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Entsorgungsmaßnahmen

(Foto: bild.de)

CORONA IN PFLEGEHEIMEN

Wir opfern die Alten!

Von Elke Bodderas | DIE WELT v. 7.12.2020

Von Schweden wird gesagt, es lade in leichtfertiger Weise den Tod in die Altersheime ein. Doch Deutschland ist nicht besser. Was die Sterblichkeit unter alten Menschen betrifft, gehen wir den schwedischen Weg.

Als Winston Churchill im Mai 1940 seine „Blood, sweat and tears“-Rede im House of Commons hielt, war keinem der Parlamentarier bewusst, dass sie einer Rede von historischer Bedeutung beiwohnten. Die meisten reagierten sogar mürrisch bis unzufrieden.

Wenn heute, ebenfalls während einer scheinbar ausweglosen Katastrophe, der Leiter des Robert-Koch-Instituts und damit einer der obersten deutschen Corona-Dirigenten „noch viel mehr Tote“ verspricht, dann muss man zwischen Winston Churchill und Lothar Wieler einen kleinen Unterschied feststellen: Der eine bereitete auf einen vernichtenden Schicksalsschlag vor. Und der andere beschreibt mit mahnendem Unterton die Konsequenzen eines Geschehens, für dessen Verlauf er mitverantwortlich ist.

Vermutlich sind Wielers Äußerungen substanziell begründet, trotz künftiger Impfungen höchstwahrscheinlich ab Januar. Es ist auch offensichtlich, weshalb der Präsident des RKI sein düsteres „Bedenke das Ende“ ruft. Als heiliger Schrecken soll die Drohung in die Glieder aller fahren, die mit dem Gedanken spielen, jetzt sei es aber genug mit Opfern, Einschränkungen, Leid und Verlusten.

Wenn oberste Behördenvertreter, Politiker, Ministerpräsidenten es volkspädagogisch mit Tod, Teufel und letzten Dingen versuchen, dann riskieren sie immer den Nachteil, dass sie Argwohn begründen. Der Verdacht liegt dann nahe, dass es da etwas zu übertönen gilt, und tatsächlich, diesen Verdacht kann man auch haben. Es ist die Zahl der Corona-Toten, die Wielers Erziehungsgebärden und die der weiteren politischen Kümmerer allmählich unglaubwürdig erscheinen lässt.

„Die Sterblichkeit ist ein Qualitätsindikator für die Gesamtpolitik“, so formuliert es mit Engelsgeduld der Virologe Alexander Kekulé immer und immer wieder. Und die hat in Deutschland eine fatale Wendung genommen. Unter den Hunderten Menschen, die täglich an und mit Covid-19 sterben, ist ein erheblicher Anteil in der Altersgruppe 70 plus zu finden. Darunter wiederum sterben vor allem jene, die eng beieinander leben, in den Alten- und Pflegeheimen.

Bis heute zählt die Corona-Sterbestatistik fast 14.500 Menschen in der Altersgruppe 70 plus. Sie stellt einen Anteil von aktuell 86,7 Prozent an den Corona-Toten. Es ist eine Quote, die sich gefährlich den 89 Prozent in Schweden nähert. Zwar liegt die absolute Mortalität in dem Land nach wie vor höher.

Aber ausgerechnet der Schutz der Alten scheint in Deutschland momentan genauso linkshändig abgewinkt zu werden wie bei den Schweden. Von denen hatte es geheißen, sie lüden zugunsten von Freiheiten und Eigenverantwortung den Tod in die Altersheime ein. Was die Sterblichkeit unter alten Menschen betrifft, geht Deutschland allerdings momentan den gleichen schwedischen Weg.

Seit April drängen führende Wissenschaftler aus allen relevanten Bereichen darauf, die Senioren in die Mitte zu nehmen, sie als Kern der Pandemiebekämpfung zu erkennen. Ihre Leitidee lautet: „Schützt die Alten, und ihr senkt die Zahl der Corona-Toten.“ An praktikablen Vorschlägen hierzu hat es nicht gefehlt.

Eine Gruppe von Wissenschaftlern um den Medizinprofessor Matthias Schrappe, einst Berater der Bundesregierung, brachte „Interventionsteams“ ins Spiel. Die Gesundheitsämter könnten sie als Schnelle Eingreiftrupps in bedrohte Heime schicken. „Aber wenn wir damit den Gesundheitsämtern kommen“, sagt Schrappe, „dann heißt es, geht nicht. Das steht in den RKI-Richtlinien nicht drin.“

Im Dezember legte das RKI Empfehlungen für Alten- und Pflegeeinrichtungen vor mit der Forderung, die Einrichtungen sollten „möglichst in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt ein einrichtungsspezifisches Testkonzept erstellen“. Doch wer mit Betreibern von Altersheimen spricht, erlebt Ratlosigkeit, Verzweiflung, Wut. Denn nur wer sich mit den Gesundheitsämtern einigt, hat eine Chance, an die Schnelltests zu kommen. Wer sie dann hat, würde sie gern auch einsetzen können, was jedoch laut RKI allein Sache „geschulten Personals“ sein soll.

„Warum dürfen Normalsterbliche das nicht?“, fragt sich zu Recht der prominente Virologe Alexander Kekulé. Ein müßiger Einwand, denn in der Praxis ist meist weder das eine noch das andere zu haben. Zwar hatte die Bundesregierung erst Mitte November 200 Millionen Euro für Corona-Schnelltests bereitgestellt. Auf die Verfügbarkeit hat sich das aber noch nicht ausgewirkt. Das könnte daran liegen, dass die Heime ohne Behördenhilfe auf sich allein gestellt sind. Sie sollen sich die Tests selber beschaffen. Die Kosten erstattet dann auf Antrag der Bund.

In Deutschland gibt es etwa 12.000 Pflegeeinrichtungen, mehr als tausend von ihnen melden Corona-Infektionen. Vor allem Baden-Württemberg ist von Ausbrüchen betroffen, aber auch Sachsen. Baden-Württemberg hat ab nächste Woche Ausgangssperren verhängt. Ein besonderer Schutz in Pflegeheimen? Mehrere Heime des Landes klagen über einen Mangel an Schnelltests. Aber dafür seien immerhin FFP2-Masken im Angebot „innerhalb der nächsten Wochen“.

Auch in Sachsen gibt es Ausbrüche in Heimen. FFP2-Masken sollen kostenlos an Senioren ausgegeben werden. Aber im zentralen Fokus der Landespolitik stehen die Heime nicht, auch nicht in Bayern, obwohl dort jetzt mehr getan werden soll und die Heime als besonderer Hotspot bezeichnet werden. Ausgangssperren für alle stehen auf der Tagesordnung. „Es geht um das Thema Kindergarten und Schule“, sagt Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, „es geht darum, möglicherweise Geschäfte zu schließen.“

Einen Strategiewechsel verlangt inzwischen ein bedeutender Teil der Politik und der Wissenschaft. Sie wenden sich ab von der Debatte über Restriktionen und Schutzmaßnahmen für die Gesamtbevölkerung, mit Schwerpunkt jüngerer oder mobiler Personen. Im Hintergrund treten überall in Deutschland Unlust, Verdrossenheit, Missvergnügen, sogar schon Verweigerung am Corona-Kurs über die Ufer.

Dazu passt ein furchtbarer, fast zynischer Begriff, den ein bekannter Epidemiologe in die Welt gesetzt hat. Er beschreibt eine Politik, die nur steigende Infektionszahlen anerkennt, aber die Alten nicht schützt und die Sterbenden und die Toten nicht sieht. Von „kalter Herdenimmunität“ ist die Rede. Denn wer tot ist, steckt niemanden mehr an.

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da ist immer die rede davon, die intensivstationen in den kliniken nicht "überlasten" zu wollen - und man sei "hier & da" bereits "kurz vorm limit". und das spiegelt sich auch in den steigenden fallzahlen bzw. der "fall-plateau-entwicklung als seitwärts-bewegung" wider: aber die damit einhergehende scheinbar "kampflos" hingenommene rasant steigende zahl der todesfälle sind scheinbar in diesem teuersten gesundheitssystem eines der reichsten länder der erde lediglich unvermeidbare "kollateralschäden", die mit allgemeiner langmut hingenommen werden (müssen) - mit einem anteil von rund 87% alten menschen.

da findet also offenen auges und wie selbstverständlich so etwas wie eine ethisch höchst fragwürdige "triage"-auswahl statt, in dem die infizierten hochbetagten bewohner der altenheime kaum noch arztbesuche und notfallmedizin-einsätze erhalten und (z.t.) lediglich "noch" palliativ versorgt werden - und auch kaum noch mit dem nötigen nachdruck zum  beatmen und behandeln in die intensivstationen gelangen - wo man eben die die noch freien bettenplätze "zur reserve für dringendste notfälle" benötigt - aber die auslese beginnt da, wo man wie selbstverständlich "die alten" aussortiert - ja - und verrecken lässt, weil sie ja dem bruttosozialprodukt keinen gewinnbringenden eintrag mehr bringen.

altenheime haben ganz selten einen festen landeplatz für einen notfall-hubschrauber hergerichtet - und der wird auch scheinbar entgegen aller herkommlichen beteuerungen kaum in der praxis benötigt. die beerdigungsinstitute hingegen kennen ihren parkplatz zum einladen der särge dort jeweils - und die meisten alten lehnen in ihren letzten verfügungen ja auch - zum "glück" "lebensverlängernde maßnahmen" ab - und unterstützen ja damit das "system" ... -

der zyniker in mir könnte ja auch denken: die alten menschen sterben früher oder später sowieso - so wie wir alle ja früher oder später sterben ( so auch bundestagspräsident schäuble) und wenn man einigen von denen nun noch die todesursache "covid-19" verpasst,dann muss man das eben zeitgemäß so hinnehmen: vor corona stand da eben: akutes herzversagen, lungenentzündung, nierenversagen, akute atemnot, krankenhauskeim-infektion, legionellen-infektion, salmonellen-infektion, noroviren-infektion usw. - und auf ein paar tage früher oder später kommt es ja in dem alter auch nicht mehr an ... - oder so ...

sterben ist selten ein schlag, sondern eher ein prozess - und ist immer das zusammenwirken verschiedener organischer versagensmomente - ob nun corona oder sonstwas dieses "syndrom" auslöst - sei mal dahingestellt ... 

und nun dreht euch wieder um ... - si

banksy & die corona-ratte: allein zu haus

Street-Art im Bad

Banksy arbeitet jetzt auch zu Hause


CLICK TO INSTAGRAM

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Auch Street-Art-Künstler müssen jetzt zu Hause bleiben: In Corona-Zeiten macht Banksy seine Kunst im eigenen Bad

Friseure, Cafébesitzer, Zoobetreiber: Sie alle leiden im Lockdown, weil die Kundschaft ausbleibt. Aber denkt auch jemand an Street-Art-Künstler, die auch aufgerufen sind, zu Hause zu bleiben? Ihr prominentester Vertreter hat jetzt einen Einblick gegeben, wie seine Heimarbeit aussieht: Auf Instagram postete Banksy Fotos von einem Badezimmer, in dem seine ikonische Ratten an die Wände gemalt sind. Sie richten größtes Chaos an, tanzen auf der Zahnpastatube, pinkeln ins Klo und treiben Schabernack mit dem Toilettenpapier. Unter diese Fotos hat der britische anonyme Künstler geschrieben: "Meine Frau hasst es, wenn ich von zu Hause aus arbeite." 

Ratten und Seuchen gehören seit Urzeiten im Bewusstsein der Menschen zusammen. Banksy hat mit der Wahl seines Leittiers vor langer Zeit diesen Zusammenhang positiv umgedeutet: Street-Art ist eine virale Kraft, die kaum gebändigt werden kann, wenn überhaupt, dann nur vom Künstler selbst (Banksys Firma, die Echtheitszertifikate ausstellt, nennt sich deshalb auch "Pest Control"). Doch in der Umdrehung aller Verhältnisse, die Corona bewirkt, wird das Außen zum Innen und unser Zuhause zum halböffentlichen Raum. Und die Street-Art wirbelt das eigene Heim auf, wie die Kinder, die nicht zu Schule gehen können. Halt durch, Banksy!


banksy's instagram-account


Text: monopol


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ich amüsiere mich immer, wenn ich etwas von banksy erfahre, sehe, lese, höre. er ist natürlich zu weihnachten in bethlehem in seinem hotel und bastelt dort eine weihnachts-krippe, die dann prompt in allen großen feuilletons dieser erde als weihnachtsnahe story abgebildet wird. ist doch auch mal ne dolle story - "rar - gediegen - einzigartig" - gerade zu weihnachten - und wird immer wieder gern genommen.

und nun - auf dem höhepunkt der coronakrise darf er natürlich wieder nicht fehlen. und vor lauter schabernaque und "langeweile" bei seinen quarantäneübungen bemalt er sein badezimmer mit ratten - zum leidwesen seiner lieben frau.

und die ratte ist ja sein erkennungszeichen als "marke": genauso verschlagen - im dunklen - schleichend - aber unerbittlich als eine art corona-kanalisation - aber eben nie so richtig und durch und durch igittegitt sondern eher niedlich - drängt sich auch der gute banksy auf mit all seinen unwiderstehlichen grafischen "p.r."-aktionen an der straßenecke - an der mauer oder fassade - oder bei der pressekonferenz in seinem hotel an der israelmauer zu palästina - oder eben jetzt - auf dem klo.

und ich hab extra nochmal hingeschaut: ich habe nur eine klopapierrolle auf seinem autorisiertem badphoto erkennen können, sehr großzügig abgerollert und auf den boden geworfen - neben eine ziemlich verdreckt beschissene schüssel - aber das waren bestimmt diese badratten dort... - denen sei das verziehen... aber nun kommen wir allmählich einem der erklärungsmuster auf die spur für die toilettenpapier-hamsterkäufe in deutschland...

[einschub: heute morgen grölte hier im aldi ganz ungehalten durch den corona-zeitalter-laden ("jeder ein einkaufswagen"): "sacht mal - wo issn hier dat scheißhauspapier?" - aber der hinterließ schon im nachhinein den eindruck, als habe er von "banksy" noch nie etwas gehört... - ich habe dem mann noch zugeraunt: "'scheißhauspapier' haben die hier nicht - nur toilettenpapier"... - aber auch das war hier wohl noch immer unwiederbringlich alle]... 

hoffentlich hat banksy mit dieser home-bad-office-aktion nun nicht zuviele nachahmer gefunden - und hoffentlich bietet mir nicht irgendwann vielleicht ein "pest-control"-versand die ratten als banksy's "seuchen-sticks" an - 6 versch. rumpfstellungs-präsentationen und schnüffelnäschen im bundle für teures geld.

also meine frau würd sich schwer bedanken - und wenn ich noch so ein großer banksy-fan wäre - wenigstens was vermarktungsstrategie angeht.

(übrigens - wenn er die ratten nicht selbst über "pest control" vermarktet - kann er ja seine kunstwerke immer noch in lizenz anbieten: als "rar - gediegen - einzigartig" - eben banksy ...

er ist's

Lebensfunken. Bei Michelangelo steht der sanfte Körperkontakt am Beginn der Schöpfungsgeschichte. Die Politik kann sich daran ein Beispiel nehmen. Foto: John Parrot/Stocktrek Images | Tagesspiegel

Was uns berührt


Nationalistisch-unnahbar oder pluralistisch-zugewandt: Welche Form des Miteinanders wird in der Coronakrise geboren?

Von Armin Lehmann | Tagesspiegel

Von Geburt an, in der Not oder vor dem Tod ist körperliche Berührung, wenn sie freiwillig und zugewandt geschieht, immer eine existenzielle Gemeinschaftserfahrung. Babys brauchen Körperkontakt, um zu überleben, Menschen in Panik beruhigt es, wenn sie gehalten werden, sterbenden Menschen vermittelt die aufgelegte Hand Geborgenheit.

Denken wir das Somatische und das Soziale am Berühren zusammen, können wir sehen, wie resilient eine Gesellschaft ist. Dann führt der Begriff zudem geradewegs hinein in das Dilemma unserer polarisierten Zeit: Werden Gesellschaften nationalistisch-unnahbar oder bleiben sie pluralistisch-zugewandt?

Die Bedeutung des leiblichen Berührens geht weit über eine erotische Stimulation hinaus. Die Natur hat dem Menschen dazu besondere Nervenzellen geschenkt: Die sogenannten C-taktilen Nervenzellen, die langsamer als andere Nervenzellen Informationen weiterleiten und dabei quasi aus der mechanischen Berührung ein Gefühl machen. Diese Zellen vermitteln soziale Nähe.

Doch jetzt, in Zeiten der Coronakrise, sind viele Menschen wie in Isolationshaft. Ausgerechnet Beziehungsentzug gilt als sozial, körperliche Abgewandtheit rettet Leben. Großeltern dürfen ihre Enkel nicht küssen, nicht sehen; erwachsene Kinder stellen Einkaufstüten vor die Türen ihrer Eltern anstatt sie zu umarmen. Auf Intensivstationen sterben Menschen ohne tröstendes Flüstern eines Angehörigen.

Gerade aufgrund des Verbotes von Körperkontakt - in Indien beispielsweise werden die Menschen bei Missachtung des Verbots von der Polizei verprügelt -, wird uns bewusst, wie wichtig er ist. Das erscheint uns jetzt selbstverständlich, war es aber schon vor der Corona-Pandemie nicht mehr: Die berührungslose, einsame Gesellschaft war in weiten Teilen der Bevölkerung Realität. Sie hat zur Polarisierung der politischen Situation beigetragen.

41 Prozent aller Haushalte werden von Singles bewohnt, in der Pflege von älteren Menschen, in Krankenhäusern oder Kitas herrscht Effizienzdruck und Personalmangel, Gewalt gegen Alte und Kinder, auch häusliche Gewalt ist ein wachsendes Phänomen.

Gleichzeitig können wir uns die Dinge und Kontakte in einem Maße aneignen, sie konsumieren, wie keine Gesellschaft vor uns. Wir kommunizieren über die sozialen Medien mit vielen Menschen gleichzeitig - allerdings ohne tatsächliche Gegenwart. Und so ist Entfremdung, einhergehend mit dem Gefühl des Nichtgeborgenseins, oft unsere Realität.

Trotz sozialer, politischer und auch psychologischer Unterschiede sind wir letztlich alle in einer Krise der Berührung - die schon vor Corona begonnen hat.

Wir sind in dieser Krise, weil wir die Welt, wie sie sich uns heute darstellt, in unterschiedlicher Form, bewusst oder unbewusst, als Bedrohung wahrnehmen. Die einen fürchten den sozialen Druck oder die Konkurrenz in der Bildung, auf der Arbeit, sie fühlen sich überfordert, weil sie glauben, in ihrer Leistung nicht mithalten zu können. Die anderen fühlen sich bedroht von Arbeitslosigkeit, Einsamkeit in abgehängten Gegenden auf dem Lande oder von einem Nicht-mehr- Gesehenwerden in der analogen Welt. Sie wollen Beziehungen, haben aber verlernt oder nie gelernt, sie zu führen.

Zuletzt hat uns der Soziologe Hartmut Rosa eine Beziehungsstörung gegenüber uns selbst und der Welt attestiert. Wir sind sehr gut in der Lage, unsere individuellen Bedürfnisse und Rechte einzufordern. Wir sind freier denn je. Und doch nehmen Burn-out und Depressionen zu - trotz Work-Life-Balance-Ratgeber, Yoga- Retreats oder dem Versprechen der Wellnessindustrie, dass unsere Körper formbar und schön bleiben.

Thomas Fuchs, Professor für philosophische Grundlagen der Psychiatrie in Heidelberg, sagt: „Die westliche Kultur kennt keinen Stillstand, keine Handlungshemmung, kein Verweilen.“ Dabei haben wir im Moment ein dringendes Bedürfnis danach, gerade weil unsere Fokussierung auf Wachstum, Wohlstand und Selbstoptimierung uns immer weniger Zeit für Berührungen lässt.

Die Zeit, erklärt Fuchs, erscheine uns wie ein Pfeil, der rasant vorwärtsstrebt. Unsere Bio-Zeit dagegen, der Schlaf-Wach-Rhythmus etwa oder der Stoffwechsel, kommt dem Pfeil nicht hinterher. Wir leben schon lange in einem System, das auf wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Beschleunigung basiert - und die leibliche Gegenwart reduziert. Mit sozialen Folgen: In den USA haben Langzeitstudien ergeben, dass College- Studenten seit 2000, seit dem Siegeszug des Smartphones, weniger empathiefähig, weniger beziehungsfähig sind.

Jetzt sind wir „radikal aus der Beschleunigung herausgefallen“, wie Fuchs konstatiert. Und im Hinblick auf Berührung leiden wir wie der Süchtige auf Entzug. Zwar haben alle Menschen, das liegt in unserer Natur, offene oder unterdrückte Sehnsüchte nach Berührungen, handeln konträr.

Manche suchen den Kontakt, wollen helfen, sie spielen für andere Musik in den sozialen Netzwerken, applaudieren von Balkonen oder machen trotz der Gefahr für die eigene Gesundheit Überstunden als Pfleger oder Ärzte. Es ist ein empathisches, berührendes Verhalten, das wir erleben. Andere jedoch igeln sich ein oder leugnen, geben der Regierung oder China die Schuld und schotten sich vor ihren eigenen Ängsten ab. Auch das menschlich verständlich.

Sehnsucht und Bedürfnis nach Berührbarkeit sind in uns allen verankert. Mit oder ohne Corona. Unsere Elternbeziehung von klein auf, unsere sozialen Kontakte und gesellschaftlichen Prägungen haben einen Einfluss auf das Maß unserer aktuellen Bedürfnisse und unseres individuellen Leidensdrucks. Vereinfacht gesagt gibt es nur zwei Varianten, wie wir in persönlichen wie gesellschaftlichen Krisen handeln: Aktivität oder Rückzug. Helfen oder abschotten. Das gilt übrigens für Regierte wie Regierende.

Persönliche Prägungen können einhergehen mit politischen Überzeugungen. Klimaleugner ebenso wie die Neue Rechte, zu der Teile der AfD gehören, haben verhaltenspsychologisch ähnliche Reflexe und Strategien. Abschottung, Rückzug und den Wunsch nach Wehrhaftigkeit. Je pathologischer Angst und Sehnsucht nach Berührung sind, desto heftiger können auch die eigenen Ansichten ausfallen. Beim Retten (Klima), wie beim Verteufeln (Geflüchtete). In neurechten und rassistischen Zirkeln ist beispielsweise die Sehnsucht nach Wehrhaftigkeit durch Gewalt groß.

Der amerikanische Neurechte und Rassist Jack Donovan sieht in der Gewalt das „vorherrschende Prinzip von Männlichkeit“. Jedes neue Zeitalter der Menschheit sei durch „schöpferische Gewalt“ bestimmt. Krisen, die uns berühren und Angst machen, erhöhen die Abschottungsreaktionen und die Erwartungen an „die da oben“. Björn Höcke twitterte gerade, es zeige sich nun, „dass der Nationalstaat die letzte Schutzmacht für seine Bürger ist“.

Doch wie wir jetzt in der Coronakrise spüren und sehen, liegt der Schutz nicht in erster Linie im Autoritären, wie Höcke glauben machen will, sondern mindestens ebenso in Differenziertheit, Anteilnahme, Teamwork. Die Fähigkeit der Berührung meint nicht nur die somatische, sondern auch die Kompetenz, Krisen konstruktiv miteinander zu lösen. Das hat auch US-Präsident Donald Trump lange nicht verstanden. Er ist soziologisch gesehen Dezisionist, begründet also keine Entscheidungen; Angela Merkel wäre dagegen differenzversiert, sie versucht, Macht auszutarieren und über Beziehungen und Diskurse Kompromisse zu finden.

Thomas Fuchs, auch Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, meint, dass Deutschland diesen Krisenspagat aus Handeln und Beziehungspflege (zum eigenen Volk) bisher ganz gut hinbekommen habe. Es seien nicht wie in China von oben herab autoritär Befehle erteilt, sondern mit den Worten der Kanzlerin Dringlichkeit und Empathie zugleich vermittelt worden. Die deutsche Politik habe verständnisvoll und mit Hilfe von Experten, Virologen, Ärzten, Psychologen, also im Team, die Dinge mühsam und geduldig erklärt. „Das hat die Politik glaubwürdig gemacht“, sagt Fuchs.

Bliebe die Mehrheitsgesellschaft gerade durch das Bedürfnis nach Berührung solidarisch - könnte diese Krise eine große Chance sein. Lassen wir nach Corona dauerhaft wieder mehr Nähe im Alltag zu? Gute Gesellschaften entstehen durch gute Beziehungen, in denen wir einander berühren und voneinander berührt werden. Dann sind sie, sagt Fuchs, „die größte Friedensdividende“.

© CLAUDIO FURLAN/LAPRESSE/AP/DPA | Tagesspiegel


"das hat mich aber jetzt echt berührt", sagt man ja, wenn man "angerührt" ist von einer situation, einer szene, die einem "nahe kommt".

also ich bin der meinung, der mensch ist sensorisch so gut ausgestattet, dass er auch in der sozialen abstinenz nicht vereinsamt und sogar in gewisser weise kommuniziert - nur anders.

dafür gibt es keine allgemeingültige und globalkulturelle norm. da ist der eine so gestrickt - und die andere so.

das sind ganz individuelle empfindungen, die auch wieder viel mit c.g.jung's "archetypen" und seinem "kollektiven unbewussten" zu tun haben - und auch mit den "spiegelneuronen" im kopf, die automatisch bereits eine besondere mimik der bezugsperson oder eine bestimmte wahrnehmung in der vorstellung bereits aktiv mit durchführt und vollendet, als sei man selbst involviert - wenn man also im nu weiß, was gemeint ist und mit "durchlebt" - wie man automatisch subjektive anzeichen deutet, "be-deutung" verleiht - und meistens damit ja sogar richtig liegt...

in bruchteilen von einer sekunde entscheidet sich, wie man bei einer begegnung mit einem menschen, den anderen "einschätzt", be- oder verurteilt, sympathisch findet oder eben für sich einfach nur "abhakt".

mich hat ein kurzer teilaspekt aus dem obigen text beispielsweise besonders "angesprochen": "Die Fähigkeit der Berührung meint nicht nur die somatische ..."  

bei "be-rührung" ist immer etwas anderes mit im spiel, nämlich eine vielleicht nur imaginäre "be-gegnung": man will jemanden oder etwas an- und berühren oder man erwartet oder ist überrascht von einer be-rührung. 

und eine be-rührung beinhaltet zumeist eine entschlüsselung und eine einordnung in die eigene automatische aktions- und reaktionsempathie einem anderen mit-lebewesen "gegen-über".

es gibt also nicht nur das somatische 
"(er-)spüren" der haut, der stimme, des atems des anderen - und da ist auch nicht nur die somatische berührung: da gibt es eben auch noch, gerade auch in der #corona-"einsamkeit" und sozial-abstinenz, ein anderes quasi "nonverbales" berührtwerden.

wenn nämlich ein ganz bestimmtes "profil" einen "eindruck" erweckt - und auch hinterlässt: und das kann auch über die medien geschehen: mit dem schreibstil in einer kolumne -  mit der mimik der sprecherin in der "aktuellen stunde" im tv, mit dem tonfall aus dem audiogerät, mit den geräuschen, die die mitbewohner machen, durch alle wände hindurch:

der über mir hat wieder getrunken - und der stellt dann seine unsägliche hackrhythmus-musik auf "volle pulle", oder der nachbar nebenan, dessen bewegung an der wand mit einem kurzen "wisch" wahrnehmbar übertragen wird - und unter uns, der hoffentlich seinen deckenventilator auch bei 23° noch ausgestellt lässt, denn der macht dröhn- und wuppgeräusche unter dem holzfußboden im wohnzimmer.

ja - auch "die wüste lebt" ...

und der olle eduard mörike hat ja schon vor fast 200 jahren sein frühlingsgedicht "er ist's" mit einem ahnen und erfühlen und erwachen beschrieben - ohne jede tatsächliche menschliche begegnung - und trotzdem voller wahrnehmung und erspüren, bei der man auch in der #corona-abschottungszeit regelrecht mit- und nachfühlen kann - auch ganz allein in seiner kemenate:


∼ Er ist's ∼



Frühling läßt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.
Veilchen träumen schon,
Wollen balde kommen.
– Horch, von fern ein leiser Harfenton!
Frühling, ja du bist's!
Dich hab ich vernommen!

Eduard Mörike (1804 – 1875)