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"Schizophrenie" - Biologisch gesehen gibt es die psychiatrischen Diagnosen gar nicht


PSYCHISCHE STÖRUNGEN - AUCH 80 JAHRE NACH DER (TÖDLICHEN) DIAGNOSESTELLUNG VON ERNA KRONSHAGE:

NICHTS GENAUES WEISS MAN NICHT...

»Biologisch gesehen gibt es die psychiatrischen Diagnosen nicht«

In der Psychiatrie denke man noch immer in Schubladen, sagt Anke Hammerschlag von der Universität Amsterdam. Doch laut ihrer Forschung verbergen sich hinter verschiedenen psychischen Erkrankungen oft dieselben Gene, und die Störungen bilden große Cluster. Im Interview erklärt sie, warum das auch für die Therapie wichtig ist.

Von Anouk Bercht -  Spektrum Psychologie, 5/2020 (September/Oktober)
  

Die meisten psychischen Probleme lassen sich zumindest einer psychiatrischen Diagnose zuordnen. Wer Stimmen hört, leidet vermutlich unter Schizophrenie, und ein sehr unruhiges Kind hat womöglich ADHS. Diese Störungen sind im DSM beschrieben, dem Handbuch für psychische Erkrankungen, und in der ICD, der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten. Wer mit schweren psychischen Problemen zu kämpfen hat, wird in eine Diagnosekategorie gesteckt und bekommt dazu die passende Behandlung. Doch es mehrt sich Kritik am traditionellen Schubladendenken, neuerdings auch aus der genetischen Forschung: Verschiedene psychische Störungen lassen sich teils auf dieselben Risikogene zurückführen. Die Neurowissenschaftlerin Anke Hammerschlag untersucht, wie sich mehrere dieser Erkrankungen genetisch überlappen und wie die biologischen Mechanismen der Hirnzellen damit zusammenhängen. »Bei mehreren Diagnosen spielen vermutlich die gleichen Anomalien in der Kommunikation zwischen Hirnzellen eine Rolle«, sagt sie.

 Spektrum Psychologie: Die Wissenschaft wendet sich den genetischen Gemeinsamkeiten von psychischen Störungen zu. Wie kam es dazu?

Anke Hammerschlag: Symptome von verschiedenen psychischen Störungen überlappen sich; das ist schon länger bekannt. Menschen mit ADHS leiden zum Beispiel häufiger unter depressiven Beschwerden als Menschen ohne ADHS. Entsprechend haben Patienten oft nicht nur eine, sondern mehrere Diagnosen. Außerdem haben Verwandte von Menschen mit Schizophrenie auch ein größeres Risiko, an anderen psychischen Störungen zu erkranken. Das alles lässt vermuten, dass einige psychische Störungen gemeinsame Anteile haben. Wissenschaftler spüren schon länger möglichen Risikogenen für einzelne Störungen nach. Zum Teil bestimmen die Gene, ob man eine psychische Störung entwickelt. Nun sieht es so aus, als ob sich die Risikogene verschiedener Erkrankungen stark überschneiden.

Sollten die Diagnosekategorien aus dem DSM, dem Handbuch für psychische Störungen, trotzdem erhalten bleiben?

Blogisch gesehen gibt es die psychiatrischen Diagnosen nicht. Vielleicht existiert eine Art Kontinuum. Zum Beispiel für Störungen, wie wir sie heute kennen: Der eine Mensch leidet ein wenig unter ADHS, der andere sehr. Oder vielleicht für Symptome: Der eine ist etwas hyperaktiv, der andere sehr. Die Erforschung der genetischen Gemeinsamkeiten steckt noch in den Kinderschuhen. Tausende Gene tragen jeweils nur ein klein wenig zum Risiko psychischer Probleme bei; so viel wissen wir schon heute.

Wie stellt man fest, welche Gene an welchen Störungen beteiligt sind? 

Wir verwenden dazu mehrere Methoden. In den vergangenen Jahren sind die genomweiten Assoziationsstudien populär geworden. Darin vergleichen Wissenschaftler das vollständige Genom – also alle Gene – von großen Gruppen miteinander, in diesem Fall die DNA von Menschen mit und ohne psychiatrische Erkrankungen. Die DNA wird kartiert mit so genannten ChIP-Arrays. Das sind Computerchips, mit denen man die gesamte DNA einer Person kartieren kann. So untersuchen wir, ob bestimmte Genvarianten bei Menschen mit psychischen Störungen seltener oder häufiger auftreten als bei gesunden Kontrollpersonen. Außerdem arbeiten Wissenschaftler auf der ganzen Welt im PGC zusammen, dem Psychiatric Genomics Consortium. Sie haben eine große Sammlung an Gendaten von psychisch kranken und gesunden Menschen. Es gibt sehr viele Gene, die an psychischen Störungen beteiligt sind. Und nicht jeder mit einer solchen Störung trägt alle Varianten in sich. Je mehr DNA wir also gemeinsam betrachten können, desto besser.

Wie genau unterscheiden sich die Gene von gesunden Menschen und jenen mit einer psychischen Erkrankung?

Tausende Gene bestimmen mit, ob man eine psychische Störung bekommt oder nicht; ein einziges Gen hat daran nur einen kleinen Anteil. Das ist noch immer die wichtigste Erkenntnis dieser Forschung. Menschen ohne Diagnose tragen durchaus auch Risikogene. Außerdem können zwei Patienten mit derselben Diagnose verschiedene Risikogene aufweisen. 2013 haben Wissenschaftler vom PGC die erste große Studie veröffentlicht. Darin stellte man erstmals bei einer umfangreichen Stichprobe fest, dass sich die Gene überlappen. Sie untersuchten knapp 28 000 Versuchpersonen ohne psychische Störung und ungefähr 33 000 mit Autismus, ADHS, Schizophrenie, Depression oder bipolarer Störung.

2019 brachte das PGC erneut eine große Studie heraus, diesmal mit noch mehr Teilnehmern und noch mehr Störungen – rund 233 000 Männer und Frauen mit Schizophrenie, Autismus, Depression, Magersucht, Zwangsstörung, bipolarer Störung, ADHS oder Tourette-Syndrom. Und dazu eine halbe Million Menschen ohne Diagnose. Das Ergebnis: 109 Genvarianten steigerten das Risiko von jeweils mindestens zwei psychiatrischen Erkrankungen. Und ein Gen, genannt DCC, mischte bei allen acht untersuchten Störungen mit. Dieses Gen ist an der Entwicklung der Hirnzellen beteiligt. Wahrscheinlich gibt es noch mehr Gene, die das Risiko von einer oder mehreren Störungen erhöhen, aber das können wir mit unseren heutigen Studien noch nicht herausfinden. 

Einige Störungen hängen enger miteinander zusammen als andere, oder?

Das stimmt. Schizophrenie, Depression und bipolare Störungen haben viel gemeinsam, zum Beispiel überlappen sich die für Schizophrenie typischen Gene zu etwa 70 Prozent mit denen, die das Risiko einer bipolaren Störung steigern. Die Erbanlagen für Autismus, ADHS und – wiederum – Depression formen auch eine Art Cluster mit vielen gemeinsamen Genvarianten. Ein drittes Cluster bilden Tourette-Syndrom, Magersucht und Zwangsstörung. Doch es kann auch andersherum sein. Einige Genvarianten steigern das Risiko einer Schizophrenie, aber mindern das einer bipolaren Störung. Was das genau bedeutet, ist bislang unklar.

Welche Gene haben Sie noch gefunden?

In genomweiten Assoziationsstudien finden wir meist keine spezifischen Gene, sondern so genannte Genorte oder Genloki. Ein solcher Genort ist ein Stück DNA, auf dem mehrere Gene sitzen und das man am Stück als Ganzes von Vater oder Mutter erbt. Möchte man wissen, welche Gene speziell eine Rolle spielen, dann muss man zusätzlich eine Laborstudie durchführen. Wenn man beispielsweise im Tierversuch gezielt bestimmte Gene ausschaltet, kann man verfolgen, welche Prozesse, Funktionen oder Verhaltensweisen von den Genen beeinflusst werden. Da wir stets hunderte Genorte für eine psychiatrische Erkrankung finden, ist es mühselig, für sie alle solche Laborversuche durchzuführen. Ich will vor allem herausfinden, welche biologischen Mechanismen bei psychischen Störungen eine Rolle spielen. Dann würden wir besser verstehen, wie die Probleme entstehen und wie wir sie behandeln können. Um diese Mechanismen zu entdecken, führen wir Computeranalysen durch. Dafür müssen wir nicht einmal wissen, um welche Gene es sich genau handelt. 

Weiß man schon etwas darüber, was die verschiedenen psychischen Störungen biologisch gesehen verbindet?

Einer der Genorte, die bei Schizophrenie, bipolarer Störung und Depression beteiligt sind, haben mit den Kalziumkanälen im Gehirn zu tun. Nervenzellen brauchen diese Kanäle, um miteinander zu kommunizieren. Es ist noch nicht klar, wie diese Kanäle die Entwicklung einer psychischen Störung genau beeinflussen. Im Jahr 2019 habe ich versucht, hinter die gemeinsamen biologischen Mechanismen dieser drei Störungen sowie ADHS und Autismus zu kommen. Alle sich überlappenden Gene, die in früheren Studien gefunden wurden, schienen etwas mit den Nervenzellen im Gehirn zu tun zu haben, die meisten von ihnen mit Synapsen. Das sind die Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen, die ebenso wie Kalziumkanäle bei der neuronalen Kommunikation eine Rolle spielen. 

Was bedeuten diese Befunde? 

Wahrscheinlich verändern die gemeinsamen Gene die Kommunikation zwischen den Neuronen. Das macht Menschen möglicherweise anfälliger dafür, eine psychische Störung zu entwickeln. Wie genau das funktioniert, ist noch unklar. Dazu gibt es nun weitere Studien. In anderen Untersuchungen fanden Wissenschaftler Gene, die schon vor der Geburt an der Entwicklung von Hirnnervenzellen beteiligt sind. Ein wichtiger Befund, denn einige Störungen manifestieren sich erst in späteren Jahren. Nehmen wir Schizophrenie oder Depression: Wahrscheinlich ist bei ihnen bereits vor der Geburt, nicht nur genetisch, sondern auch biologisch gesehen etwas nicht in Ordnung. Vielleicht gehören Schizophrenie und Depression, ebenso wie Autismus und ADHS, zu den angeborenen neuropsychiatrischen Entwicklungsstörungen.

Was entscheidet darüber, welche psychischen Probleme dann tatsächlich auftreten?

Eine Kombination aus den allgemeinen Anlagen, gemeinsam mit Genen, die speziell mit einer bestimmten Störung zu tun haben, sowie allerlei Umweltbedingungen. Zumindest glauben wir das; es braucht noch mehr Forschung. Genstudien sollten sich künftig mehr an Symptomen orientieren und weniger an den DSM-Diagnosen. Interessant ist, welche Gene und biologische Mechanismen mit welchen Symptomen zusammenhängen. Außerdem gibt es auch genetische Gemeinsamkeiten zwischen psychischen Störungen und Persönlichkeitsmerkmalen. Wie neurotisch jemand ist, hängt zum Beispiel zusammen mit seinem Risiko für eine Depression oder Angststörung. Wer eine psychische Störung entwickelt, befindet sich auch im oberen Bereich von Eigenschaften wie »neurotisch«, »hyperaktiv« oder »Schwierigkeiten mit sozialen Interaktionen«. Psychische Probleme sind nicht so schwarz-weiß, wie die Diagnosen des DSM vermuten lassen.

Verrät die Menge der vorhandenen Risikogene etwas über die Schwere der Symptome bei psychischen Problemen?

Das ist bislang unklar. Wir müssen erst besser verstehen, wie die Erbanlagen die Hirnfunktionen beeinflussen. Risikogene erklären nur ein paar Prozent der Frage, warum manche Menschen eine psychische Störung entwickeln und andere nicht. Wir haben bloß einen kleinen Teil des genetischen Puzzles gelöst. Im individuellen Fall können wir anhand der Erbanlagen noch nicht einschätzen, wie groß das Risiko für psychische Probleme ist. Leider arbeiten einige Firmen an Tests, die dieses Risiko bestimmen sollen. Aber das funktioniert nicht; so weit sind wir mit der Forschung nicht.

Müssen wir jetzt auf andere Weise Diagnosen stellen und Störungen behandeln? 

Immer mehr Ärzte und Therapeuten wissen um die gemeinsamen Gene. Sie beobachten überdies dieselben Symptome bei verschiedenen Störungen, und sie sehen, dass viele Patienten mehr als eine Diagnose bekommen. In der Psychiatrie denkt man noch in Schubladen: Zu Störung A gehört Medikament B. Doch vielleicht bringt es mehr, wenn man die Medizin für ein Symptom verschreibt. Darum wollen Wissenschaftler jetzt untersuchen, ob man die vorhandenen Medikamente auch anders einsetzen kann. Von ihnen ist schon bekannt, in welche biologischen Funktionen, Prozesse oder Eiweiße sie eingreifen. Das vergleichen die Forscher mit den Genen und biologischen Funktionen, die wir aus den Studien zu Genen und psychiatrischen Erkrankungen kennen. Finden sie eine Übereinstimmung, hilft ein bekanntes Medikament vielleicht auch bei anderen Störungen. Es könnte an denselben Symptomen ansetzen. Neue Wirkstoffe sind dann gar nicht nötig. Das macht viel aus, denn ein neues Medikament zu entwickeln, dauert oft Jahre.

Was wollen Sie selbst künftig noch untersuchen?

Ich will versuchen, die biologischen Mechanismen zu finden, die mit ADHS und Autismus zusammenhängen, mit Hilfe der mit ihnen verbundenen und oft überlappenden Gene. So bekommen wir einen Einblick in die Funktion der Gene und wie sie psychische Probleme eventuell verstärken oder beeinflussen. Die Gemeinsamkeiten zwischen Störungen faszinieren mich weiterhin. Da gibt es noch genug zu erforschen.

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Diese wissenschaftlich fundierten Aufsätze  beschreiben ja genau das, was an der ad-hoc-Diagnosestellung 1942 einer "Schizophrenie" bei meiner Tante Erna Kronshage zu bemängeln ist - dass man nämlich all die damals evtl. auslösenden "Umwelt-Faktoren" bei der Diagnosestellung außer Acht ließ - bzw. sie damals keinerlei pathologisch-diagnostische Rolle spielten (nach der propagandistisch hingeworfenen Hitler-Floskel: "Flink wie Windhunde - zäh wie Leder - hart wie Krupp-Stahl"...): die psycho-somatischen Symptome etwa bei einem handfesten "Burn-out" - das "Ausgebranntsein" bei alltäglicher Überforderung: die gerade 20-jährige Erna blieb allein zur Mitarbeit bei den kränklichen bzw. ältlichen Eltern auf dem Hof zurück: sie war damit körperlich und auch "entwicklungspsychologisch" überfordert - intellektuell aber wohl unterfordert und innerpsychisch vereinsamt mangels gleichaltrigen Partner*innen...; ggf. auch durch eine nicht aufgearbeitete "traumatische Belastungsstörung" durch die plötzliche Bombenzerstörung des gegenüberliegenden Nachbarhofes in ca. 80 m Entfernung mit dem Verlust einer fast gleichaltrigen Nachbarin - während die Brüder alle an der Ostfront im Krieg eingebunden sind...

Fälschlicherweise war man damals weltweit - nicht nur in Nazi-Deutschland - der Meinung, "Schizophrenie" sei eine reine Erberkrankung einer eindeutig pathologisch determinierten Genkomponente, obwohl man die heute üblichen differenzierenden Untersuchungsmöglichkeiten gar nicht hatte oder kannte - und nicht mal auch nur annahm, dass es auch "anders sein" könnte - man fühlte sich wissenschaftlich "up to date"...

Für Erna war dieses Unvermögen ihr Todesurteil. - si-ew

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Neue Erkenntnisse zur Diagnose Schizophrenie


dies sind die seiten 47 u. 48 aus meinem 114-seitigen yumpu-bildmagazin: "Nazi-Euthanasiemord: Erna's Leidensporträt", 2018, das die komplexe vielschichtige leidensgeschichte meiner tante erna kronshage von 1942-1944 versucht, zusammenzufassen.


  • 1942 stellte der damalige ns-anstalts-oberarzt dr. werner norda die heute fragwürdige ruck-zuck diagnose "schizophrenie" für seine gerade zuvor eingelieferte patientin erna kronshage in der provinzialheilanstalt gütersloh, aus der sich dann in der folge die kettenreaktionen einer zwangssterilisation im august 1943 ergab ("schizophrenie" galt als erbkrankheit) - und dann eben auch die deportation im november 1943 in die deutsche vernichtungsanstalt "tiegenhof" bei gnesen/giezno im damals besetzten polen -  dort schließlich erna's ermordung nach 100 tagen im februar 1944.
  • beachte besonders mein resümee: ... Aber Schizophrenie unterscheidet sich schon damals ausdrücklich von all den vorübergehenden manchmal eigenartig wirkenden Zuständen, die „psycho-somatisch“, reflexartig ohne eigenes Zutun, als Schutz-Re-Aktionen körperlich ausgelöst werden, wenn sich für die Seele äußere Ereignisse als bedrohlich oder einschneidend darstellen ...
     
80 jahre später las ich nun dazu im "spiegel" folgenden aufsatz über "gefährliche infektionen" von 2019 - in der auch interessante neue erkenntnisse zur "schizophrenie" diskutiert werden:


Gefährliche Infektionen

Wie Entzündungen im Körper zu Depressionen führen können

Lange rätselten Forscher darüber, wie große seelische Leiden entstehen. Das klärt sich nun auf – im Fokus der Forscher: das Immunsystem.

Von Veronika Hackenbroch • 21.06.2019 - Spiegel + /Wissenschaft

Manche Krankheitsgeschichten sind so verrückt, dass man alle medizinischen Wahrheiten über Bord werfen muss, um sie zu verstehen. So auch die Geschichte jenes 67-jährigen Mannes, der an Leukämie erkrankte und deshalb eine Stammzelltransplantation brauchte, ein neues Immunsystem mithin, das das alte, kaputte ersetzen sollte. Eine Routineprozedur eigentlich. Ein jüngerer Bruder, der an Schizophrenie litt, war bereit, die Stammzellen zu spenden.

Nachdem dem Älteren die Zellen des Jüngeren übertragen worden waren, lief zunächst alles glatt. Die Leukämie war geheilt. Aber dann wurde das Medikament, mit dem das neue Immunsystem zunächst noch unterdrückt worden war, abgesetzt. Und plötzlich fing der 67-Jährige an, Stimmen zu hören. Stimmen, die ihm drohten, die kommentierten, was er erlebte. Er entwickelte bizarre Wahnvorstellungen, war überzeugt, andere könnten seine Gedanken lesen. Am Ende hegte er Selbstmord- und Mordgedanken.

Ärzte konnten alle naheliegenden Ursachen für diese psychotischen Symptome ausschließen. Der Mann hatte keinen Tumor im Kopf und keine Virusinfektion, keine Borreliose und kein Delir. Und obwohl er als Bruder eines an Schizophrenie Erkrankten selbst ein erhöhtes Risiko hatte, Opfer dieses psychiatrischen Leidens zu werden, wäre es extrem untypisch gewesen, wenn es ihn in seinem fortgeschrittenen Alter noch erwischt hätte.

Wurde dem Mann mit dem Immunsystem seines Bruders auch dessen Schizophrenie übertragen?

"Ich finde das plausibel", sagt Norbert Müller, emeritierter Professor für Psychiatrie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er beschäftigt sich schon rund 30 Jahre lang mit dem Zusammenspiel von Immunsystem und psychischen Erkrankungen. Lange Zeit war er damit ein wissenschaftlicher Außenseiter.

Jetzt sieht es so aus, als wenn Müller seiner Zeit voraus gewesen war: Die Immunoneuropsychiatrie, die Wissenschaft, die die vielfältigen Verflechtungen zwischen Immunsystem, Gehirn und Psyche erkundet, hat sich in den vergangenen Jahren zu einem der spannendsten Forschungsgebiete in der Medizin entwickelt.

"Die Sicht auf Krankheiten wie Schizophrenie, Depression und Autismus ändert sich gerade", sagt Marion Leboyer, Professorin für Psychiatrie an der französischen Université Paris-Est Créteil. 20 Jahre lang habe sie die Genetik der psychischen Erkrankungen erforscht, erzählt sie, durchaus mit Erfolg, "aber ohne große Hoffnung, daraus einmal Therapien entwickeln zu können". Deshalb sei sie vor rund zehn Jahren auf das Gebiet der Immunologie gewechselt.

Die große Hoffnung lautet: psychische Leiden mit Immuntherapien behandeln zu können – wie Krebs oder Rheuma.

Dass Immunsystem und Psyche irgendwie zusammenhängen, ahnte man schon zu Zeiten von Hippokrates (etwa 460 bis circa 370 vor Christus). Damals wurde erkannt, dass Fieber – Zeichen einer Immunreaktion – Psychosen lindern kann. Der Mediziner Galen, der im 2. Jahrhundert nach Christus in Rom praktizierte, beschrieb einen Fall der Melancholie, der durch Malaria geheilt wurde. Und aus dem 18. Jahrhundert stammt ein Bericht über die Heilung "Tobsüchtiger" nach Pockeninfektion.

Doch die moderne Medizin verpasste sich lange Zeit selbst ein Denkverbot. Das Gehirn, so das Dogma, sei "immunprivilegiert", also dem Zugriff des Immunsystems weitgehend entzogen. Die Blut-Hirn-Schranke schotte es gegen Immunzellen ab. Inzwischen weiß man: Ohne die regulierende Funktion des Immunsystems kann der Mensch gar nicht denken.

Eine tätige Rolle dabei spielt eine Klasse von Immunzellen, die im Gehirn ansässig sind und die Forscher lange unterschätzt haben: sogenannte Mikroglia. Sie erspüren mithilfe von Rezeptoren, welche Nervenzellen des Gehirns gerade arbeiten. Durch direkten Kontakt und über Botenstoffe können sie Einfluss auf die neuronalen Übertragungswege nehmen – die Basis für Lernen, Gedächtnis und soziales Verhalten.

In den winzigen Lymphgefäßen der Hirnhäute umfließen auch Körper-Immunzellen das Gehirn. So erhalten sie ständig Informationen über dessen Zustand. Bei Bedarf überwinden sie von den Blutgefäßen aus die Blut-Hirn-Schranke und beeinflussen zudem mittels Botenstoffen die Aktivität von Nervenzellen.

"Es wird immer klarer, dass Immunmechanismen für die normalen, gesunden Funktionen des Gehirns wesentlich sind", sagt Frauke Zipp, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Neurologie an der Universitätsmedizin Mainz. "Immunsystem und Gehirn kommunizieren ständig miteinander."

Wichtig für das seelische Wohlergehen ist das richtige Gleichgewicht in dieser Kommunikation. Wird dies gestört, durch Entzündungen oder Autoimmunreaktionen, können psychiatrische Erkrankungen entstehen.

Mittlerweile haben Forscher jede Menge solcher Gefahren für die Hirngesundheit ausgemacht. Infektionen mit Viren und Bakterien gehören dazu; so zeigte eine Kohortenstudie mit mehr als einer Million Menschen, dass Infektionen, die einen Krankenhausaufenthalt nötig machten, das Risiko für eine spätere Schizophrenie oder Depression etwa verdoppelten. Eine Infektion der werdenden Mutter während der Schwangerschaft führt dazu, dass das Kind mit einer größeren Wahrscheinlichkeit als andere autistisch wird.

Ein defektes Darmmikrobiom, also eine falsche Zusammensetzung der dort heimischen Bakterien, trägt wahrscheinlich ebenfalls via Immunsystem zur Entstehung seelischer Krankheiten bei.

Und auch genetische Studien bestätigen die wichtige Rolle der Immunabwehr: Viele der Genvarianten, die das Risiko für eine Depression, Schizophrenie, für Autismus oder andere psychiatrische Störungen erhöhen, beeinflussen die Funktion des Immunsystems.

Stück für Stück setzen Forscher ihre Erkenntnisse zu einem völlig neuen Bild psychischer Störungen zusammen, das zwar noch lückenhaft ist, aber Anlass zur Hoffnung auf neue Therapieansätze gibt – vor allem für die drei großen seelischen Leiden: Depression, Autismus und Schizophrenie.

Für Depressionen gibt es bekannte Risikofaktoren, psychosozialer Stress gehört dazu, psychische Traumata können dazu führen. Solche Geschehnisse fachen Entzündungen im Gehirn und im restlichen Körper regelrecht an. Stress macht zudem die Blut-Hirn-Schranke durchlässiger, sodass bestimmte Botenstoffe leichter ins Gehirn gelangen können. Dort entsteht – zumindest bei einem Teil der depressiven Patienten – offenbar eine Art Schwelbrand, eine chronische Entzündung, die die Funktion der Nervenzellen beeinträchtigen kann.

Vieles, was die Stimmung aufhellt, hat hingegen eine antientzündliche Wirkung: Sport und Bewegung, aber auch Entspannungsübungen und eine Psychotherapie, die hilft, mit Stress besser umzugehen.

Erste Untersuchungen mit antientzündlichen Medikamenten waren bereits erfolgreich. So konnte schlichtes Aspirin die Wirkung des Antidepressivums Sertralin in einer Studie mit 100 Patienten signifikant verbessern. Das Arthrosemittel Celecoxib kann die Wirkung eines Antidepressivums verstärken, ebenso wird Infliximab bei Depressionen erprobt, ein Mittel, das beispielsweise bei entzündlichen Darmerkrankungen eingesetzt wird, weil es das Immunsystem unterdrückt. Nun hoffen Forscher, Therapien auch für jene depressiven Patienten entwickeln zu können, denen bislang nicht geholfen werden kann.

Zahlreiche Indizien deuten darauf hin, dass auch beim Autismus, zumindest in einem Teil der Fälle, das Abwehrsystem aus dem Gleichgewicht geraten ist. So leiden überproportional viele Autisten an typischen Krankheiten: In einer kleinen Studie an Patienten mit Asperger, einer milden Form des Autismus, waren 70 Prozent von Allergien, Neurodermitis, Asthma oder ähnlichen Leiden betroffen – im Vergleich zu 7 Prozent in der nicht autistischen Vergleichsgruppe.

Marion Leboyer entdeckte im Blut erwachsener Autisten Immunzellen, die "überstimuliert und völlig dysfunktional" waren. "Es sah aus, als trügen diese Menschen eine Dauerinfektion in sich", sagt sie, "nur dass wir keine Infektion finden konnten."

Überdies scheint das für die Funktion des Immunsystems so wichtige Darmmikrobiom bei einigen Betroffenen gestört zu sein. Als Forscher Stuhl von Autisten auf Mäuse übertrugen, zeigten die Nachkommen der Tiere plötzlich autistische Verhaltensweisen. Umgekehrt konnten in einer Pilotstudie die Symptome einiger autistischer Kinder durch eine Transplantation eines gesunden Stuhlbakterienmixes erheblich verbessert werden. Von den 18 behandelten autistischen Kindern waren vor Behandlungsbeginn 15 als "schwer" betroffen eingestuft worden – zwei Jahre nach der Stuhltransplantation waren es nur noch 3. Die Symptome von 8 der behandelten Kinder hatten sich so stark verbessert, dass sie nicht mehr als Autisten galten.

"Eine Stuhltransplantation bei Autismus klingt völlig verrückt, oder?", fragt Hanna Stevens, Direktorin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Carver College of Medicine der University of Iowa. "Aber es ist wirklich eine sehr interessante Idee." Dringend müssten jetzt weitere Studien gemacht werden.

Bei manchen Menschen, die wie Schizophreniekranke unter Halluzinationen und Wahnvorstellungen leiden, werden diese Symptome durch Autoimmunreaktionen hervorgerufen, wie inzwischen bekannt ist. Dabei attackieren sogenannte Autoantikörper das Gehirn. Lassen diese sich nachweisen, behandeln Ärzte schon heute mit einer Immuntherapie: mit Cortison, Immunglobulinen oder einer Blutwäsche, bei der die Antikörper herausgefiltert werden. "Dass die Betroffenen inzwischen erfolgreich therapiert werden können, ist wirklich bahnbrechend", sagt Neurologin Frauke Zipp.

Auch bei tatsächlichen Schizophreniepatienten, die diese Autoantikörper nicht haben, finden sich häufig entzündliche Veränderungen, die darauf hinweisen, dass das Abwehrsystem entgleist ist. Fieberhaft suchen Forscher nun nach Biomarkern, die ihnen verraten könnten, welche Erkrankten auf eine Immuntherapie ansprechen würden – und welche Art von Therapie jeweils besonders gut geeignet wäre. Noch steht die Forschung am Anfang. "Aber es ist durchaus realistisch, solche Therapien zu finden", sagt der Münchner Psychiater Norbert Müller.
  • Eine der spektakulärsten Heilungen der Schizophrenie verdanken Ärzte allerdings dem Zufall. Einen jungen Mann befielen mit 23 Jahren, kurz nachdem er seinen Universitätsabschluss gemacht hatte, plötzlich Verfolgungswahn und Halluzinationen. Die Ärzte stellten die Diagnose "paranoide Schizophrenie". Die Therapie mit üblichen Medikamenten gegen dieses Leiden schlug nicht an.
  • Dann, mit 24 Jahren, bekam der Mann eine Leukämie. Seine einzige Hoffnung war eine Knochenmarktransplantation. Die gefährliche Prozedur heilte nicht nur seinen Blutkrebs: Nach 30 Tagen waren auch seine Schizophreniesymptome so gut wie verschwunden. Acht Jahre nach der Knochenmarktransplantation, berichteten die Ärzte, ging es dem Mann hervorragend – er war körperlich und psychisch gesund und arbeitete erfolgreich in einem bekannten Unternehmen. 

im moment völlig verrückt



sinedi.art

Leben mit Schizophrenie

"Ich bin an ein fahrendes Auto gesprungen"
 
Cordt Winkler, 39, lebt mit der Diagnose "paranoide Schizophrenie". Er kannte die Krankheit schon als Kind – von seinem Vater. Im Gespräch erzählt er von Verfolgungswahn, Medikamenten und den guten Seiten des Verrücktseins. 

Text: Daniel Sander | SPIEGEL +
Dieser Text stammt aus der Reihe SPIEGEL+ Bestseller. Er ist erstmals erschienen im März 2019.


SPIEGEL: Herr Winkler, wie gut erinnern Sie sich an die Zeit, als Ihre Krankheit sich offenbarte?

Winkler: Sehr genau. Das Anschleichen begann mit Anfang zwanzig, kurz bevor ich während des Studiums nach Berlin gezogen bin, dort ging es dann richtig los. Dieses Gefühl, dass man beobachtet wird, überwacht von unsichtbaren Kameras. Auf einmal war ich überzeugt, dass ich perfekt Klavier spielen kann, dass ich große Symphonien komponieren muss. Dabei fand ich dann die Weltformel. Die will jeder haben, deswegen war klar, dass ich verfolgt werde. Es war schlimm, aber ich erinnere mich auch an Glücksmomente. In einem Moment war ich sicher, dass ich jeden Moment an BSE sterben würde. Dann wurde mir bewusst, dass ich wahrscheinlich bald zum Bundeskanzler gewählt werde.

SPIEGEL: Sehen Sie sich als schizophrenen Menschen?

Winkler: Ich glaube, man kann niemanden als schizophrenen Menschen bezeichnen – diese Krankheit ist ja kein Dauerzustand. Es handelt sich in der Regel um Episoden, von denen man sich weitgehend erholen kann. Sichtbar wird die Krankheit nur in diesen Akutphasen. Treffender finde ich deshalb "an einer Schizophrenie erkrankt", das ist ein feiner Unterschied.

SPIEGEL: Sie hatten bisher vier Episoden. Fühlen Sie sich denn krank?

Winkler: Ich finde diese Gratwanderung zwischen den Begriffen "krank" und "gesund" generell nicht sinnvoll. Mir geht es eher um die Frage, wie man eine gute Lebensqualität erreicht, wenn man mit Einschränkungen lebt. Und das gelingt mir, würde ich sagen.

SPIEGEL: Wann wurde bei Ihnen die Diagnose "paranoide Schizophrenie" gestellt?

Winkler: Das stand irgendwann in einem Arztbrief, der mir nach einem Psychiatrieaufenthalt ins Haus flatterte, glaube ich. Erst mal reden die Ärzte immer von einer Psychose. Es müssen ganz bestimmte Symptome über einen gewissen Zeitraum auftreten, damit man von einer Schizophrenie sprechen kann.

SPIEGEL: Finden Sie den Begriff Schizophrenie noch angemessen?

Winkler: Das Wort ist mit so vielen Ängsten, Vorurteilen und Klischees verbunden, dass ich damit nur schwer vermitteln kann, was mit mir los ist. Die Leute denken oft an "Jekyll und Hyde", an multiple Persönlichkeitsstörung, und das ist etwas ganz anderes. Ich höre auch keine Stimmen, obwohl das selbst Ärzte oft zuerst fragen. Der Begriff macht den Menschen Angst und hält sie möglicherweise davon ab, die Diagnose selbst für sich zu akzeptieren. Deswegen finde ich es gut, dass in Staaten wie Japan oder Südkorea das böse S-Wort ersetzt worden ist. Ich finde so etwas wie "vorübergehende psychotische Störung" treffender.

SPIEGEL: In dem Buch, das Sie über Ihr Leben mit der Krankheit geschrieben haben, erzählen Sie auch von Ihrem Vater. Bei ihm trat die Krankheit zum ersten Mal auf, als Sie drei Jahre alt waren. Haben Sie sich vor Ihrer ersten Episode je Sorgen um sich selbst gemacht?

Winkler: Ich wusste, dass es eine genetische Komponente gibt. In meiner Kindheit und Jugend habe ich das aber verdrängen können. Es war schlimm, meinen Vater immer wieder in diesem Zustand zu erleben, und ich wollte auf keinen Fall daran denken, dass es mir mal so gehen könnte.

SPIEGEL: Ab wann war Ihnen bewusst, dass mit Ihrem Vater etwas nicht stimmt?

Winkler: Mir war immer klar, dass mein Vater anders ist. Es gab immer erst eine Phase, in der es ihm gut ging. Dann schlich sich die Krankheit an, und er fing an, merkwürdige Dinge zu tun. In der akuten Phase war er dann außer sich, schrie und weinte und tobte. Anschließend kam er jedes Mal in eine Psychiatrie und wurde sediert. Die Medikamente hatten starke Nebenwirkungen, deswegen setzte er sie immer bald ab, nachdem er nach Hause gekommen war. Und dann ging es wieder los. Es war ein Drehtüreffekt.

SPIEGEL: Sie sprechen von einem Anschleichen der Krankheit. Wie fühlt sich das an?

Winkler: Das sind unklare und wirre Symptome, die auch für Fachleute schwierig einzuschätzen sind. Bei mir war es so, dass ich kurz vor der tatsächlichen Episode einfach allein sein wollte und manchmal grundlos angefangen habe zu weinen. Ein unbestimmtes Gefühl von Verlorenheit. Wegen meiner Familiengeschichte bin ich in ein Früherkennungszentrum gegangen und habe mich von einem Psychiater untersuchen lassen. Der hat aber nur eine leichte Depression diagnostiziert.

SPIEGEL: Wenn Sie sich an Ihre Episoden erinnern, schauen Sie da auf einen anderen Menschen?

Winkler: Das ist schon immer mein Ich gewesen, ich habe es schließlich so erlebt. Es ist aber nicht das Ich, das ich steuern kann. Es macht mich nicht als Person aus. Trotzdem kann ich mich genau erinnern, was ich gedacht und wie ich mich gefühlt habe. In dem jeweiligen Moment schienen mir all die kruden Dinge sehr logisch.

SPIEGEL: Gibt es während einer Episode Momente des Erkennens? Spürten Sie: Das ist jetzt nicht normal?

Winkler: Vor meiner letzten Episode war ich in Therapie und habe dort einen Notfallplan entwickelt. Punkt eins: zum Therapeuten gehen, wenn sich die ersten Symptome häufen. Klingt ja leicht. Ich habe das auch versucht. Aber ich bin dann aus dieser anderen Realität nicht mehr rausgekommen. Man ist dann überzeugt, dass es ganz logisch ist, in die nächste Tiefgarage zu gehen und dort mit dem Feuerlöscher Schaumgebilde zu erschaffen. Man wird da langsam hineingezogen. Manchmal hatte ich noch klare Momente, in denen ich mit Freunden telefonieren und denen schildern konnte, dass es mir vielleicht nicht so gut geht. Aber gerade dann habe ich offenbar einen so klaren Eindruck gemacht, dass sie den Ernst der Lage nicht erkannt haben – das ist von außen ganz schwer einzuschätzen.

SPIEGEL: Selbst für Menschen, die Sie gut kennen?

Winkler: Ja, vielleicht besonders für die. Manche wollen es vielleicht nicht wahrhaben. Für Außenstehende ist es enorm schrecklich mitanzusehen, was da passiert mit einer Person, die nicht mehr sie selbst ist. Anzusehen, wie diese Identität brüchig wird und verloren geht. Ich hab es ja bei meinem Vater gesehen. Das wünsche ich niemandem.

"Die Vorstellung des verletzlichen und furchtbar kreativen Psychotikers ist ein Klischee"

SPIEGEL: Ihre Mutter ist an Krebs gestorben, bevor Sie ihr von der Krankheit erzählen konnten. Wie hätte sie reagiert?

Winkler: Sie wäre geschockt gewesen. Gerade weil sie so sehr unter der Krankheit meines Vaters gelitten hat. Als Kind war es schon schlimm, aber als Mutter, die Verantwortung für die ganze Familie trägt, die sich entscheiden muss: Unterstütze ich den Partner, oder lasse ich mich scheiden und bringe meine Kinder und mich hier raus? Am Ende hat sie Letzteres getan, nach vielen Jahren. Nicht, dass diese Zeit für meinen Vater leicht gewesen wäre, aber ihm stand ich lange nicht so nah. Immerhin konnte ich mit ihm über meine Krankheit reden, bevor er gestorben ist. Er hat es erstaunlich gefasst aufgenommen.

SPIEGEL: Ihrem Vater haben Sie sich wieder angenähert – wie das?

Winkler: Ich war eine Zeit lang in meinem Heimatort, weil meine Mutter im Sterben lag. Da sind er und ich fast zeitgleich in derselben Psychiatrie gelandet. Meine zweite Episode war schlimm, ich bin an ein fahrendes Auto gesprungen und habe mich am offenen Fenster festgekrallt. Ein Wunder, dass niemand schwer verletzt wurde. Ein paar Tage nachdem sie mich eingeliefert hatten, durfte ich wieder raus und habe meinen Vater vorgefunden, wie er selbst gerade in eine Psychose abglitt. Da durfte ich ihn gleich mit in die Klinik bringen. Das verbindet.

SPIEGEL: Sie heißen in Wirklichkeit anders. Haben Sie Angst, dass Menschen Ihren echten Namen erfahren?

Winkler: Ich schäme mich nicht. Aber ich fand es wichtig, zwischen meinem alltäglichen Ich und einem Ich, das so stark auf Krankheit ausgerichtet ist, zu unterscheiden. Das Buch beschreibt vor allem die Phasen der Krankheit, obwohl sich das insgesamt höchstens auf ein paar Monate summiert, während es mir die restlichen knapp 40 Jahre gut ging. Wenn ich mal den Arbeitgeber wechseln müsste und ein Personalchef beurteilt, ob er nun den netten, kompetenten Alltagstypen anstellt oder den Schizophrenen, den er vorher gegoogelt hat, ist eine gewisse Anonymität sicher hilfreich.

SPIEGEL: Im Buch beschreiben Sie gefühlte Momente der Genialität und unendlicher Kreativität. Vermisst man das in den gesunden Phasen? Das Gefühl, ein großer Komponist zu sein?

Winkler: Ich konnte ja nicht wirklich Klavier spielen, ich dachte das nur. Für meine Nachbarn muss das entsetzlich gewesen sein! Die Vorstellung des verletzlichen und furchtbar kreativen Psychotikers ist ein Klischee. Das möchte ich mir nicht zu sehr zu eigen machen. Aber es gibt viel Verrücktheit, die man positiv werten kann, dafür muss man nur "Alice im Wunderland" lesen. Sich immer in der Norm zu bewegen, ohne Ausreißer nach unten oder oben, scheint mir auch nicht erstrebenswert. Allerdings möchte ich diese Krankheit auf keinen Fall verklären. Ich glaube, man sollte daraus lieber keine Identität formen wollen.

SPIEGEL: Sie wurden mit vielen verschiedenen Medikamenten behandelt. Können Sie mal die Unterschiede beschreiben?

Winkler: Klar, aber mit dem Hinweis, dass jedes bei jedem anders wirkt. Ich kann nur von mir sprechen.

SPIEGEL: Haloperidol.

Winkler: Bekommt man gern in den Akutphasen, das ist der Hammer schlechthin. Sehr wirksam, aber es knockt einen komplett aus. Mein Vater hat das früher fast immer bekommen.

SPIEGEL: Risperidon.

Winkler: Gut für Anfänger.

SPIEGEL: Amisulprid.

Winkler: Macht sehr schläfrig.

SPIEGEL: Ziprasidon.

Winkler: Macht eigentlich wach, mich hat’s auch schläfrig gemacht.

SPIEGEL: Aripiprazol.

Winkler: Die Cola light unter den Neuroleptika.

SPIEGEL: Das ist das, was Sie heute noch nehmen?

Winkler: Bei mir hat es am wenigsten Nebenwirkungen. Aber nochmal ausdrücklich: Das geht anderen anders, für manche reicht es auch nicht aus. Es kann immer sein, dass ich es nicht mehr vertrage. Ich muss einmal im Jahr mein Blut untersuchen und ein EKG machen lassen, weil es Auswirkungen auf Blut und Herz haben kann. Ich muss nehmen, was es nun mal gibt.

"Ich weiß nicht, wohin ich wollte, ich hatte nur das Gefühl, dass ich in Gefahr war"

SPIEGEL: Bisher haben Ihre Versuche, die Neuroleptika abzusetzen, immer zu einer neuen Episode geführt. Können Sie sich vorstellen, es trotzdem noch mal ohne zu wagen?

Winkler: Mit Medikamenten fühle ich mich auf der sicheren Seite. Ich habe es bis heute nicht geschafft, die Frühwarnsymptome einer Episode richtig einschätzen zu können. Deswegen bin ich hin- und hergerissen zwischen Kontrollverlust auf der einen Seite und den Nebenwirkungen von Medikamenten auf der anderen. Ich will mich nicht für immer und ewig festlegen. In gewisser Weise können Medikamente das Ich verändern, indem sie zu stark sedieren. Das ist auch kein gutes Gefühl.

SPIEGEL: Können Sie das beschreiben?

Winkler: Dann ist Ich wiederum ein ganz anderer. Einer, der für andere leichter zu handeln ist. Ich merke, dass ich dann weniger streitlustig bin, dass manches an mir abprallt. Praktisch für mein Umfeld, aber auch schade, dass man manche Wahrnehmungen nicht so auf sich einprasseln lassen kann.

SPIEGEL: Andererseits würden Sie bei einem weiteren Versuch, die Medikamente abzusetzen, riskieren, dass er schiefgeht – und Sie sich und andere gefährden. In Italien sind Sie an einem Bahnhof barfuß über die Gleise getanzt, bevor Polizisten Sie gerettet haben. Was war da geschehen?

Winkler: Ich glaube, ich bin da eine knappe Woche umhergeirrt. Vorher war es eigentlich ein schöner Urlaub, ganz romantisch auf Capri mit meinem Partner. Kurz vor dem Rückflug begann das Anschleichen, die Gedanken, dass mich dunkle Kräfte durch Spiegel beobachten. Das behielt ich aber für mich. Mein Partner hatte mich vorher nie während einer Episode erlebt und konnte nicht erkennen, was mit mir los war. Er hat ein früheres Flugzeug genommen, weil wir damals nicht in derselben Stadt gewohnt haben. Ich bin in meins dann einfach nicht eingestiegen und von Rom aus losgelaufen. Ohne Ziel. Habe meine Tasche mit dem Pass und dem Telefon weggeworfen, wie bei jeder Episode. Ich weiß nicht, wohin ich wollte, ich hatte nur das Gefühl, dass ich in Gefahr war. Es ist die einzige Phase, in der mir Stücke fehlen. Ich kann gar nicht beurteilen, ob es da um Stunden oder ganze Tage geht. Ich war völlig von Sinnen.

SPIEGEL: Irgendwie haben Sie es zwischendurch in die deutsche Botschaft geschafft.

Winkler: Ja, zum Glück, da hat man ein Lebenszeichen von mir wahrgenommen, das man in Deutschland zurückverfolgen konnte. Die dachten da schon das Schlimmste. Als man in der Botschaft meinen Namen wusste, war ich aber längst wieder abgehauen. Offenbar hatte ich nach einem Passersatz gefragt, wollte aber auf keinen Fall preisgeben, wer ich bin. Richtig zu mir gekommen bin ich erst wieder in der Klinik. Da habe ich dann meine Schwester angerufen und begriffen, was los war. Wie lang ich weg war, und wie viele Leute nach mir gesucht haben: mein Partner, meine Schwester, mein Schwager, mein Chef, meine Freunde.

SPIEGEL: Haben Sie danach versucht, etwas zu ändern?

Winkler: Es war klar, dass es so nicht weitergehen kann. Ich habe wieder Medikamente genommen und eine Gesprächstherapie angefangen, um mich endlich mit der Krankheit auseinanderzusetzen. Erst da wurde mir klar, dass ich kein gesunder Mensch ohne Einschränkungen bin.

SPIEGEL: Beobachtet Ihr Umfeld Sie nun auf Anzeichen von Verrücktheit?

Winkler: Die sind eigentlich recht entspannt. Mein Partner und ich haben im vergangenen Jahr geheiratet. Wenn ich jetzt mal etwas Komisches zeichne oder sage, dann fragt er mich, ob ich denn auch meine Pille genommen hätte. Ich glaube, dass er das ganz sympathisch findet, dass ich manchmal ein bisschen seltsam bin. Ich finde, dass eine Grundtemperatur an positiv gestimmter Verrücktheit eigentlich ganz hilfreich ist. Das kann gern bleiben.

SPIEGEL: Herr Winkler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

  • Cordt Winkler: "Ich ist manchmal ein anderer. Mein Leben mit Schizophrenie". Goldmann; 240 Seiten; 10 Euro. Das Gespräch führte der SPIEGEL-Mitarbeiter Daniel Sander. 


sinedi.art



gerade auch als ergänzung zu den "euthanasie"-mordprotokollen meiner tante erna kronshage (s. erna's story) habe ich diesen "spiegel +"-artikel hier mit aufgenommen - als authentischer bericht aus einer anderen pathologischen seinsebene, die hier - wie auch bei erna - "schizophrenie" benannt wird.

aber cordt wagner differenziert diesen begriff hier sehr genau - und beschreibt zustandsschübe einer eigenständigen und dem ich eigentlich fremden abgespaltenen ausdrucksweise.

und selbst er bemerkt als "experte" für sein ich und sein nicht-ich bzw. neben-ich nicht immer gleich, wenn er in den nächsten "schub" gerät - in die nächste "episode" abgleitet.

in bezug auf meine tante erna fällt mir auf, welche distanz doch da ist, zwischen dem, was von ihr festgehalten und überliefert ist - und was die damalige ns-psychiatrie eben damals mit "schizophrenie" diagnostiziert hat, was dann aber in der konsequenz auch in der regel seinerzeit zu einer zwangssterilisation der betroffenen führte - und den schilderungen von herrn wagner hier - fast möchte man ja von einer authentischen schizophrenie-"reportage" "aus erster hand" sprechen ...

so viel ich heute weiß, war erna wohl immer im tatsächlichen hier & jetzt und hatte eigentlich nie wahnvorstellungen oder war nie gänzlich "außer sich" - höchstens aus tatsächlichen nachvollziehbaren verstimmungen heraus oder vielleicht im zusammenhang mit den anfällen in der cardiazolschock-therapie, mit der man sie ja malträtierte - "zum inneren spannungsabbau"...

da man bei erna wohl in den ersten 24 stunden nach aufnahme in die provinzialheilanstalt gütersloh die "schizophrenie" als erbkrankheit diagnostizierte, ist der hinweis von herrn wagner wichtig, "es müssten ganz bestimmte symptome über einen gewissen zeitraum auftreten, damit man von einer 'schizophrenie' sprechen kann"... außer wohl einem glimpflich abgelaufenen "jähzorns"-zustand gegenüber der mutter war da von erna ja nichts zu vermelden - und von ihrer einweisung in gütersloh bis zu ihrer ermordung in der vernichtungsanstalt "tiegenhof" bei gnesen (polen) hat es ja gerade mal insgesamt "nur" 484 tage gedauert.

um sich in die schub-erkrankung einer schizophrenie einigermaßen objektiv hineinzudenken, ist diese "reportage" hier für mich und hoffentlich auch für dich äußerst informativ und hilfreich.