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der krieg und seine folgen - ein jeder trage seine last

Enkel des Kriegs

von TOBIAS RÜTHER | FAS . FEUILLETON

Es ist genau achtzig Jahre her, dass der Zweite Weltkrieg angefangen hat – und die Zeitzeugen sterben aus. Vieles spricht aber dafür, dass Erbe und Erfahrung dieses Kriegs noch die Millennials von heute prägen

Am heutigen Sonntag jährt sich der deutsche Überfall auf Polen zum achtzigsten Mal. Achtzigjährige von heute werden sich nicht daran erinnern, vielleicht aber daran, wie es war, als sechs Jahre später der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Die Zeitzeugen von Krieg und Holocaust sterben aus: Bald wird man ihre Gesichter nur noch gefilmt und fotografiert sehen, ihre Stimmen nur noch aufgezeichnet hören können. Wie erinnert man dann an das, was geschehen ist? Wenn man niemanden mehr fragen kann, der oder die dabei war? Das ist ein unermesslicher Verlust.

Andererseits gehört aber auch zur Wahrheit, dass viele derjenigen, die dabei gewesen sind und mitgemacht haben, selbst dann nicht darüber geredet haben, als sie es noch konnten. Dass Zeitzeugen schweigen und lügen, hat deutsche Vergangenheitsbewältigung geprägt. Es ist eines ihrer Leitmotive gewesen – und gehört zum Selbstverständnis der Achtundsechziger: Den eigenen Eltern abverlangt zu haben, endlich zu reden – warst du dabei, dafür, dagegen?

Doch so viel auch geredet worden ist seit 1968: Der Redebedarf ist trotzdem nicht geringer geworden. Und er hat sich, unter immer neuen Forschungsfragen, verzweigt und auf neue Felder erstreckt. Das zeigt auch ein aktueller Bestseller wie Harald Jähners „Wolfszeit“. Jähner erforscht darin, wie die Deutschen in den ersten zehn Nachkriegsjahren mit sich selbst umgegangen sind. Wie sie sich selbst zu Opfern „der Nazis“ erklärten, die vermeintlich wahren Schuldigen aber doch nicht richteten. Wie sie die Wahrheit verdrängten und sie zugleich ausschmückten, es wurde nämlich nie geschwiegen, sondern heftig fabuliert. Wie sie auf Distanz zueinander gingen, um weitermachen, aufbauen, aufsteigen zu können – das ganze Wirtschaftswunder, ein hochfunktionales, kaltes Powerhouse.

Und Jähner gelangt selbst zu einer kühlen Erkenntnis, was diese Funktionalität angeht: „Mag man auch die mangelnde Wahrheitsliebe der deutschen Nachkriegsgesellschaft verurteilen“, schreibt er, „so kommt man kaum umhin, ihr eine Verdrängungsleistung zu attestieren, von der die Nachkommen aufs äußerste profitierten.“ Das Land stand schnell wieder, beide deutschen Teile wurden zu Musterschülern ihrer Blöcke.

Wohlstand aber kittet und tröstet nicht, weswegen die Erinnerung an Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust auch als Konflikt generationeller und familiärer Beziehungen bis heute weiterlebt. Daraus erklärt sich der anhaltende Erfolg von Nico-Hofmann-Geschichtsfilmen wie „Unsere Mütter, unsere Väter“ und auch der Bücher und Veranstaltungen von Sabine Bode. Jahrelang sammelte die Kölner Journalistin die Geschichten der „Kriegskinder“ und „Kriegsenkel“: Von Deutschen, die feststellen mussten, dass sie von einem Krieg geprägt wurden, den sie gar nicht erlebt hatten oder nur als Kinder, und zwar um so heftiger geprägt, weil sie nur spürten, ohne zu verstehen. Was die Großeltern erlebten und taten, lebt in Kindern und Kindeskindern fort – und so bleibt der Krieg, der vor achtzig Jahren begann, weiter präsent. Als Rastlosigkeit, lähmendes Gefühl der Unzulänglichkeit und Fixierung aufs Gestern, als Entscheidungsschwäche, Heimatlosigkeit.

Nachkriegszeit in Hannover: Kinder lauschen einem Mann, der aus einem Gewehr eine Art Cello gebastelt hat und darauf musiziert. Quelle: Wilhelm Hauschild (Archiv) HAZ


Erst indem Bodes Kriegskinder und -enkel aber ihre Erfahrungen teilten, zeigten sich diese gemeinsamen Muster überhaupt. Sie zeigen sich nicht in jeder deutschen Familie: Es ist eher so, dass man beim Lesen merkt, ob man dazugehört. Diese Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen ist charakteristisch. Die einen fürchten sich seit ihrer Kindheit vor den schwarzweißen Porträts junger Männer in Wehrmachtsuniformen, die anderen schlagen vor, die Fotos doch stolz aufzustellen, wie die Vorsitzende der AfD-Parteistiftung, Erika Steinbach, vorgeschlagen hat.

Sabine Bode ist vorgeworfen worden, den Deutschen dazu zu verhelfen, sich am Ende doch noch als Opfer des Nationalsozialismus zu gerieren. Das verkennt, worum es ihr geht: Für die Kriegskinder und Kriegsenkel ist Vergangenheitsbewältigung nicht allein ein mehr oder weniger abstrakter Prozess von Sühne und Verantwortung, der sich an Gedenktage wie den heutigen bindet, sondern: Familienalltag.

Das Nachleben des Zweiten Weltkriegs als Konflikt zwischen den Generationen: Wenn man in diesem Licht zurückblickt, rückt uns die Vergangenheit von vor achtzig Jahren wieder nah. Der amerikanische Schriftsteller Bret Easton Ellis hat in seinem neuen Buch „Weiß“ dafür eine Formel gefunden, und die ist umso interessanter, weil Ellis sie aus amerikanischer Perspektive entwickelt, aus Sicht der Guten, der Sieger.

Ellis, geboren 1964, ein großer Künstler sentimentaler Isolation in besten Verhältnissen, hadert schon seit langem mit seinen jüngeren Zeitgenossen, die man die „Millennials“ nennt (er ist selbst mit einem liiert). Ellis nennt sie die „Generation Weichei“: Ausgestattet einerseits mit größtem Sendungsbewusstsein, andererseits hochempfindlich, was Kritik angeht, und zugleich besessen davon, dass sich alle „safe“ fühlen, so sieht er sie. Die Anerkennung, die Millennials – geboren je nach Rechnung zwischen 1981 und 1998, erwachsen geworden in der letzten Finanzkrise – ökonomisch nicht mehr erfahren, beziehen sie dafür aus der Selbstdarstellungskultur sozialer Medien, aus Selfies und Likes. Hervorgebracht wurde diese Generation aber in der Sicht von Bret Easton Ellis nicht durch das Internet, was einen als Erklärung auch nicht gewundert hätte, sondern: durch den Zweiten Weltkrieg. Durch die Generationendynamik, die er in Gang gesetzt hat, durch die weitergereichten Prägungen, wie man sie ganz ähnlich aus Sabine Bodes Modell kennt. Nur dass es hier ja um die Nation der Befreier geht.

Die amerikanischen Soldaten der „Greatest Generation“, so rechnet Ellis es sich aus, kehrten 1945 im Triumph aus Europa heim und traten einen beispiellosen Aufstieg an. Deren Kinder, die „Baby Boomer“, wuchsen im Wohlstand auf, aber auch im Umbruch der Sixties und mit dem Trauma Vietnam. Die Kinder dieser Baby Boomer wiederum – die Generation X, zu der sich auch Ellis zählt – schauten auf eine Welt, die ihnen Wohlstand, aber auch das massive Desinteresse ihrer Eltern einbrachte. Ellis beschreibt, hingerissen zwischen Melancholie und Entbehrung, die leeren Bungalows, in denen seine Schulfreunde und er im kalifornischen Suburbia spielten und Horrorfilme schauten, eine Welt ohne Eltern: „Wir genossen den Luxus, zugleich deprimiert und ironisch und cool und kreditwürdig zu sein.“

Aus diesen Schulfreunden der Generation X aber sind endlich jene Helikopter-Eltern geworden, die ihre Kinder, die Millennials, mit jener Aufmerksamkeit überschütteten, die ihre eigenen Eltern ihnen versagt hatten. In den Millennials leben also die Konflikte eines erschütterten Wohlstandsglaubens fort, der sich nie für alle einlöste, die kognitiven Dissonanzen gleich mehrerer Generationen seit Kriegsende.

Derart mit Generationenbegriffen um sich zu werfen, hat der Wahrheitsfindung noch nie gedient. Eigentlich redet Bret Easton Ellis aber, ja, von: Familien. Und das macht sein Modell dann wieder übertragbar, trotz der atlantikweiten Unterschiede der Erfahrung von gerechtem Sieg und fürchterlicher Schuld. Da sind die Urgroßväter und Großväter, die einen fürchterlichen Krieg begannen, den andere Urgroßväter und Väter dann zum Glück gewannen. Was sie erlebten, prägt Kinder, Enkel, Urenkel. Auch wenn die Zeitzeugen langsam von uns gehen, auch wenn die deutschen Millennials, ihre jüngeren Geschwister und deren Kinder damit aufwachsen, dass sie nicht mehr im Gespräch fragen können, wie es dazu kommen konnte: Die Spätfolgen dieser weltweiten Erschütterungen leben fort. Als familiäres Erbe: schwarzweiße Porträts in alten Fotoalben, eine Unruhe, die man nicht verorten kann, aber trotzdem kennt, weil sie immer da war. Heute sind es achtzig Jahre.

Text aus: FAS v. 01.09.2019 - S. 33 Feuilleton

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generationen-konflikte der nachkriegs-kinder: wie im netz verheddert


achtzig jahre nach kriegsbeginn muss man auch auf die indirekten psychologischen "kriegs-gewinnler" und "kriegs-verlierer" hinweisen: die menschen, die den nachkriegs-generationen als kinder und kindes-kinder der täter und opfer "bis in die 3. und 4. generation" angehören - und die das in irgendeiner weise spüren und verarbeiten - der eine mehr - die andere weniger ...

und je nach kommunikationsstand in den familien und der bearbeitung und dem reflexionsvermögen sind da "die deutschen" ja irgendwie deshalb zum guten oder zum schlechten geprägt - je nachdem...

und dann sind sie ja auch im gleichen atemzug kinder der spaltung und (millenium-)kinder der vereinigung zweier deutscher staaten, die ihre existenz jeweils nur von den alliierten siegermächten "verliehen" bekommen hatten - alles in allem nichts halbes und nichts ganzes.

und dann sind diese generationen oft kinder von durch die kriegswirren vertriebenen und geflüchteten, schleppen also fast alle ihre eigenart von migrationserfahrung mit sich herum - schimpfen zwar über die "heutigen flüchtlinge", die alles "in den arsch geschoben" kriegen - wohnen aber im kleinen feinen häuschen, das aus "national-solidarischen" lastenausgleichsmitteln und 1:1-umtausch einer maroden währung in eine "harte währung" herrühren - oder vom erbteil des opas, der während des krieges ein paar "fremdarbeiter" ausbeutete usw. usf.: da hat ein jede*r sein packerl zu tragen - von wegen: "vogelschiss"...

und vielfach ist das gar nicht (mehr) so bewusst, sondern unbewusst schwingt das alles mit - und der text von rüthen oben endet deshalb ja auch mit: 

"Die Spätfolgen dieser weltweiten Erschütterungen leben fort. Als familiäres Erbe: schwarzweiße Porträts in alten Fotoalben, eine Unruhe, die man nicht verorten kann, aber trotzdem kennt, weil sie immer da war. Heute sind es achtzig Jahre." 
  • auf meiner website habe ich auch ein paar texte dazu zusammengestellt: click here & here - u.a.



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