäter, oder nur der einzige in der Partei?

Väterlicherseits ließ sich noch weniger herausfinden. Hier wurde noch weniger geredet, wobei mir diese Seite der Familie schon als Kind autoritärer und irgendwie verdächtiger vorkam. Die Sprüche bei Geburtstagen waren derber, da wurde auch mal gegen Ausländer gehetzt, auch die familiären Zerwürfnisse liegen offener da. Womöglich deutet das Schweigen über die Nazijahre nur auf größere Schuld hin. Ich werde weiter suchen müssen.

Nazideutschland war nie wirklich weg.

Natürlich habe ich, wie alle Schülerinnen und Schüler in Deutschland, das Standardprogramm antifaschistischer Bildung auf dem Stand der Neunzigerjahre durchlaufen. Ich habe Anne Franks Tagebuch gelesen, American History X gesehen und fand den Film krass. Ich hatte einen engagierten Geschichtslehrer, wir besuchten das ehemalige Konzentrationslager in Dachau. Was ich dort gesehen habe, hat mich betroffen gemacht, erschreckt, und sicher war der Besuch auch Teil meiner politischen Initiation. Aber Dachau hatte nichts mit mir zu tun. Nie in all den Jahren hat mich jemand auf meine Familie angesprochen und ob es da womöglich einen Zusammenhang geben könnte. Erst Jahre nach der Realschulreife fügten sich langsam die Bilder aus dem Geschichtsbuch zusammen mit denen aus unseren Familienfotoalbum. Die Nazis, realisierte ich, das waren wir – und dieses Wir, das sehe ich heute, war nie wirklich weg.

Als Kinder erzählten wir uns sogenannte Judenwitze, die eigentlich antisemitisch waren. Witze, die die Schoah verharmlosten, die Deportationen, die Morde, das millionenfache Leid in den Gaskammern. Wir hatten sie aufgeschnappt am Stammtisch, auf Schützenfesten, bei Familienfeiern. Ich habe diese vermeintlichen Witze noch heute im Kopf. Ich wäre froh, ich könnte sie löschen. Genauso wie den erhobenen rechten Arm eines Schulfreundes mit türkischem Vater, der aus Wut auf Aussiedler, die ihn verprügelt hatten, plötzlich ganz und gar Deutsch sein wollte. Oder die Mottowagen der Jugend im Dorf beim Fasching, die jedes Jahr aufs Neue kreativ Militär und Krieg zu verharmlosen wussten. Auch bei uns gab es sogenannte Neonazis, wobei mir bis heute nicht ganz klar geworden ist, wo da der Bruch mit der ursprünglichen Tradition stattgefunden haben soll, was genau neo an ihrem Hass sein soll. Meistens saßen sie nur zum Saufen in ihren Bauwagen, von denen es am Rand jedes zweiten Dorfes einen gab, geduldet von der Dorfgemeinschaft. Doch immer mal wieder rastete einer von ihnen aus, sie verprügelten, wen sie für einen Ausländer hielten. Ich blieb verschont, ich war ja Deutscher.

Natürlich war ich anders als sie, ich war Schlagzeuger in einer Möchtegern-Punkband. Als Schülersprecher initiierten wir einen Tag gegen Rassismus an der Schule, ermahnten Mitschüler, wenn wir sie der Fremdenfeindlichkeit verdächtigten. Mit den sogenannten Fremden selbst, von denen es im Dorf sowieso nur wenige gab, hatten auch wir kaum zu tun.

Wer bin ich, mich für irgendwie besser zu halten?

Erst mit Anfang Zwanzig fiel mir auf: Jüdinnen und Juden kannte ich nur als Leichenberge auf Schwarzweißfotos. Ich wusste, wo der jüdische Friedhof war, weil er regelmäßig geschändet wurde. Doch ich hatte keine Ahnung, was die Menschen, die dort begraben lagen, glaubten. Wie sie lebten. Ich wusste gar nicht, was Juden sind. Selbst all die Widerstandskämpfer, deren Biografien ich gelesen hatte – Bonhoeffer, die Geschwister Scholl – sie wären unter den Nazis nicht aufgefallen, hätten sie sich nicht für den Widerstand entschieden. Sie hatten einen Ariernachweis und somit eine Wahl. Selbst der Theologe, Journalist und Dichter Jochen Klepper, dessen Frau Jüdin war, hatte eine Wahl. Sie nicht.

Und genau das ist es, was bis heute die Grenze markiert: Es gibt Menschen wie mich, die wählen können, ob sie Fragen stellen, sich einsetzen für andere, und es gibt die anderen, die keine Wahl haben, wenn sie überleben wollen. Ich kann mich mit meiner Geschichte beschäftigen, anderen wurde sie durch Flucht und Vertreibung genommen. Ich kann meine Familie befragen, ihre Hinterlassenschaften oder die Archive, anderen wurde der Stammbaum gefällt.

Meine Vorfahren standen auf der Seite der Täterinnen und Täter, nur mehr oder weniger glückliche Zufälle führten sie nicht tiefer hinein in den Apparat. Sie richteten wahrscheinlich nie eine Waffe auf jemanden, auch waren sie nicht am bürokratischen Teil des Massenmordes beteiligt. Und doch, sie machten mit. Aber wer bin ich, mich davon zu distanzieren oder gar für irgendwie besser zu halten? Würde ich rebellieren und mein Leben aufs Spiel setzen, wenn es ernst wird? Würde ich überhaupt erkennen, dass es ernst geworden ist? Ist es vielleicht schon so weit?

Der einzige Name auf der Liste der Opfer des NSU, den ich ohne nachzugucken schreiben kann, ist Michèle Kiesewetter. Die einzige weiße Deutsche auf der Liste der zehn Toten. Wieder könnte ich mich rausreden: Sie ist nun mal in Heilbronn ermordet worden, wo ich meine erste Ausbildung gemacht habe. Ich war mal in einem Gottesdienst, in dem die Schwester ihres Kollegen, der lebensgefährlich verletzt überlebt hat, gesprochen hat. Doch es wäre eine faule Ausrede. Es fällt mir bis heute oft schwer, mir nicht deutsch klingende Namen zu merken, geschweige denn, sie zu schreiben. Ich muss es mir vornehmen, sowie ich mir immer wieder vornehmen muss, meine Familiengeschichte als Aufgabe zu begreifen.

Es ist gerade mal elf Wochen her, dass ein weißer Rassist neun junge Hanauer in zwei Shishabars tötete. Am 9. Oktober vergangenen Jahres hat ein weißer Antisemit mit vier Schusswaffen und Dutzenden Sprengsätzen versucht, in die jüdische Synagoge in Halle einzudringen. Vier Monate vorher tötete ein Rechtsextremist den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, weil dieser sich für Flüchtlinge einsetzte.

Derzeit wird in deutschen Feuilletons energisch über den schwarzen Theoretiker Achille Mbembe gestritten, ob er denn nun antisemitisch sei, während die weiße Komikerin Lisa Eckhart offen antisemitische Witze im Fernsehen erzählt, die wiederum von derselben Intendanz verteidigt werden, die sich vor Kurzem noch über einen Kinderchor echauffierte, der sich in einem Lied über alte Leute lustig machte. Auch hier war offenbar der Zusammenhalt in der Familie stärker, als die Solidarität. Tom Buhrow entschuldigte sich im Dezember für den Beitrag. Der WDR-Chef sagte, sein Vater habe sein Leben lang gearbeitet und versucht, anständig zu leben, er sei keine Umweltsau. Die Komikerin und ihren Antisemitismus dagegen verteidigt der Sender nun mit Bezug auf die Satirefreiheit. Auch WDR-Intendanten haben die Wahl, womit sie sich gemein machen.

Meine Oma kann ich nicht mehr fragen, ich kann ihr auch kaum einen Vorwurf machen. Sie war mit acht Jahren zu jung, um selbst schuldig zu werden. Sie hat allerdings auch zeitlebens ihr eigenes Leid, ihr eigenes Trauma, nicht eingeordnet in die Geschichte und auch nicht in die Schuldgeschichte unserer Verwandtschaft. Vor allem aber hat sie die Bomben auf Crailsheim nicht in die Leidensgeschichte der Millionen Opfer der Nazis eingeordnet, die auch unsere Familie mindestens gewähren ließ.

Auch ich bin nicht schuld an den Verbrechen der Nationalsozialisten. Und doch, denke ich, bin ich den Opfern und ihren Nachfahren etwas schuldig geblieben, bleibe ihnen immer etwas schuldig. Weil es keine Wiedergutmachung geben kann. Der 8. Mai ist ein guter Anlass, sich diese Niederlage einzugestehen.

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verstrickt

da wird es jetzt landsleute geben, die bei und nach dieser textlektüre denken werden: "nestbeschmutzer!": wie kann man nur so schlecht über die eigene großelternfamilie denken. und das hatte man sich ja so schön sortiert im kopf seit dem geschichts-schulunterricht: die nazis, das war so eine braunbehemdete gang, das waren "die anderen", die da mord & totschlag begingen und einen krieg anzettelten, der erbärmlich endete, und die wie am fließband millionen von jüdischen und angeblich kranken "minderwertigen" mitmenschen umbrachten.


da stellte man sich immer eine bande von brüllenden und zähnefletschenden bestien vor, die in springerstiefeln herumstolzierten und herumschrien. und vielleicht noch schwarzuniformierte ss-kämpfer und geheime gestapo-leute im trenchcoard mit ins gesicht gezogenem hut und hochgeschlagenem kragen. das - diese "anderen" - waren die "nazis" - aber oma doch nicht - oder uropa, bei denen ich als kind auf dem schoß sitzen konnte - und die mir mal nen fünfer zusteckten, wenn's knapp wurde.

der historiker götz aly hat irgendwo die rechnung aufgemacht, dass zur industriell durchorganisierten massentötung allein der ca. 300.000 "euthanasie"-opfer ungefähr jeder 8. erwachsene hier im land lebende mensch mit deutschen wurzeln irgendwie als enkel- oder urenkelgeneration der damaligen aktiven mittäter oder mitläufer oder mitopfer zumindest familiär unbewusst miteingebunden sein müsste. 

hinzu kämen also bei den gräueltaten damals die millionenfachen ermordungen der jüdischen bevölkerung nicht nur im damaligen "deutschen reich", sondern auch in den anfangs okkupierten ländern ringsum.

so kann man mit sicherheit davon ausgehen, dass in jeder "alteingesessenen" familie hier irgendjemand von der (ur-)großelterngeneration die braune oder schwarze uniform angezogen hat, oder am schreibtisch oder am schraubstock oder als lokomotivführer oder ns-krankenschwester mitgemacht hat und mit verstrickt war in diesem wust von nazi-deutschland.

der altbundespräsident heinemann hat ja mal so treffend formuliert: 
"wer mit dem zeigefinger allgemeiner vorwürfe auf den oder die vermeintlichen anstifter oder drahtzieher zeigt, sollte daran denken, daß in der hand mit dem ausgestreckten zeigefinger zugleich drei andere finger auf ihn selbst zurückweisen."
der autor dieses essays hier oben, hannes leitlein, ist also kein "nestbeschmutzer", sondern er bemüht sich lediglich um ehrlichkeit vor sich selbst: ja - die nazis, das waren wir!!!... 



die interne auseinandersetzung mit dem "frieden" nach einem verheerenden krieg

Zeitungs-Schlagzeilen vom 08.Mai 1945
„Eine große Zäsur, aber keine Stunde Null“

Der Historiker Daniel Siemens über das Endes des Weltkrieges vor 75 Jahren, wie eine moderne Gedenkkultur aussehen könnte und warum es so schwer ist, aus der Geschichte zu lernen. Der 8. Mai sollte in Deutschland zu keinem Feiertag werden. Der aus Bielefeld stammende Historiker Daniel Siemens lehrt und forscht an der Universität von Newcastle. 

Herr Siemens, was geht uns das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren heute noch an?

Daniel Siemens: Für die allermeisten Menschen ist das zunächst einmal ein historisches Datum und nichts, was man noch aus eigenem Erleben kennt. Dennoch ist es nach wie vor sehr wichtig für die politische Kultur dieses Landes. An das unermessliche Leid, die 60 Millionen Toten des Zweiten Krieges, dem Holocaust und die deutsche Verantwortung zu erinnern, bleibt zentral. Das Ende des Krieges ist ein für die Geschichte des 20. Jahrhunderts bedeutender Einschnitt, der übrigens auch positive Seiten hatte.

Wie meinen Sie das?

Siemens: Damals wurden ja tatsächlich Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen. Es galt, eine dauerhafte Friedensarchitektur zu schaffen, also durch internationale Kooperationen weitere weltumspannende Kriege in Zukunft nach Möglichkeit zu verhindern. In diesem Sinne könnte man am 8. Mai auch an diese optimistische Phase des Neubeginns erinnern, etwa die Gründung der Vereinten Nationen im Juni 1945. Aus diesem Geist sind dann später noch viele weitere internationale Organisationen entstanden, etwa der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Aus meiner Sicht ein Weg, auf dem die Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts recht gut unterwegs gewesen ist.

Nun scheint aber das Zeitalter der globalen Kooperationen gerade zu verblassen, wenn nicht gar zu enden?

Siemens: Es sieht tatsächlich so aus, als ob hier gerade etwas in die Brüche geht. Aber noch sitzen die USA, China, Russland und die anderen Vetomächte im Sicherheitsrat der UN gemeinsam an einem Tisch. Was auch immer man über diese Art der Weltregierung denkt, es ist jedenfalls eine Ordnung, die unmittelbar mit dem Kriegsende vor 75 Jahren zusammenhängt. 1945 war eine große Zäsur für die Welt, wenn auch keine Stunde Null.

Warum war der 8. Mai keine Stunde Null, wie oft behauptet wird?

Siemens: Obwohl das Ende des Zweiten Weltkrieges in vielen Ländern tiefe Einschnitte zur Folge hatte, haben die Menschen natürlich nicht einfach ihre Einstellungen, weder ihre guten noch ihre schlechten, über Bord geworfen. Wie sollten sie auch? Von einer Stunde Null im Sinne von Tabula rasa, einem Neubeginn ohne die Prägungen der Vergangenheit, kann daher keine Rede sein.

Die deutsche Erinnerungskultur, die spät, aber dann sehr intensiv Fahrt aufnahm, gilt vielen heute als vorbildlich. Wie bewerten Sie diese?

Siemens: Nach der bedingungslosen Kapitulation war klar, dass die Deutschen ihre Handlungsmacht weitgehend eingebüßt hatten und zudem durch die Verbrechen des NS-Regimes schwer kompromittiert waren. Wollte man international Respektabilität zurückgewinnen, musste man sich dieser Situation stellen und etwa materielle Wiedergutmachung leisten. Westdeutschland bemühte sich daher seit den frühen 1950er Jahren um einen Ausgleich mit Israel und jüdischen Organisationen wie der Claims Conference. In Ostdeutschland galt das Hauptaugenmerk fast ausschließlich den politisch Verfolgten, etwa den von den Nazis verfolgten Kommunisten. Moralische Erwägungen standen anfangs deutlich weniger im Vordergrund bei der Überlegung, sich der Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust zu stellen. Das änderte sich erst mit der nächsten Generation, die die Frage der moralischen Schuld annahm, intensiv in den Fokus rückte und die deutsche Erinnerungskultur fortan prägen sollte.

Wie vorbildhaft ist diese?

Siemens: Ich finde, das ist eine Frage, die – wenn überhaupt – Menschen anderer Länder beurteilen sollen. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Generation der Kinder und Enkel der NS-Täter sich diese Frage der moralischen Schuld tatsächlich intensiv angenommen hat. Der deutsche Philosoph Karl Jaspers hatte dies schon unmittelbar nach Kriegsende gefordert, fand damit aber zunächst wenig Gehör. Offenbar ist etwas zeitlicher Abstand nötig, um kritisches Erinnern in Gang zu bringen.

In den vergangenen Jahren ist die Forderung nach einem Schlussstrich unter der Auseinandersetzung mit den Themen Zweiter Weltkrieg, Holocaust und NS-Regime immer lauter geworden und hat durch die AfD neuen Auftrieb erfahren. Muss wirklich mal Schluss sein nach 75 Jahren im Büßergewand, wie manche fordern?

Siemens: Die meisten, die heute so argumentieren, haben das Büßergewand nie getragen. Das ist zunächst einfach mal eine politische Behauptung zu politischen Zwecken. In diesem Diskurs geht es gar nicht um das Gedenken an die Vergangenheit. Vielmehr ist es ein kalkulierter Angriff auf einen Grundpfeiler der bundesdeutschen Demokratie. Über Formen des Gedenkens kann man natürlich streiten – aber nicht alle sind dazu gleichermaßen legitimiert.

Wie kann denn die Erinnerung lebendig gehalten werden, denn mit jedem Jahr rückt sie ein Stück weiter weg von uns?

Stolperstein Erna Kronshage
Siemens: Wir müssen uns in der Tat Gedanken darüber machen, wie sich jede Generation neu mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzen kann. Die Muster der vorhergehenden Generationen sind nicht für alle Zeit in Stein gemeißelt. Wenn heute junge Leute sagen, die Art und Weise, wie wir der NS-Vergangenheit gedenken, das sagt mir nichts mehr, dann liegt darin auch eine Chance, über neue Wege der Vermittlung nachzudenken. Da heißt aber eben nicht, einen Schlussstrich zu ziehen.

Wie kann Erinnerung heute aussehen?

Siemens: Das Herausgreifen von Einzelschicksalen ist eine sehr gute Methode, um Menschen die NS-Verbrechen, aber auch die politische und moralische Ordnung, die diese Verbrechen hervorgebracht hat, nahezubringen. So wird Geschichte anschaulich und bleibt nicht abstrakt. Wichtig ist es aus meiner Sicht aber auch, den internationalen Jugendaustausch stärker zu intensivieren. Menschen mit unterschiedlichen Vorprägungen über die Vergangenheit miteinander in Gespräche zu verwickeln, ist ein sehr taugliches Mittel, um das Gedenken auf europäischer Ebene lebendig zu halten und über unterschiedliche Sichtweisen und Standpunkte zu debattieren.

Sollte der 8. Mai, der Tag der Befreiung, hierzulande zum Feiertag erklärt werden, um ihn stärker ins Bewusstsein zu rücken?

Siemens: Auch wegen der Ambivalenz dieses Datums denke ich nicht, dass wir diesen Tag zum Feiertag erklären sollten. Über das Kriegsende und das Ende der NS-Herrschaft kann man auch ohne Feiertag nachdenken.

Wenn wir Erinnerungstage wie den 8. Mai begehen, dann schwingt immer auch die Hoffnung mit, dass wir Menschen aus der Geschichte etwas lernen. Geht das überhaupt?

Siemens: Natürlich ist der Mensch lernfähig, sonst gäbe es zum Beispiel überhaupt keine Wissenschaften. Daher können Menschen natürlich auch aus der Geschichte lernen, aber eben nicht im Sinne einer konkreten Handlungsanweisung. Die Analyse der Vergangenheit stellt uns allenfalls Argumente bereit, die wir daraufhin überprüfen können, ob sie für uns in unserer aktuellen Situation hilfreich sein könnten. Aber die Entscheidung selbst, welche Wege wir einschlagen, kann uns die Geschichte niemals abnehmen.

Obwohl der Holocaust von diesem Land ausging und es die schon erwähnte starke Erinnerungskultur gibt, erleben wir seit einigen Jahren einen wiedererstarkenden Antisemitismus. Wie erklären Sie sich das?

Siemens: Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Antisemitismus zuletzt wirklich angewachsen ist. Der war ja auch in Jahrzehnten zuvor virulent. Ich habe eher den Eindruck, dass jetzt manche beginnen, beflügelt durch den Aufstieg der Rechtspopulisten, ihre antisemitischen Einstellungen offener zu äußern. Man sollte hier keine falschen Hoffnungen haben: Egal wie viel Aufklärungs- und Bildungsarbeit wir betreiben, es wird auch in Zukunft Menschen mit antisemitischen und rechtsradikalen Einstellungen geben. Es muss darum gehen, dass diese Menschen den gesellschaftlichen Diskurs in Deutschland nicht bestimmen dürfen. Das ist der Gedanke der „wehrhaften Demokratie“. Toleranz ist wahrlich nicht angesagt in der Auseinandersetzung mit Rechtsradikalen und Antisemiten.

Ist das Ende des Zweiten Weltkrieges ein Ereignis, das für immer zentral sein wird?

Siemens: Historiker sind meist schlechte Prognostiker. Dennoch: Auch in Hunderten von Jahren werden der Zweite Weltkrieg und der Holocaust noch zentrale Ereignisse der Menschheitsgeschichte sein. Diese Ereignisse sind viel zu groß, als dass wir je mit ihnen ganz fertig werden könnten.

Das Interview führte Stefan Brams | NEUE WESTFÄLISCHE
aus: NW, 06.Mai 2020, Seite 3

Zur Person 
Daniel Siemens, geboren 1975 in Bielefeld, ist seit 2017 Professor für Europäische Geschichte an der Universität von Newcastle in Großbritannien. 
Auf deutsch erschien von ihm zuletzt das Buch „Sturmabteilung. Die Geschichte der SA“ (Siedler Verlag, München, 2019, 592 S.). 
Aktuell arbeitet Siemens an einer Biografie des Journalisten Hermann Budzislawski sowie an der Geschichte der United Restitution Organization (URO), einer nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten jüdischen Rechtsschutzorganisation für Opfer des Holocausts und ihrer Angehörigen.
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jede generation wird ihre geschichten erzählen oder denken müssen zum 2. weltkrieg. mit seinen verwüstungen und massenmorden und seinem verantwortungslosen beginn und seinem erbärmlichen ende. und den folgen mit den historischen umwälzungen in der welt - mit den neuordnungen, vertreibungen, flucht, ansiedlungen, urbarmachungen - und all den "neuen ufern", die so ein tiefgreifendes umpflügen alles bisher dagewesenen im (er)leben mit sich bringt.

und jede generation wird sich auf ihre art & weise erinnern und erzählen - oder auch schweigen, weil es ihr die sprache verschlagen hat - aber es dann in ihren herzen bewegen müssen.

jede generation wir sich stellen müssen, wird stellung beziehen müssen zu diesem komplexen konglomerat aus nationalistischen verirrungen, blut & boden denken, herrisches rassedenken (..."über alles in der welt..."), dem "ausmerzen" der weniger leistungsfähgigen und kranken als "ballastexistenzen", dem verleumden und denunzieren und anschwärzen des "andersdenkenden" von nebenan - aber auch die verstrickung der eigenen familie in all dem wust von aspekten, die diese ereignisse mit sich brachten und bringen - "bis ins 3. und 4. glied", wie es die bibel in der übersetzung luthers formuliert - und was die modernen psychodynamischen forschungen auch der transgenerationalen weitergabe und übertragung traumatischer erfahrungen über die generationen voll bestätigt.

also mit dem 8. mai 1945 war zwar historisch der krieg zu ende, aber in den generationen setzt er sich jeweils in irgendeiner weise fort in der verarbeitung, in den schrecken, in den (tag)träumen, in den ängsten, in den späten rechtfertigungen.

bei aller verdrängung ist also irgendwie doch jede und jeder mit der eigenen familiengeschichte mitbeteiligt. und für alle "war da was", was nach worten und begriffen und stellungnahmen und "haltung" ringt, schon zur eigenen psychosomatischen prophylaxe - vergleichbar vielleicht aktuell in der corona-pandemie mit einer virtuell anzulegenden innerpsychischen "mund-/nasenmaske" zum schutz - im erwachsen einer ureigenen haltung im leben mit all den innerpsychischen kriegsfolgen und -verarbeitungen - in der eigenen person und in der familie - in der gesellschaft - ein jeglicher nach seiner art & weise ...