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Neue Erkenntnisse zur Diagnose Schizophrenie


dies sind die seiten 47 u. 48 aus meinem 114-seitigen yumpu-bildmagazin: "Nazi-Euthanasiemord: Erna's Leidensporträt", 2018, das die komplexe vielschichtige leidensgeschichte meiner tante erna kronshage von 1942-1944 versucht, zusammenzufassen.


  • 1942 stellte der damalige ns-anstalts-oberarzt dr. werner norda die heute fragwürdige ruck-zuck diagnose "schizophrenie" für seine gerade zuvor eingelieferte patientin erna kronshage in der provinzialheilanstalt gütersloh, aus der sich dann in der folge die kettenreaktionen einer zwangssterilisation im august 1943 ergab ("schizophrenie" galt als erbkrankheit) - und dann eben auch die deportation im november 1943 in die deutsche vernichtungsanstalt "tiegenhof" bei gnesen/giezno im damals besetzten polen -  dort schließlich erna's ermordung nach 100 tagen im februar 1944.
  • beachte besonders mein resümee: ... Aber Schizophrenie unterscheidet sich schon damals ausdrücklich von all den vorübergehenden manchmal eigenartig wirkenden Zuständen, die „psycho-somatisch“, reflexartig ohne eigenes Zutun, als Schutz-Re-Aktionen körperlich ausgelöst werden, wenn sich für die Seele äußere Ereignisse als bedrohlich oder einschneidend darstellen ...
     
80 jahre später las ich nun dazu im "spiegel" folgenden aufsatz über "gefährliche infektionen" von 2019 - in der auch interessante neue erkenntnisse zur "schizophrenie" diskutiert werden:


Gefährliche Infektionen

Wie Entzündungen im Körper zu Depressionen führen können

Lange rätselten Forscher darüber, wie große seelische Leiden entstehen. Das klärt sich nun auf – im Fokus der Forscher: das Immunsystem.

Von Veronika Hackenbroch • 21.06.2019 - Spiegel + /Wissenschaft

Manche Krankheitsgeschichten sind so verrückt, dass man alle medizinischen Wahrheiten über Bord werfen muss, um sie zu verstehen. So auch die Geschichte jenes 67-jährigen Mannes, der an Leukämie erkrankte und deshalb eine Stammzelltransplantation brauchte, ein neues Immunsystem mithin, das das alte, kaputte ersetzen sollte. Eine Routineprozedur eigentlich. Ein jüngerer Bruder, der an Schizophrenie litt, war bereit, die Stammzellen zu spenden.

Nachdem dem Älteren die Zellen des Jüngeren übertragen worden waren, lief zunächst alles glatt. Die Leukämie war geheilt. Aber dann wurde das Medikament, mit dem das neue Immunsystem zunächst noch unterdrückt worden war, abgesetzt. Und plötzlich fing der 67-Jährige an, Stimmen zu hören. Stimmen, die ihm drohten, die kommentierten, was er erlebte. Er entwickelte bizarre Wahnvorstellungen, war überzeugt, andere könnten seine Gedanken lesen. Am Ende hegte er Selbstmord- und Mordgedanken.

Ärzte konnten alle naheliegenden Ursachen für diese psychotischen Symptome ausschließen. Der Mann hatte keinen Tumor im Kopf und keine Virusinfektion, keine Borreliose und kein Delir. Und obwohl er als Bruder eines an Schizophrenie Erkrankten selbst ein erhöhtes Risiko hatte, Opfer dieses psychiatrischen Leidens zu werden, wäre es extrem untypisch gewesen, wenn es ihn in seinem fortgeschrittenen Alter noch erwischt hätte.

Wurde dem Mann mit dem Immunsystem seines Bruders auch dessen Schizophrenie übertragen?

"Ich finde das plausibel", sagt Norbert Müller, emeritierter Professor für Psychiatrie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er beschäftigt sich schon rund 30 Jahre lang mit dem Zusammenspiel von Immunsystem und psychischen Erkrankungen. Lange Zeit war er damit ein wissenschaftlicher Außenseiter.

Jetzt sieht es so aus, als wenn Müller seiner Zeit voraus gewesen war: Die Immunoneuropsychiatrie, die Wissenschaft, die die vielfältigen Verflechtungen zwischen Immunsystem, Gehirn und Psyche erkundet, hat sich in den vergangenen Jahren zu einem der spannendsten Forschungsgebiete in der Medizin entwickelt.

"Die Sicht auf Krankheiten wie Schizophrenie, Depression und Autismus ändert sich gerade", sagt Marion Leboyer, Professorin für Psychiatrie an der französischen Université Paris-Est Créteil. 20 Jahre lang habe sie die Genetik der psychischen Erkrankungen erforscht, erzählt sie, durchaus mit Erfolg, "aber ohne große Hoffnung, daraus einmal Therapien entwickeln zu können". Deshalb sei sie vor rund zehn Jahren auf das Gebiet der Immunologie gewechselt.

Die große Hoffnung lautet: psychische Leiden mit Immuntherapien behandeln zu können – wie Krebs oder Rheuma.

Dass Immunsystem und Psyche irgendwie zusammenhängen, ahnte man schon zu Zeiten von Hippokrates (etwa 460 bis circa 370 vor Christus). Damals wurde erkannt, dass Fieber – Zeichen einer Immunreaktion – Psychosen lindern kann. Der Mediziner Galen, der im 2. Jahrhundert nach Christus in Rom praktizierte, beschrieb einen Fall der Melancholie, der durch Malaria geheilt wurde. Und aus dem 18. Jahrhundert stammt ein Bericht über die Heilung "Tobsüchtiger" nach Pockeninfektion.

Doch die moderne Medizin verpasste sich lange Zeit selbst ein Denkverbot. Das Gehirn, so das Dogma, sei "immunprivilegiert", also dem Zugriff des Immunsystems weitgehend entzogen. Die Blut-Hirn-Schranke schotte es gegen Immunzellen ab. Inzwischen weiß man: Ohne die regulierende Funktion des Immunsystems kann der Mensch gar nicht denken.

Eine tätige Rolle dabei spielt eine Klasse von Immunzellen, die im Gehirn ansässig sind und die Forscher lange unterschätzt haben: sogenannte Mikroglia. Sie erspüren mithilfe von Rezeptoren, welche Nervenzellen des Gehirns gerade arbeiten. Durch direkten Kontakt und über Botenstoffe können sie Einfluss auf die neuronalen Übertragungswege nehmen – die Basis für Lernen, Gedächtnis und soziales Verhalten.

In den winzigen Lymphgefäßen der Hirnhäute umfließen auch Körper-Immunzellen das Gehirn. So erhalten sie ständig Informationen über dessen Zustand. Bei Bedarf überwinden sie von den Blutgefäßen aus die Blut-Hirn-Schranke und beeinflussen zudem mittels Botenstoffen die Aktivität von Nervenzellen.

"Es wird immer klarer, dass Immunmechanismen für die normalen, gesunden Funktionen des Gehirns wesentlich sind", sagt Frauke Zipp, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Neurologie an der Universitätsmedizin Mainz. "Immunsystem und Gehirn kommunizieren ständig miteinander."

Wichtig für das seelische Wohlergehen ist das richtige Gleichgewicht in dieser Kommunikation. Wird dies gestört, durch Entzündungen oder Autoimmunreaktionen, können psychiatrische Erkrankungen entstehen.

Mittlerweile haben Forscher jede Menge solcher Gefahren für die Hirngesundheit ausgemacht. Infektionen mit Viren und Bakterien gehören dazu; so zeigte eine Kohortenstudie mit mehr als einer Million Menschen, dass Infektionen, die einen Krankenhausaufenthalt nötig machten, das Risiko für eine spätere Schizophrenie oder Depression etwa verdoppelten. Eine Infektion der werdenden Mutter während der Schwangerschaft führt dazu, dass das Kind mit einer größeren Wahrscheinlichkeit als andere autistisch wird.

Ein defektes Darmmikrobiom, also eine falsche Zusammensetzung der dort heimischen Bakterien, trägt wahrscheinlich ebenfalls via Immunsystem zur Entstehung seelischer Krankheiten bei.

Und auch genetische Studien bestätigen die wichtige Rolle der Immunabwehr: Viele der Genvarianten, die das Risiko für eine Depression, Schizophrenie, für Autismus oder andere psychiatrische Störungen erhöhen, beeinflussen die Funktion des Immunsystems.

Stück für Stück setzen Forscher ihre Erkenntnisse zu einem völlig neuen Bild psychischer Störungen zusammen, das zwar noch lückenhaft ist, aber Anlass zur Hoffnung auf neue Therapieansätze gibt – vor allem für die drei großen seelischen Leiden: Depression, Autismus und Schizophrenie.

Für Depressionen gibt es bekannte Risikofaktoren, psychosozialer Stress gehört dazu, psychische Traumata können dazu führen. Solche Geschehnisse fachen Entzündungen im Gehirn und im restlichen Körper regelrecht an. Stress macht zudem die Blut-Hirn-Schranke durchlässiger, sodass bestimmte Botenstoffe leichter ins Gehirn gelangen können. Dort entsteht – zumindest bei einem Teil der depressiven Patienten – offenbar eine Art Schwelbrand, eine chronische Entzündung, die die Funktion der Nervenzellen beeinträchtigen kann.

Vieles, was die Stimmung aufhellt, hat hingegen eine antientzündliche Wirkung: Sport und Bewegung, aber auch Entspannungsübungen und eine Psychotherapie, die hilft, mit Stress besser umzugehen.

Erste Untersuchungen mit antientzündlichen Medikamenten waren bereits erfolgreich. So konnte schlichtes Aspirin die Wirkung des Antidepressivums Sertralin in einer Studie mit 100 Patienten signifikant verbessern. Das Arthrosemittel Celecoxib kann die Wirkung eines Antidepressivums verstärken, ebenso wird Infliximab bei Depressionen erprobt, ein Mittel, das beispielsweise bei entzündlichen Darmerkrankungen eingesetzt wird, weil es das Immunsystem unterdrückt. Nun hoffen Forscher, Therapien auch für jene depressiven Patienten entwickeln zu können, denen bislang nicht geholfen werden kann.

Zahlreiche Indizien deuten darauf hin, dass auch beim Autismus, zumindest in einem Teil der Fälle, das Abwehrsystem aus dem Gleichgewicht geraten ist. So leiden überproportional viele Autisten an typischen Krankheiten: In einer kleinen Studie an Patienten mit Asperger, einer milden Form des Autismus, waren 70 Prozent von Allergien, Neurodermitis, Asthma oder ähnlichen Leiden betroffen – im Vergleich zu 7 Prozent in der nicht autistischen Vergleichsgruppe.

Marion Leboyer entdeckte im Blut erwachsener Autisten Immunzellen, die "überstimuliert und völlig dysfunktional" waren. "Es sah aus, als trügen diese Menschen eine Dauerinfektion in sich", sagt sie, "nur dass wir keine Infektion finden konnten."

Überdies scheint das für die Funktion des Immunsystems so wichtige Darmmikrobiom bei einigen Betroffenen gestört zu sein. Als Forscher Stuhl von Autisten auf Mäuse übertrugen, zeigten die Nachkommen der Tiere plötzlich autistische Verhaltensweisen. Umgekehrt konnten in einer Pilotstudie die Symptome einiger autistischer Kinder durch eine Transplantation eines gesunden Stuhlbakterienmixes erheblich verbessert werden. Von den 18 behandelten autistischen Kindern waren vor Behandlungsbeginn 15 als "schwer" betroffen eingestuft worden – zwei Jahre nach der Stuhltransplantation waren es nur noch 3. Die Symptome von 8 der behandelten Kinder hatten sich so stark verbessert, dass sie nicht mehr als Autisten galten.

"Eine Stuhltransplantation bei Autismus klingt völlig verrückt, oder?", fragt Hanna Stevens, Direktorin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Carver College of Medicine der University of Iowa. "Aber es ist wirklich eine sehr interessante Idee." Dringend müssten jetzt weitere Studien gemacht werden.

Bei manchen Menschen, die wie Schizophreniekranke unter Halluzinationen und Wahnvorstellungen leiden, werden diese Symptome durch Autoimmunreaktionen hervorgerufen, wie inzwischen bekannt ist. Dabei attackieren sogenannte Autoantikörper das Gehirn. Lassen diese sich nachweisen, behandeln Ärzte schon heute mit einer Immuntherapie: mit Cortison, Immunglobulinen oder einer Blutwäsche, bei der die Antikörper herausgefiltert werden. "Dass die Betroffenen inzwischen erfolgreich therapiert werden können, ist wirklich bahnbrechend", sagt Neurologin Frauke Zipp.

Auch bei tatsächlichen Schizophreniepatienten, die diese Autoantikörper nicht haben, finden sich häufig entzündliche Veränderungen, die darauf hinweisen, dass das Abwehrsystem entgleist ist. Fieberhaft suchen Forscher nun nach Biomarkern, die ihnen verraten könnten, welche Erkrankten auf eine Immuntherapie ansprechen würden – und welche Art von Therapie jeweils besonders gut geeignet wäre. Noch steht die Forschung am Anfang. "Aber es ist durchaus realistisch, solche Therapien zu finden", sagt der Münchner Psychiater Norbert Müller.
  • Eine der spektakulärsten Heilungen der Schizophrenie verdanken Ärzte allerdings dem Zufall. Einen jungen Mann befielen mit 23 Jahren, kurz nachdem er seinen Universitätsabschluss gemacht hatte, plötzlich Verfolgungswahn und Halluzinationen. Die Ärzte stellten die Diagnose "paranoide Schizophrenie". Die Therapie mit üblichen Medikamenten gegen dieses Leiden schlug nicht an.
  • Dann, mit 24 Jahren, bekam der Mann eine Leukämie. Seine einzige Hoffnung war eine Knochenmarktransplantation. Die gefährliche Prozedur heilte nicht nur seinen Blutkrebs: Nach 30 Tagen waren auch seine Schizophreniesymptome so gut wie verschwunden. Acht Jahre nach der Knochenmarktransplantation, berichteten die Ärzte, ging es dem Mann hervorragend – er war körperlich und psychisch gesund und arbeitete erfolgreich in einem bekannten Unternehmen. 

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