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das inszenierte pflichtgedenken

Verkitschung des Grauens

Gedenken angesichts der Banalisierung des Bösen

Die Zeitzeugen sterben langsam weg, aber gemeinsames Erinnern bleibt trotzdem bedeutsam - gerade in rauen Zeiten. Eine Kolumne. 

Von GERD APPENZELLER | Tagesspiegel


Geschichte gerät nicht in Vergessenheit, wenn die letzten Zeitzeugen des Erlebten gestorben sind. Was die Erinnerung des Menschen und eines Volkes beschäftigt, traumatisch oder verklärend, spaltend oder zusammenführend, lebt im Gespräch fort. Das aber entfaltet seine Kraft auch als Reflexion auf aktuelles Geschehen, oder im Anblick jener Orte, an denen Geschichte geschah. Zu keiner Zeit des Jahres verdichtet sich der Blick auf das, was war, so sehr wie im November. Totensonntag und Volkstrauertag als Marken des Gedenkens an unsere Toten, an die Opfer von Krieg und Rassenhass.

Und der 9. November, an dem eben nicht nur vor 30 Jahren die Mauer fiel, sondern an dem 1938 mit der Pogromnacht die Vernichtung jüdischen Besitzes und der millionenfache Mord an den europäischen Juden begannen. Vor allem dessen zu gedenken ist heute aktueller denn je, auch wenn die letzten Zeitzeugen, die uns berichten können, bald nicht mehr unter uns sein werden. Aber Antisemitismus und Antiziganismus – die sind heute virulenter als noch vor wenigen Jahren.

Juden sind in Deutschland immer öfter Anpöbeleien und nicht nur verbalen, sondern auch körperlichen Attacken ausgesetzt. „Die Zeiten und der Ton sind rauer geworden“, wurde gerade in Berlin bei einer Tagung des Fördervereins Sachsenhausen konstatiert. Und in der dabei gehaltenen „Sachsenhausen Lecture“, einem Vortrag zum nationalsozialistischen Massenmord, veranschaulichte der polnische Historiker Robert Traba, wie sich das Gedenken am Ort des Geschehens, in den ehemaligen Konzentrationslagern, verändert habe.

Da sind Touristen, die in die Gedenkstätten, gerade auch nach Sachsenhausen, fahren, nicht, um mit dem Furchtbaren konfrontiert zu werden, sondern um ein Foto zu machen – „Ich vor dem Wachturm“. Andere kommen in das ehemalige KZ nur, um zu provozieren. Reiner Walleser, Abteilungsleiter für Kultur im brandenburgischen Wissenschaftsministerium, hat ihr Vorgehen anlässlich der erwähnten Tagung beschrieben.

Zweifel werden von rechten Besuchergruppen in KZ´s selbstbewusst gestreut

Es ist eine neue, aber bereits verbreitete Methode rechter Gruppierungen, die dann bei Führungen Zweifel äußern, ganz selbstbewusst: Waren das wirklich sechs Millionen Juden, die umgebracht wurden? Und das mit den Verbrennungsöfen glaube doch sowieso keiner. Das griff Robert Traba, der von 2006 bis 2018 Gründungsdirektor des Berliner Zentrums für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften war, auf. Erinnerte an die NS-Aktion Damosz und ihre Verbrechen zwischen dem Frühjahr 1942 und dem Sommer 1944 – von 400.000 ermordeten Juden ist keine Spur zurückgeblieben, nicht in Sobibor, nicht in Maidanek, nicht in Lublin.

Wie gedenkt man angesichts der Banalisierung des Bösen? Robert Traba fürchtet die Verkitschung des Grauens. Er führt dem Publikum das Gegenteil vor, eine Tonaufnahme aus dem Vernichtungslager Kulmhof. Nichts ist da zu hören als der Wind, der über die weite, öde Fläche der Gedenkstätte weht. Wird Einsamkeit so spürbar? Kann, fragte ihn Gesine Schwan, die Berliner Sozialwissenschaftlerin, und wollte das auch von den Hörern wissen, kann ein Erinnerungsort im Besucher das Gefühl auslösen, das ein Mensch hatte, der dort einmal als Opfer gewesen ist? Sie gab Robert Traba und anderen diesen Gedanken mit: Du, Robert, hast Sehnsucht nach etwas, was es nicht geben kann.

Die Zeitung "Jüdische Allgemeine" unterschrieb dieses Foto 2012:
"Der Höhepunkt der Geschmacklosigkeit war allerdings erreicht,
als Anne Frank auf einem holländischen Graffito mit Palästinensertuch
dargestellt wurde. Soll wohl heißen: Anne Frank gehört zum
palästinensischen Volk, die Israelis sind die neuen Nazis." Foto: CC


Die Verkitschung des Gedenkens ist ein zulässiges Mittel - um Empathie zu wecken

Dennoch ist die Verkitschung des Gedenkens ein künstlerisches und wohl auch zulässiges Mittel, Empathie zu wecken, sich eben doch in das Leid der Opfer hineinzufühlen. Die Holocaust-Verfilmung mit Meryl Streep aus dem Jahre 1974 ist, schaut man die Folgen mit dem Wissen und dem ästhetischen Empfinden von heute noch einmal an, Kitsch. Und doch hat dieses Doku-Drama in einer ganzen Generation – ich selber zähle dazu – völlige Fassungslosigkeit über das Leid ausgelöst, von dem wir alle aus Schulbüchern und aus Seminaren wussten und das uns doch hier das erste Mal, am Beispiel des Schicksals einer Familie, wirklich ergriff.

Die Erinnerung an den Holocaust und an die Toten der beiden Weltkriege ist gleichermaßen eine europäische wie eine nationale Erinnerung. Es ist eine Erinnerung daran, dass das, was zwischen 1939 und 1945 geschah, etwas anderes ist als ein Vogelschiss in der Weltgeschichte. Man muss nur nach Sachsenhausen fahren. Es ist ganz nah. In jeder Beziehung, und nicht nur im November.

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der drahtseilakt zwischen kunst und kitsch ist immer nur ein halten einer schmalen imaginären balance, die sicherlich nur authentisch und "original" im einzelnen menschen selbst beurteilt und bewertet werden kann. und ebenso geht es dann mit der "verkitschung der gedenkkultur": das ist eine frage des geschmacks, der erziehung, der "reife", der sozialisation, der gewonnenen und überkommenen ethik und ästhetik...

vielleicht das beste beispiel dazu war ja die unterschiedliche bewertung der "stolpersteine" des künstlers gunter demnig, der inzwischen wohl über 70.000 kleine pflastersteine in ganz europa verlegt hat, versehen mit einem plättchen aus messinglegierung, in dem der name und die daten jeweils eines ns-mordopfers eingraviert sind. die ganze aktion wird bgleitet durch örtliche patengruppen, die auf die pflege dieser steinchen achten - und sie sogar ab und zu gemeinsam säubern.

in münchen aber hat sich der rat der stadt mit der zulassung der verlegung solcher stolpersteine jahrelang über einige abstimmungen hinweg sehr schwergetan, weil die vorsitzende der jüdischen gemeinde dort, frau knobloch, der ansicht war, durch die verlegung im bürgersteigpflaster vor dem letzten bekannten wohnsitz der ermordeten, würden diese "opfer" erneut mit füßen getreten.
und aufgrund dieser prominenten meinung wollte der stadtrat lange zeit keine verlegungen auf öffentlich zugänglichen flächen zulassen. 

inzwischen hat man sich auf im wahrsten sinne des wortes "aufwändigere" schicke namensgravurschienen an senkrecht stehenden mauern oder stelen jedoch durchringen können.

aber beide lösungen kann man nun nicht als "kitsch" abtun, obwohl eben schon für manche die platzierung im öffentlichen profanen und urbanen raum 80 jahre nach den gräueltaten geschmacklich ein problem darstellen, war die ganze epoche doch für herrn gauland von der afd ein vogelschiss in der geschichte.

um das damalige geschehen in diese zeit herüberzuretten und angemessen zu vermitteln, habe ich mich bei meiner gedenk- und erinnerungsarbeit für meine tante erna kronshage in der betitelung und in der präsentation immer wieder erneut schwergetan - und in  mir gab es sicherlich ähnliche auseinandersetzungen und abwägungen zur gestaltung des gedenkens wie im münchener rat, allerdings konnte ich dann völlig unpolitisch "aus dem bauch heraus" meine entscheidungen dazu jeweils im alleingang treffen oder auch wieder verwerfen und neu gestalten - je nach innerem gusto und von wo ich anregungen dazu erhielt. es gibt ja zur gestaltung solcher geschichte und solcher geschichtsblogs keine normierung und zum glück (noch?) keine bewertung, was und wie man das jeweils tut - oder wie man es zu unterlassen oder was man zu vermeiden hat.

mir ist es dabei immer wichtig, möglichst authentisch mit einschlägigem dokumentarischen bildmaterial  aus der familie oder eben aufhellenden symbolischen abbildungen "erna's story" - ihre "euthanasie"-ermordung in 484 tagen - möglichst  "protokollarisch" in ihren dynamischen abläufen zu recherchieren und zu erzählen - und damit besonders auch jungen menschen, schülern und studenten nahezubringen, damit sie vielleicht in der eigenen familie auch dazu forschen oder die sachverhalte bearbeiten für seminare und prüfungen - um diese manchmal zufällige todbringende willkür damals bloßzustellen und anzuzeigen - und sie gegen wiederholungstäter entsprechend zu wappnen - damit sie rechtzeitig sensibilisiert werden: "nachtijall - ick hör dir trapsen"...


erna kronshage - ausschnitt aus dem
original-fotoabzug - ca. 1940
ist das verkitschung? - das gleiche foto
von 1940 digital coloriert...
da war die frage, ob ich das authentische alte bildmaterial, "geknipst" mit einer damals zeitgenössischen agfa-box-billigkamera auf rollfilm, überhaupt vergrößern und bearbeiten darf - und ob die beige- oder sepia-grautöne "nachgebessert" werden können, und ob ich mit einer software die "schwarz-weiß"-fotos jetztzeitmäßig colorieren kann - und dann kam eben auch die frage: sind die roten lippen auf erna's foto nun kitsch - oder zeigen sie doch auch ein wenig ihre aufmüpfigkeit, dass sie als "junges ding" vom lande damals in den vierziger jahren für ein porträtfoto lippenstift auftrug, denn zweifellos war das auch im sepia-originalfoto als fakt deutlich auszumachen.

ich will aber auch "hingucker" ins netz stellen, die überhaupt wahrgenommen werden - und mit denen sich dann die betrachtenden, vielleicht auch über ein "blättern" und "durchscrollen" hinaus, weiterbeschäftigen. das mordprotokoll soll "profil" gewinnen was so durchaus auch gewollt "be-eindruckt" und die betrachter dadurch auch mitnehmen und führen und leiten.

ich hab an anderer stelle mein selbstverständnis dabei einmal den "lotsen-dienst eines fährmanns" genannt. und da möchte ich in den betrachtern interesse wecken, damit sie dann auch imaginär rufen "fährmann - hol über"... - hol über in eine inzwischen entfernte vergangenheit, die uns aber noch so viel lebenswichtiges zu sagen hat.