"
Posts mit dem Label "Küchenpsychologie - über das Verrücken" werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label "Küchenpsychologie - über das Verrücken" werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

über das "verrücken"



Film „Küchenpsychologie“

Paddeln mit den Dämonen

Die Künstlerin Marie Weil hat einen Film über die Bewältigung ihrer Psychose gedreht. Er läuft auf den Hofer Filmtagen.

Von Barbara Dribbusch | taz - Soziales & Gesellschaft - Inland (click)

Vielleicht ist am Ende doch alles gut – wenn die Freundinnen und Freunde durch den Wald gehen, im Gänsemarsch, jeder trägt eine Schüssel oder einen Teller mit Salat, Früchten, Gemüse, Kuchen. Die Gruppe singt im Kanon ein Kinderlied: „Finster, finster, finster, finster, nur der Glühwurm glüht im Ginster, und der Uhu ruft im Grunde. Geisterstunde.“

Man könnte eine Psychose als Geisterstunde bezeichnen, als ein Hineingeworfensein in einen vor- und frühsprachlichen Raum, wenn Dinge, Bilder, Personen, Stimmen mit neuen Bedeutungen, Verbindungen aufgeladen werden, die andere Menschen nicht nachvollziehen können. Die Berliner Künstlerin Marie Johanna Weil hat solche Phasen durchlebt und über ihren Selbstheilungsversuch einen Film gedreht, der auf den Hofer Filmtagen am vergangenen Mittwoch Premiere hatte und dort auch am Samstag und Sonntag zu sehen ist.

Der Film „Küchenpsychologie – über das Verrücken“ arbeitet mit der Spannung zwischen Bildern, Erzählerinstimme und Experteninterviews. Aus dem Off berichtet die 42-jährige Autorin in ruhigem Ton von ihrer Einweisung in die Psychia­trie. Ihre Hände basteln derweil aus einem Schuhkarton eine Art Puppenhaus und stellen Betten aus Pappe hinein. Bunte Bonbons werden hineingekippt, das sind die Psychopharmaka. Die Psychia­trie ist nicht das durchgängig Böse, aber eben auch nicht besonders hilfreich. Eindeutige Schuldzuweisungen an die Psychia­trie, die Familie, die Gesellschaft, die Biochemie gibt es in dem Film nicht, insofern unterscheidet sich der Film von anderen Dokumentationen über die Psychiatrie und Psychosekranke.


Verrückte Urgroßmutter

Als sie aus der Klinik heraus ist, beginnen die Heilungsversuche. Weil, die an der Universität der Künste in Berlin bildende Kunst studiert hat, baut aus Ton große, klobige Tonfiguren mit groben Gesichtern, einige mit Haaren, andere ohne. Die Figuren sollen Alter Egos von ihr sein und Verwandte. Die eine, die größte, stellt die Urgroßmutter dar. Die Urgroßmutter trug einmal frisch gekochtes Essen nicht zu Tisch, sondern kippte es direkt ins Klo mit der Aussage, da würde es später ohnehin landen. Fortan galt sie als verrückt.

Ist das Genetik, das mit dem Verrücktwerden? Es gibt etwas erhöhte Risiken, wenn in der Verwandtschaft schon Leute betroffen sind, sagt Stephan Ripke, Genetiker und einer der im Film interviewten Experten. Aber: „Die meisten Sachen sind unklar.“


DER FILM„Küchenpsychologie – über das Verrücken“. Regie: Marie Johanna Weil. Deutschland 2019, 50 Minuten.
Hilfreicher als unbewiesene Theorien ist eine gewisse Akzeptanz. Weil ordnet die Tonfiguren immer ein wenig anders an, fährt sie in der Schubkarre herum, legt sie auf den Komposthaufen, begießt sie, nimmt sie auseinander und füllt ihre Hohlräume mit Erde, in die sie Pflanzen setzt. Eine Tonfigur steht im Bug des Kanus, als sie durch ein Fließ paddelt. Es ist besser, die Dämonen ein bisschen herumzuschippern, als sie verjagen zu wollen.

Von ihren konkreten Wahn­inhalten in der Krise spricht Weil nicht, um keinen Voyeurismus zu bedienen, wie sie später im Interview sagt. Aber von dem Gefühl, neben sich zu stehen, nicht im Körper zu sein, die Seinsgewissheit, die „ontologische Sicherheit“ nicht zu haben, davon erzählt sie. Die ­Vernichtungsangst, wenn ­außen und innen ineinanderstürzen, die können vielleicht auch Nichtbetroffene ahnen. „Es ging mir darum, Verbindung herzustellen, Gemeinsames zu zeigen“, sagt Weil.

Sich erden in der Krise

Die Natur, das Ländliche, die Nahrung, das Essen, FreundInnen, die dableiben, auch wenn es mal schwierig wird – das ist die heilende Bildsprache im Film. Da werden Tomaten gepflanzt, Kartoffeln ausgegraben, Möhren geschält, es wird Teig angerührt. Weils FreundInnen sind in einer großen Landküche mit der Vorbereitung eines Festmahls zugange.

Weil erzählt unterdessen aus dem Off von Existenzängsten der Vorfahren, dem Weltbild der Aufklärung, das die Mystik ausschloss, dem Wunsch, zwei Identitäten haben zu können, eine, die beobachtet, distanziert und absichert, und eine, die sich mitten hineinbegibt in eine eigene, mystische Welterfahrung. Die Küchenszene signalisiert: Man kann sich auch im „Verrücken“ erden, sich vergemeinschaften.

Nachdem der Kanon von der Finsternis gesungen ist, sitzt die Gruppe auf einer Wiese unter freiem Himmel um einen Tisch und verspeist das Selbstgekochte. Eine Psychoanalytikerin ist dabei, ein selbst ernannter Schamane, der Genetiker. Sie alle hatten im Film etwas zum „Verrücken“ gesagt, aus ihren unterschiedlichen Perspektiven, von denen keine den Anspruch erhebt, die einzig wahre zu sein. „Die Wahrheit weiß keiner“, hatte Ripke erklärt. Vielleicht könnten im Umgang mit dem Wahn diese Vielfalt der Sichtweisen, die Akzeptanz des Rätsels und ein gewisser Pragmatismus ein Fortschritt sein, der wirklich hilfreich ist.

_______________________________________


wenn etwas aus der balance gerät - aus dem ruder läuft - plötzlich einen neuen standort hat oder plötzlich ein standpunkt verleugnet wird - wenn die arithmetik der alltäglichkeit massive brüche bekommt: dann ist etwas ver-rückt (ge)worden... dann löst sich der gedankenknoten, an dem man spinnt, plötzlich nicht mehr auf und man findet das pack-ende nicht mehr... und das innere eingebaute navi muss zurückgesetzt und ganz neu aufgespielt und kalibriert werden mit neuer software.


in meiner beruflichen tätigkeit bis vor 10 jahren bin ich immer wieder menschen begegnet, die unter einer solchen momentanen oder längerfristigen unpässlichkeit, einer verrückung im inneren wie im äußeren litten oder gelitten hatten oder auch nicht litten und sich "eingerichtet" hatten, aber danach immer noch begleitung und halt suchten.

studierte ärzte verschrieben und verschreiben dann zumeist aus lauter zeitnot und überforderung heraus irgendwelche psychopharmaka zu ihrer selbst- und der patienten fremdberuhigung und stellen bandwurm-diagnosen oder benennen allerwelts-pseudo-zustände mit festgelegten icd-verschlüsselungen für die ad-hoc-krankenkassen-abrechnung, die innerhalb von 24 stunden nach der einweisung eine diagnose verlangt, und die ab dann den patienten für immer abstempelt und einordnet - und sie zelebrieren manchmal hochnäsigkeit und überlegenheit und pseudo-wissen - denn die einen sagen so und die anderen sagen so...

das amerikanische psychiatrie-manual zur benennung der diagnosen (z.b. das dsm-5) erweitert sich jedes jahr um viele neu hinzudifferenzierte bezeichnungen und diagnosen: ungeahnte wortschöpfungen ohne jeden belang.

in wirklichkeit gibt es so viele innere ordnungssysteme und deren ganz individuelle "ver-rückungen" wie es menschen gibt - das wenigstens ist meine quintessenz aus meinen direkten begegnungen und meiner begleitung mit den zeitweise verirrten und irrenden menschen, die froh waren, wenn sie einen "scout" fanden und anschluss fanden, womit sie dann gemeinsam ihr navi neu programmieren lernten.

dabei wusste auch der ausgebildete "scout" nicht immer, wo es langging: das war ein gegenseitiges voneinander lernen und verwerfen und annehmen und ringen und akzeptieren.

verrückte tante ?

durch die inzwischen jahrelange beschäftigung und recherche zum leidensporträt meiner tante erna kronshage und ihrer freiwilligen selbsteinweisung in die provinzialheilanstalt gütersloh 1942 habe ich oft versucht, mich in sie und in ihr umfeld hineinzuversetzen - wie sie versuchte, ihren "burn-out" und die kriegstraumatas in den griff zu bekommen, wie sie ihre körperlichen überforderungen und ihre intellektuellen unterforderungen versucht hat zu kompensieren, einhergehend mit der versuchten allmählichen loslösung von ihren eltern, und als junge frau "vom lande" doch tatsächlich geglaubt hatte, in einer so genannten "heil"anstalt und von studierten menschen könne man auch seelisch-körperliche "heilung" erfahren, um ihren inneren kompass wieder einzunorden.

verheddert
aber dabei geriet sie gesellschaftlich auf einen äußerst unguten, ja tödlichen zeitstrahl, der rutschig und seifig steil nach unten führte.

und auf dieser schiefen ebene kam dann in 484 tagen eins zum anderen - und es gab dann keinen halt mehr - und das so oft in dieser zeit deklamierte "heil" blieb für sie aus und ohne jeden widerhall. sie hatte sich ebenso wie das "deutsche volk" verrannt und verzockt.

sie wurde dann nach ihrer zwangssterilisation (august 1943) am 20. februar 1944 in einer vernichtungsanstalt vom dortigen "pflegepersonal" arbeitsteilig bis aufs letzte logistisch durchorganisiert - ganz allmählich in 100 tagen ermordet... - mit einem eigens dazu vom medizinprofessor nitsche entwickelten genau abgestimmten in kleinen dosen verabreichten gift- und nahrungsentzugs-cocktail. 

wenn - ja wenn ihre landwirtschaftliche betätigung zuhause und dann auch als "arbeitstherapie" und "schizophrenie"-behandlung in gütersloh mit etwas mehr phantasie und langmut und kreativität und auch sicherlich heilsamen und "spinnerten" beschwörungsritualen, wie sie da im film von marie johanna weil - wenigstens im trailer - angedeutet werden, und ohne jeden äußeren drill, damit sich so vielleicht ein pharma- und schocktherapiefreier müßiggang eingestellt hätte - mit dem von erna tatsächlich sicherlich gesuchten und erwarteten "erholungseffekt" - dann - ja dann hätte sie das alles vielleicht auch ohne schaden überwinden können. 

hätte - hätte ...

erna kronshage ist meine tante - die schwester meiner mutter - und damit wird diese vermeintliche psychiatrische "verrückung" und entgleisung auch direkt unserer familie wenigstens teilweise im nachhinein mit vor die füße geworfen und hier auch nach allgemeiner tiefsitzender und überkommener und inzwischen neu belebter "volkes"meinung mit dem prädikat "risikobehaftet" verortet, mit all dem eugenisch-psychiatrischen gelalle und gestammel jahrzehntelanger genetischer und medizinischer "wissenschaftlichkeit".

und ich schreibe hier von daher sicherlich auch wütend aber auch um mich zu schützen - aber ich schreibe zum glück auch "heutzutage" - im hier & jetzt.

vor 80 jahren stand dieses land und alle menschen, die hier lebten - unsere direkten nächsten vorfahren und ahnen eingeschlossen - in einem aus einem kollektiv nationalistischen erbgesundheits-wahn entfachten mehrfronten-krieg - in einem krieg nach innen und nach außen - und damals hat dann diese völlig missverstandene genetik-lehre erna wahrscheinlich falsch einsortiert und so ihr - damals "nach bestem wissen und gewissen" - endgültig den rest geben müssen... - und noch heute wispern ja aus allen ecken dazu irgendwelche selbstzweifler und üben vertuschung und sehnen sich zurück - von wegen: "vogelschiss", herr gauland...

vorm winter muss ich nochmal erna's stolperstein blankputzen mit sidol...