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Judensonderzug Nr.76




Zeitgeschichte
Ein letzter Rest von Würde

Die DER Touristik Group hat die Geschichte des Unternehmens in der NS-Zeit untersuchen lassen – das Ergebnis aber nicht veröffentlicht. Offenbar verdiente die Reisebürokette Millionen an der Deportation von Juden in die Konzentrationslager.

Ho­lo­caust-Über­le­ben­de Grinspan 2015 mit Fo­tos vor und nach der De­por­ta­ti­on





Am 10. Fe­bru­ar 1944 ver­ließ ein mit 1500 Ju­den be­setz­ter Gü­ter­zug den Pa­ri­ser Vor­ort­bahn­hof Bo­b­i­gny Rich­tung Ausch­witz. Un­ter den De­por­tier­ten be­fand sich auch die 14-jäh­ri­ge Ida Fens­ters­z­ab. Nach Kriegs­en­de ge­hör­te sie zu den we­ni­gen Über­le­ben­den. Un­ter ih­rem ehe­li­chen Na­men Ida Grinspan be­rich­te­te sie spä­ter von der Rei­se im Gü­ter­wag­gon:

Nur ein klei­nes Git­ter ließ Ta­ges­licht in den Wa­gen. Wir konn­ten auf dem mit et­was Stroh be­leg­ten Bo­den kaum sit­zen, ge­schwei­ge denn lie­gen. Dazu ein stän­di­ger Krach, das Keu­chen der Lo­ko­mo­ti­ve, Ruß aus dem Schorn­stein und das Wim­mern der Rei­sen­den. Für je­den Pas­sa­gier nur ei­nen Brot­kan­ten. Und dann die­ser Ge­stank! Die ers­te Er­nied­ri­gung, die wir er­tra­gen muss­ten, war, dass man sich vor den Au­gen al­ler ent­lee­ren muss­te. Die Er­wach­se­nen hiel­ten Män­tel um ei­nen her­um, dass we­nigs­tens der letz­te Rest von Wür­de ge­wahrt blieb. Der da­für vor­ge­se­he­ne Be­häl­ter lief schnell über, der In­halt ver­teil­te sich auf dem Stroh. Der Ge­ruch war un­er­träg­lich.

Nach der An­kunft in Ausch­witz schick­te man Ida Fens­ters­z­ab nicht ins Gas, son­dern zur Zwangs­ar­beit. Ein Foto zeigt sie mit ge­scho­re­nen Haa­ren, ver­un­stal­tet und ver­ängs­tigt, kurz nach der Be­frei­ung in Frank­reich.

Ge­bucht hat­te den Trans­port vom 10. Fe­bru­ar ein Un­ter­neh­men, des­sen Name heu­te fast ver­ges­sen ist, das Mit­tel­eu­ro­päi­sche Rei­se­bü­ro (MER). In den Ster­be­bü­chern von Ausch­witz fin­den sich Ko­pi­en der Kor­re­spon­denz zu die­sem Zug. Die Pa­ri­ser MER-Fi­lia­le hat­te ihre Rech­nun­gen noch am Tag der Ab­rei­se an den Be­fehls­ha­ber der Si­cher­heits­po­li­zei in Pa­ris ge­schickt. Für die Fahrt bis zur deut­schen Gren­ze kal­ku­lier­te man 169 364 Franc, für die Stre­cke bis Ausch­witz 39 000 Reichs­mark. Die Do­ku­men­te soll­ten an das Reichs­si­cher­heits­haupt­amt in Ber­lin wei­ter­ge­lei­tet wer­den, an die Ter­ror­zen­tra­le des »Drit­ten Rei­ches«.

Das Un­ter­neh­men war 1917 un­ter dem Na­men Deut­sches Rei­se­bü­ro von zwei gro­ßen Ree­de­rei­en so­wie den Staats­bah­nen der deut­schen Län­der ge­grün­det wor­den, seit 1918 trug es den Na­men Mit­tel­eu­ro­päi­sches Rei­se­bü­ro. Es ver­kauf­te vor al­lem Bahn­fahr­kar­ten und spä­ter auch Grup­pen­rei­sen. Auf An­ord­nung der Al­li­ier­ten muss­te das MER 1946 wie­der den Na­men Deut­sches Rei­se­bü­ro an­neh­men.
Ge­denk­stät­te Ausch­witz

Im Jahr 2000 über­nahm der Rewe-Kon­zern das Deut­sche Rei­se­bü­ro und mach­te es zu ei­nem Teil sei­ner Rei­se­spar­te, die heu­te un­ter dem Na­men DER Tou­ris­tik Group mit mehr als 10 000 Mit­ar­bei­tern ei­nen Jah­res­um­satz von 6,7 Mil­li­ar­den Euro er­zielt. In den Selbst­dar­stel­lun­gen des Un­ter­neh­mens taucht das dunk­le Ka­pi­tel aus der NS-Zeit frei­lich nir­gends auf, noch 2002 hieß es in ei­ner Pres­se­mit­tei­lung zum 85. Ge­burts­tag: »Mit Be­ginn des Zwei­ten Welt­krie­ges ver­siegt der or­ga­ni­sier­te Rei­se­ver­kehr.«

Dass das nicht stimm­te, war nur Ex­per­ten klar. Der Ber­li­ner His­to­ri­ker Bernd Sam­ba­le etwa ver­öf­fent­lich­te im Ja­nu­ar 2013 ei­nen gründ­lich re­cher­chier­ten Ar­ti­kel in der »Ber­li­ner Zei­tung« über die Rol­le des MER im Na­tio­nal­so­zia­lis­mus; we­nig spä­ter stell­te der Ham­bur­ger Au­tor Pe­ter Wutt­ke das Fak­si­mi­le ei­nes Te­le­gramms auf die Wi­ki­pe­dia-Sei­te des Deut­schen Rei­se­bü­ros, mit dem die Ber­li­ner Reichs­bahn­zen­tra­le 1942 alle Reichs­bahn­di­rek­tio­nen an­ge­wie­sen hat­te, die »Ab­fer­ti­gung« der »Ju­den-Son­der­zü­ge« grund­sätz­lich dem MER zu über­las­sen.

Un­ter den Mit­ar­bei­tern der DER Tou­ris­tik lös­ten sol­che Ver­öf­fent­li­chun­gen ver­ständ­li­cher­wei­se Ir­ri­ta­tio­nen aus. Und so ent­schloss sich das Un­ter­neh­men, zum 100. Fir­men­ju­bi­lä­um 2017 eine his­to­ri­sche Stu­die an­fer­ti­gen zu las­sen, die auch die Ver­stri­ckung des MER in die NS-Ver­bre­chen auf­klä­ren soll­te. Das Köl­ner Ge­schichts­bü­ro Re­der, Roese­ling & Prü­fer, eine pri­va­te, von His­to­ri­kern ge­führ­te Agen­tur, über­nahm den Auf­trag und leg­te eine um­fas­sen­de Un­ter­su­chung vor.

Ver­öf­fent­licht wur­de die Stu­die al­ler­dings bis heu­te nicht. »Trotz in­ten­si­ver Re­cher­chen«, so er­klärt die DER Tou­ris­tik auf An­fra­ge, »sah das Ge­schichts­bü­ro die Quel­len­la­ge zur Rol­le des MER bei den De­por­ta­tio­nen als sehr schmal an.« Es sei des­we­gen un­mög­lich ge­we­sen, eine »kon­kre­te Be­tei­li­gung zu un­ter­su­chen«. Eine Ver­öf­fent­li­chung habe man nie ge­plant. Die Stu­die habe nur der »Selbst­ver­ge­wis­se­rung« des Un­ter­neh­mens ge­dient.

Die DER Tou­ris­tik ist nicht das ers­te Un­ter­neh­men, das sei­ne Un­ter­neh­mens­ge­schich­te in der NS-Zeit un­ter­su­chen lässt. Daim­ler-Benz hat das schon in den Acht­zi­ger­jah­ren ge­macht; auch die Deut­sche Bank, Volks­wa­gen, die Deut­sche Bahn und vie­le an­de­re Fir­men ha­ben His­to­ri­ker mit ähn­li­chen Stu­di­en be­auf­tragt und die­se dann ver­öf­fent­licht. Dass eine sol­che Un­ter­su­chung am Ende im Safe ver­schwin­det, kommt eher sel­ten vor.

Mindestens acht Passagiere
hatten sich vor der Abfahrt nach
Theresienstadt selbst getötet.

Da­bei dür­fen Ma­na­ger, die of­fen mit den Sün­den ih­rer Vor­vor­gän­ger um­ge­hen, heu­te so­gar mit ei­nem ge­wis­sen Re­pu­ta­ti­ons­ge­winn rech­nen, sie scha­den dem An­se­hen ih­rer Fir­men kei­nes­wegs. Bald 75 Jah­re nach Kriegs­en­de trägt nie­mand mehr eine per­sön­li­che Ver­ant­wor­tung für das, was da­mals ge­schah.

Im Köl­ner Ge­schichts­bü­ro scheint man denn auch nicht glück­lich mit dem Pro­ze­de­re der DER Tou­ris­tik zu sein. »Wir ha­ben kei­nen Ein­fluss dar­auf, was der Kun­de mit un­se­rer Ar­beit macht«, sagt Tho­mas Prü­fer, ei­ner der drei Ge­schäfts­füh­rer. Man sei nur ein »pri­va­ter Dienst­leis­ter«. Auf die Fra­ge, ob ein so re­strik­ti­ver Um­gang mit der Wahr­heit mit sei­nem Be­rufs­ethos als His­to­ri­ker ver­ein­bar sei, räumt er je­doch ein: »Wenn ich jetzt an der Uni wäre, hät­te ich ein Pro­blem.«

Die DER Tou­ris­tik wie­der­um muss sich fra­gen las­sen, ob eine sol­che Stu­die wirk­lich als Pri­vat­be­sitz ei­nes Un­ter­neh­mens gel­ten kann – ju­ris­tisch wohl schon, aber auch po­li­tisch-mo­ra­lisch? Hat die Öffent­lich­keit kein Recht dar­auf zu er­fah­ren, wie ein Un­ter­neh­men an der Ver­nich­tungs­ma­schi­ne­rie der NS-Zeit be­tei­ligt war?

War­um die DER Tou­ris­tik die Quel­len­la­ge als »schmal« qua­li­fi­ziert, lässt sich oh­ne­hin nicht nach­voll­zie­hen. Das Sün­den­re­gis­ter des MER könn­te di­cke Bü­cher fül­len. Nach der Macht­er­grei­fung der Na­zis mel­de­te man be­reits im Sep­tem­ber 1933 das Aus­schei­den al­ler »nich­ta­ri­schen An­ge­stell­ten«, schon bald durf­te man auch »Kraft durch Freu­de«-Rei­sen für ver­dien­te Volks­ge­nos­sen or­ga­ni­sie­ren. Das Un­ter­neh­men ex­pan­dier­te und zähl­te Mit­te der Drei­ßi­ger­jah­re mehr als 1100 Ver­kaufs­stel­len im In- und Aus­land. 1936 wur­de Frank Hen­sel zum Per­so­nal­chef des MER er­nannt, ein so­ge­nann­ter »al­ter Kämp­fer« der NS­DAP und von 1938 an auch An­ge­hö­ri­ger der SS.

Rich­tig gut ins Ge­schäft kam man dann dank der Er­obe­rungs­po­li­tik der Na­zis. Im Früh­jahr 1939 war das MER am Trans­port von 7900 Zwangs­ar­bei­tern aus dem so­ge­nann­ten Pro­tek­to­rat Böh­men und Mäh­ren be­tei­ligt, wie der His­to­ri­ker Sam­ba­le her­aus­fand. 1940 rech­ne­te das MER al­lein 645 Son­der­zü­ge mit ins­ge­samt 320 000 pol­ni­schen Land­ar­bei­tern ab, die zum Ar­beits­ein­satz ins Deut­sche Reich ver­frach­tet wor­den wa­ren.
MER-Do­ku­ment »Sehr schma­le Quel­len­la­ge«?

Ver­dient hat das MER auch an der Ver­trei­bung der Ju­den aus Eu­ro­pa. 1940 un­ter­brei­te­te das Un­ter­neh­men dem Lei­ter der Reichs­zen­tra­le für jü­di­sche Aus­wan­de­rung und spä­te­ren Ho­lo­caust-Or­ga­ni­sa­tor Adolf Eich­mann den Vor­schlag, Emi­gran­ten mit Son­der­zü­gen nach Lis­sa­bon zu schi­cken. Von dort aus ging es per Schiff nach Ame­ri­ka. Der Vor­schlag wur­de an­ge­nom­men, ein »sehr er­trag­rei­ches« Pro­jekt, wie man im MER bald fest­stell­te.

An­de­re Flücht­lin­ge fuh­ren mit der Trans­si­bi­ri­schen Ei­sen­bahn nach Fern­ost. Und wie­der be­sorg­te das MER die nö­ti­gen Ti­ckets. Der Würz­bur­ger Kauf­mann Ja­kob Ro­sen­feld zum Bei­spiel muss­te 1940 zu­sam­men mit sei­ner Ehe­frau Ber­tha sei­ne Hei­mat ver­las­sen. Das MER stellt Ja­kob Ro­sen­feld Fahr­kar­ten bis Yo­ko­ha­ma aus, von dort reis­te man dann wei­ter in die USA. Das Ge­schäft mit den jü­di­schen Emi­gran­ten, so bi­lan­zier­te ein MER-Auf­sichts­rat 1941, habe zu ei­nem »er­heb­li­chen Ge­winn« ge­führt.

Zwangs­ar­bei­ter, Sai­son­ar­bei­ter, Emi­gran­ten – sie alle wa­ren, häu­fig un­frei­wil­lig und ohne es zu wis­sen, Pas­sa­gie­re des MER. Aus Sicht der NS-Re­gie­rung hat­te sich das Un­ter­neh­men da­mit ge­nug Ex­per­ti­se an­ge­eig­net, um es auch an der De­por­ta­ti­on eu­ro­päi­scher Ju­den in die Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger zu be­tei­li­gen.

Wer Clau­de Lanz­manns Do­ku­men­tar­film »Shoah« ge­se­hen hat, wird sich an die Sze­ne er­in­nern, in der der His­to­ri­ker Raul Hil­berg über den Ab­lauf der Trans­por­te in die Ver­nich­tungs­la­ger be­rich­tet. Hil­berg er­klärt ge­nau die Ta­ri­fe, nach de­nen die Züge ab­ge­rech­net wur­den, und bei­läu­fig nennt er auch das da­für ver­ant­wort­li­che Mit­tel­eu­ro­päi­sche Rei­se­bü­ro. »Es be­för­der­te Men­schen in Gas­kam­mern und Ur­lau­ber an ihre be­vor­zug­ten Fe­ri­en­or­te«, sagt Hil­berg mit dem ihm ei­ge­nen Sar­kas­mus.

Am 25. Juli 1942 bei­spiels­wei­se ließ die Ge­sta­po 14 Wag­gons von Düs­sel­dorf nach The­re­si­en­stadt fah­ren. Auf eine ent­spre­chen­de An­fra­ge der MER-Fi­lia­le in Köln hat­te die Ge­sta­po am Tag zu­vor ge­mel­det, dass 700 Ju­den so­wie 16 Wach­leu­te auf den Trans­port ge­hen wür­den. Das MER be­rech­ne­te dar­auf­hin den Preis der 827 Ki­lo­me­ter lan­gen Rei­se auf 16,60 Reichs­mark pro Per­son. Be­zahlt wur­den die Fahrt­kos­ten von der Ab­tei­lung für »Ju­den­an­ge­le­gen­hei­ten« der Düs­sel­dor­fer Ge­sta­po. Tat­säch­lich aber stamm­te das Geld aus kon­fis­zier­ten jü­di­schen Ver­mö­gen.

Nach Ab­zug ei­ner Ver­mitt­lungs­ge­bühr – in der Re­gel etwa fünf Pro­zent – lei­te­te das MER die aus dem Rei­se­ver­kauf er­lös­te Sum­me an die Reichs­bahn wei­ter, die den Zug ge­stellt hat­te. Da der Zug an sechs Wag­gons mit etwa 280 jü­di­schen Pas­sa­gie­ren aus Aa­chen an­ge­kop­pelt wur­de, er­reich­ten am 26. Juli knapp 1000 De­por­tier­te den Bahn­hof The­re­si­en­stadt. Ei­gent­lich soll­te die Zahl so­gar noch hö­her sein, doch min­des­tens 8 Pas­sa­gie­re hat­ten sich vor der Ab­rei­se selbst ge­tö­tet. Ins­ge­samt über­leb­ten nur 61 Men­schen aus die­sem Zug den Ho­lo­caust.

Die Kriegs­jah­re er­wie­sen sich als die bis da­hin bes­ten über­haupt in der Ge­schich­te des MER. Der Um­satz war schon zwi­schen 1932 und 1939 von 140 Mil­lio­nen auf 240 Mil­lio­nen Reichs­mark ge­wach­sen, 1943 aber lag er bei 343 Mil­lio­nen.

Im his­to­ri­schen Rück­blick auf der In­ter­net­sei­te der DER Tou­ris­tik fehlt die NS-Zeit den­noch kom­plett. Auch in den äl­te­ren Selbst­dar­stel­lun­gen des Deut­schen Rei­se­bü­ros wird nur die Zer­stö­rung der MER-Zen­tra­le durch al­li­ier­te Bom­ber im Jahr 1943 er­wähnt.

Ein An­ge­bot des Ber­li­ner His­to­ri­kers Sam­ba­le aus dem Jahr 2006, die Ge­schich­te des MER un­ter dem Na­tio­nal­so­zia­lis­mus auf­zu­ar­bei­ten, wur­de von dem Un­ter­neh­men denn auch ab­ge­lehnt. Die »Auf­ar­bei­tung die­ser Zeit« sei ei­gent­lich Sa­che der Bahn, ant­wor­te­te man da­mals dem His­to­ri­ker, schließ­lich sei die Reichs­bahn einst »Haupt­ge­sell­schaf­ter des MER« ge­we­sen.

Das Deut­sche Rei­se­bü­ro be­tei­lig­te sich auch nicht an der zwi­schen 2001 und 2007 von der deut­schen Wirt­schaft fi­nan­zier­ten Zwangs­ar­bei­ter­stif­tung »Er­in­ne­rung, Ver­ant­wor­tung und Zu­kunft«. Und das, ob­wohl das MER einst Tau­sen­de Zwangs­ar­bei­ter quer durch Eu­ro­pa ver­schickt hat­te. Das Geld üb­ri­gens hät­te die 500 Mil­lio­nen Euro schwe­re »MER-Pen­si­ons­kas­se« spen­die­ren kön­nen; die gibt es un­ter die­sem Na­men noch heu­te.

2018 un­ter­nahm die DER Tou­ris­tik den Ver­such, die un­ter­schied­li­chen Wi­ki­pe­dia-Ein­trä­ge, die über das Deut­sche Rei­se­bü­ro und die DER Tou­ris­tik exis­tie­ren, in ei­ner ge­mein­sa­men Ver­si­on zu­sam­men­zu­fas­sen. Klar war al­len Be­tei­lig­ten, dass man die oh­ne­hin schon sehr kur­ze Pas­sa­ge zur NS-Ge­schich­te nicht lö­schen durf­te und in die ge­mein­sa­me Sei­te über­neh­men muss­te.

Doch in der Wi­ki­pe­dia-Com­mu­ni­ty habe sich schnell Miss­trau­en ge­gen­über den Mo­ti­ven des Un­ter­neh­mens ge­regt, be­rich­tet der Wiki-Au­tor Wutt­ke. Im­mer neue Ver­sio­nen sei­en von di­ver­sen Au­to­ren for­mu­liert wor­den. Am Ende blieb die Sei­te des Deut­schen Rei­se­bü­ros be­ste­hen, mit ei­nem knap­pen Hin­weis auf das Ka­pi­tel von 1933 bis 1945.

Auf der Wi­ki­pe­dia-Sei­te der DER Tou­ris­tik hin­ge­gen ist da­von kei­ne Rede. Die Un­ter­neh­mens­ge­schich­te be­ginnt dort zwar kor­rekt im Jahr 1917. Aber zwi­schen der Grün­dung der ers­ten Toch­ter­ge­sell­schaft in den USA im Jahr 1926 und der an­ge­kün­dig­ten Über­nah­me des Un­ter­neh­mens durch die Rewe-Group 1999 klafft nun eine rie­si­ge Lü­cke.

Martin Doerry - aus: SPIEGEL 50-2019

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das erlebe und beobachte ich in den letzten jahren immer öfter, dass große firmen und auch "staatliche" (nachfolge-)institutionen sich von der "last der verantwortung" über das tun und verhalten ihrer damaligen vorläuferorganisationen oft mit einem kurzen öffentlichen schulterzuckendem bedauern und eisernem "vertuschen" befreien wollen, und mit einer gedenktafel mit weißem lilienstrauß vielleicht oder gar einer gedenkkapelle dann endgültig meinen, nun sei es doch nach 80 jahren "auch mal gut" - und vielleicht noch den totensonntag oder den 9. november oder den 27. januar mit einer rituellen gedenkfeier als wiederkehrende pflichtveranstaltung "feierlich" begehen.

auch scheint es im großen und ganzen unfein zu sein, die altvorderen direktoren oder chefärzte etc. in solchen staatlichen oder halbstaatlichen institutionen zu jener zeit mit ihrem tun oder lassen oder mit ihrer nsdap-mitgliedschaft etwa namentlich zu desavouieren - man meint dann wohl, "nestbeschmutzer" zu sein - und "das gehöre sich nicht" - "ich will ja nichts gesagt haben, aber..." - und das, obwohl die vielleicht "schützenswerten" details wegen der nächsten angehörigen oder auch verwandter namensträger längst vom zahn der zeit zerbröselt sind. 

da werden diese "würdenträger" immer noch oft in hohen ehren gehalten (namensgebungen von straßen und einrichtungen oder abteilungen, bildergalerien im jubiläumsbuch des unternehmens etc.), aber das wirken und die denunziationen, die preisgabe und die kooperationen in jener zeit mit und gegenüber den ns-organisationen wird einfach abgespalten und verschwiegen - und da achten sogar noch streng die jetzigen (amts-)inhaber in der zweiten nachfolge-generation auf eine angeblich "weiße weste", obwohl die bei genauem hinsehen viele flecken und fehlstellen hätte.  

und trotzdem klopft man sich gerade in deutschland ja auch als "weltmeister" in sachen gedenk- und erinnerungskultur gern selbst auf die schulter - aber immer im "großen & ganzen", weniger im vielleicht zu nahe kommenden "detail" - und das gilt für unternehmen, institutionen und familien gleichermaßen. 

und tatsächlich - so las ich neulich - meint man sogar in israel, dass einige verwicklungen mit dem holocaust in deutschland akribischer aufgearbeitet sind, als vielleicht von historischen fakultäten in israel - und auch andere staaten zollen deutschland darin ja ihren respekt. und so hat man diesen kollektiven "mit-täter"-aspekt "im volk" dann "schluss-endlich" nach eigenem bekunden auch sowas von "bereut" und um "verzeihung" gebeten...

aber dieser nimbus bröckelt zur zeit rapide durch das allmähliche aufflammen antsemitischer ressentiments in letzter zeit - und durch das aufkommen offensichtlich rechter und rechtsradikaler tendenzen im alltag der bundesrepublik.

bei genauem hinsehen muss man feststellen, dass viele große firmen und institutionen die mitarbeit und ausbeutung z.b. von zwangsarbeitern kaum aufgearbeitet haben oder sich vielleicht mit einem relativ geringen "sühnebeitrag" in irgendeine "wiedergutmachende stiftung" quasi "freikaufen" - und damit aber nun wirklich endgültig "vergessen" wollen.

und doch sagt just heute dazu die bundeskanzlerin in auschwitz u.a.:
"An die Verbrechen zu erinnern, die Täter zu nennen und den Opfern ein würdiges Gedenken zu bewahren ‑ das ist eine Verantwortung, die nicht endet. Sie ist nicht verhandelbar; und sie gehört untrennbar zu unserem Land. Uns dieser Verantwortung bewusst zu sein, ist fester Teil unserer nationalen Identität, unseres Selbstverständnisses als aufgeklärte und freiheitliche Gesellschaft, als Demokratie und Rechtsstaat."
aus eigener anschauung in der über 30-jährigen forschungsarbeit zum "euthanasie"-ermordungsgeschehen um meine tante erna kronshage stelle ich fest, 
  • dass immer noch oder hier und da schon wieder in den archiven gern "gemauert" wird und die eigene "politische" institutionsposition augenscheinlich nicht damit mehr belastet werden soll - weil man inzwischen "nach vorne blickt - und nicht mehr zurück".... - und dass man die öffentlich finanzierten fakten und quellen in einem archiv immer noch gern wie das "privateigentum" aus dem "allerheiligsten" behandelt - angeblich wegen der "datenschutz"-bestimmungen;
  • dass historiker nach meinen beobachtungen oft "freischaffend" mit einem - ich nehme mal an - honorierten forschungsauftrag von institutionen angeheuert werden für die veröffentlichung einer "abschließenden" (jubiläums- oder aufarbeitungs-)arbeit - die sich aber auch vom alten proleten-spruch "wess brot ich ess - dess lied ich pfeif" nicht ganz freisprechen können - und dann kommt es eben zu den oben angesprochenen entsprechenden "wikipedia"-schönungsbeiträgen... - von der sogenannten "freiheit der wissenschaft" ganz zu schweigen - denn wenn ein "gut"achten nicht ganz so "passend" ausfällt, bestellt man sich seitens der institution eben noch ein "gegen-'gut'achten";
  • andere freischaffende historiker beugen gern die erforschten fakten so, dass man vielleicht "spektakulär" mit hinguck-schlagzeilen in den feuilletons und den fachaufsätzen sein nächstes werk zum thema für eine gute verkaufsauflage anpreisen kann - koste es, was es wolle....;
  • und die von institutionen fest angestellten historiker oder auch die archivare werden natürlich nicht die politischen verstrickungen vor 80 jahren in der vorläuferorganisation "über alle maßen" bloßstellen und sich selbst beschädigen: das hemd sitzt da ja näher als die jacke (= "loyalitäts-gebot!") ...
also - es wird durchaus in der geschichtsaufarbeitung auch taktiert - und auf alle fälle hat man es nicht sehr eilig damit - 80 jahre danach - und die tatsächlichen zeitzeugen können einem ja bald nicht mehr an die karre pullern...

frau merkel hat eine solche praxis der aufarbeitung mit ihrem satz: "das ist eine Verantwortung, die nicht endet. Sie ist nicht verhandelbar; und sie gehört untrennbar zu unserem Land" sicherlich nicht gemeint.