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Nicht bla­sen: Görings Löwe wird wild




Wenn Blon­di un­ter dem Ess­tisch zu Fü­ßen Adolf Hit­lers lag, ver­setz­te ihr Eva Braun ab und zu heim­lich ei­nen klei­nen Tritt. Blon­di jaul­te dann kurz auf, und Hit­ler er­mahn­te die Schä­fer­hün­din, Ruhe zu ge­ben. Hit­lers Freun­din, so hieß es in ih­rem Be­kann­ten­kreis, sei ziem­lich ei­fer­süch­tig auf Blon­di ge­we­sen, weil der »Füh­rer« das Tier im­mer bei sich dul­de­te; selbst bei Fahr­ten im Re­gie­rungs­wa­gen saß es an sei­ner Sei­te.

Hit­ler und Blon­di wa­ren so et­was wie das Dream-Team der Nazi-Iko­no­gra­fie. In ih­rer Nähe wirk­te der Dik­ta­tor tier­lieb und volks­nah, zu­gleich aber de­mons­trier­te das Bild von Herr und Hund ein ein­deu­ti­ges Macht­ver­hält­nis, also jene be­din­gungs­lo­se Un­ter­wer­fung, die Hit­ler von den Deut­schen for­der­te.

Die Ge­schich­te von der Ei­fer­sucht Eva Brauns auf Blon­di fin­det sich in der le­sens­wer­ten Stu­die »Tie­re im Na­tio­nal­so­zia­lis­mus« von Jan Mohn­haupt. Der er­folg­rei­che Sach­buch­au­tor (»Der Zoo der an­de­ren«) be­schreibt in sei­nem neu­en Werk nicht nur die sym­bo­li­sche Be­deu­tung der Tie­re in der Dik­ta­tur, son­dern auch de­ren rea­le Ge­gen­wart im Le­ben der Na­zie­li­te.

Hit­ler, so hat Mohn­haupt re­cher­chiert, be­saß zwi­schen 1922 und 1945 etwa zwölf Schä­fer­hun­de, dar­un­ter drei Hün­din­nen, die den Na­men Blon­di tru­gen, und drei Rü­den, die er Wolf nann­te. Hun­de muss­ten für ihn stark, treu und »rein­ras­sig« sein, die Scot­tish Ter­ri­er Eva Brauns ver­spot­te­te er nur als »Hand­fe­ger«.

Ei­gent­lich durf­te man an­neh­men, schon hin­läng­lich über die pri­va­ten Sei­ten des Dik­ta­tors in­for­miert zu sein. Sei­ne Angst vor en­gen so­zia­len Kon­tak­ten, sei­ne Ver­dau­ungs­pro­ble­me und sein re­du­zier­tes Se­xu­al­le­ben – all das ist längst er­forscht, nun also auch das noch: Hit­ler und sein Ver­hält­nis zu Tie­ren. Doch pe­ri­pher sind Mohn­haupts Er­kennt­nis­se kei­nes­wegs, sei­ne Stu­die ent­hüllt viel über die Psy­che des Völ­ker­mör­ders und sei­ner En­tou­ra­ge.

Per­sön­li­che Nähe, zum Bei­spiel, konn­ten die Na­zis nur zu den We­sen zu­las­sen, die von ih­nen ab­hän­gig wa­ren. Wohl kaum eine Krea­tur wur­de von Hit­ler am Ende sei­nes Le­bens so ge­liebt wie der we­ni­ge Wo­chen alte Schä­fer­hund Wolf, der im April 1945 die letz­ten Stun­den mit ihm im Bun­ker tei­len muss­te. Die Deut­schen hat­ten ihn, wie er be­haup­te­te, ent­täuscht, nur der klei­ne Wel­pe aus Blon­dis jüngs­tem Wurf schien ihm noch treu er­ge­ben.

Im Schä­fer­hund, dem Ab­kömm­ling des Wol­fes, er­kann­ten die füh­ren­den Na­zis je­nes Raub­tier, das sie selbst sein woll­ten. Hit­ler ließ sich im pri­va­ten Kreis mit dem Spitz­na­men Wolf an­re­den, sei­ne Haupt­quar­tie­re im Krieg nann­te er Wolfs­schan­ze oder Wolfs­schlucht. »Wir kom­men als Fein­de!«, droh­te sein Weg­ge­fähr­te Jo­seph Go­eb­bels be­reits 1928 den an­de­ren Par­tei­en. »Wie der Wolf in die Schaf­her­de ein­bricht, so kom­men wir.«

Raub­tie­re ver­hiel­ten sich in der Lo­gik der Na­tio­nal­so­zia­lis­ten zu Haus­tie­ren wie Her­ren­men­schen zu Un­ter­men­schen. Und so wur­de das ge­sam­te Tier­reich in Gut und Böse auf­ge­teilt. Kat­zen etwa, so be­haup­te­te da­mals der Na­zi­schrift­stel­ler Will Ves­per, sei­en die Ju­den un­ter den Tie­ren. Sie stell­ten nicht nur den Sing­vö­geln nach, sie sei­en auch tü­ckisch und falsch.

Ganz an­ders da­ge­gen gro­ße Raub­kat­zen wie Ti­ger oder Pan­ther. Sie wa­ren auch für den Men­schen ge­fähr­lich, also gut. Nach ih­nen be­nann­te Hit­lers Wehr­macht ihre Pan­zer für den Russ­land­feld­zug (und, in un­se­li­ger Tra­di­ti­on, spä­ter die Bun­des­wehr ih­ren »Leo­pard«).

Im Haus­halt des Na­zi­po­li­ti­kers Her­mann Gö­ring leb­ten zwi­schen 1933 und 1940 ins­ge­samt sie­ben Lö­wen. Erst wenn die Jung­tie­re eine ge­wis­se Grö­ße er­reicht hat­ten, wur­den sie aus­ge­tauscht. Im Un­ter­schied zu Hit­lers Vor­lie­be für Schä­fer­hun­de galt Gö­rings Lö­wen­lie­be al­ler­dings als Aus­druck ei­ner ge­wis­sen De­ka­denz, Bil­der von Gö­ring und sei­nem Lö­wen Mucki wur­den kaum ver­brei­tet.

»Nicht bla­sen, der Löwe wird wild«

Gö­ring nahm das Tier ei­nes Ta­ges so­gar zu ei­nem Jagd­aus­flug auf das Jagd­schloss Ro­m­in­ten mit – eine Ak­ti­on, die, wie Mohn­haupt be­rich­tet, er­heb­li­che Ver­wir­rung beim Per­so­nal des Gu­tes ge­stif­tet habe. Als Gö­rings Auto vor­fuhr, sei zu­nächst sein Ad­ju­tant auf­ge­regt her­aus­ge­sprun­gen, um den an­ge­tre­te­nen Jagd­horn­blä­sern den üb­li­chen Will­kom­mens­gruß zu ver­bie­ten (»Nicht bla­sen, der Löwe wird wild«). Da­nach sei Gö­ring samt Mucki aus dem Wa­gen ge­klet­tert und habe das Tier man­gels Kä­fig ins Ba­de­zim­mer ge­sperrt – das der jun­ge Löwe dann gründ­lich voll­pin­kel­te, wäh­rend sein Herr­chen durch die Wild­nis stapf­te, um mög­lichst ka­pi­ta­le Hir­sche zu schie­ßen.

Wer sich mit wil­den Tie­ren um­gibt, der möch­te mit die­sen We­sen auch stets iden­ti­fi­ziert wer­den. Gö­ring woll­te na­tür­lich so stark wie ein Löwe er­schei­nen, Hit­ler so wild wie ein Wolf.

Der Reichsbauernführer erklärte das Schwein zur »Leitrasse« der nordischen Völker.

Und die SS-Leu­te in Bu­chen­wald of­fen­bar so ge­fähr­lich wie Bä­ren. Un­mit­tel­bar ne­ben dem Zaun des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers Bu­chen­wald lie­ßen sie 1938 ei­nen Bä­ren­zwin­ger er­rich­ten. Die Tie­re im »Zoo Bu­chen­wald« soll­ten den Fa­mi­li­en der SS-Leu­te zur Un­ter­hal­tung die­nen, aber selbst­ver­ständ­lich war die An­samm­lung ge­fähr­li­cher Raub­tie­re auch eine Droh­ge­bär­de, adres­siert an die Häft­lin­ge hin­ter dem Zaun.

Die Na­zis re­spek­tier­ten do­mes­ti­zier­te Tie­re im Grun­de nur dann, wenn sie nütz­lich wa­ren. Das galt für Pfer­de, die im Krieg als Zug­tie­re mil­lio­nen­fach ein­ge­setzt wur­den (und den hun­gern­den Sol­da­ten in Sta­lin­grad als letz­te Nah­rungs­re­ser­ve dien­ten). Und es galt für Schwei­ne, die be­son­ders ho­hes An­se­hen ge­nos­sen. Sie wa­ren für die Fleisch­ver­sor­gung der Be­völ­ke­rung un­ver­zicht­bar. Reichs­bau­ern­füh­rer Ri­chard Walt­her Dar­ré er­klär­te das Schwein gar zur »Lei­t­ras­se« der nor­di­schen Völ­ker.

Das Hal­ten die­ser Tie­re, so ar­gu­men­tier­te Dar­ré, habe die Ger­ma­nen sess­haft ge­macht, Ju­den und Mus­li­me hin­ge­gen hät­ten sich bis heu­te nicht vom No­ma­den­tum ge­löst, weil sie den Ver­zehr von Schwei­ne­fleisch ab­lehn­ten – wo­mit für ihn er­wie­sen war, dass sich die »Se­mi­ten« auf ei­ner nied­ri­ge­ren Kul­tur­stu­fe be­fan­den.

Dar­ré ver­brei­te­te den Be­griff von »Blut und Bo­den« und auch sonst eine Men­ge Un­sinn. Sei­nen Pos­ten als Reich­ser­näh­rungs­mi­nis­ter ver­lor er 1942 vor al­lem des­we­gen, weil sich her­aus­stell­te, dass sich die Deut­schen trotz sei­ner Schwein­ebe­geis­te­rung nicht mehr aus ei­ge­nen Kräf­ten er­näh­ren konn­ten.

Die Na­zis lie­ßen die be­setz­ten Län­der im Lau­fe des Krie­ges im gro­ßen Stil aus­rau­ben, um die ei­ge­ne Be­völ­ke­rung mit Nah­rungs­mit­teln zu ver­sor­gen. Zu­gleich prüf­te man den Ein­satz von Schäd­lin­gen zur Geg­ner­be­kämp­fung. Schon im Ers­ten Welt­krieg hat­ten sich die Kon­tra­hen­ten ge­gen­sei­tig be­schul­digt, Mas­sen von Kar­tof­fel­kä­fern hin­ter den Li­ni­en aus­ge­setzt zu ha­ben, um die Ern­ten der Fein­de zu zer­stö­ren.

Im Zwei­ten Welt­krieg, 1943, ließ die »Kar­tof­fel­kä­fer-For­schungs­stel­le« des Rei­ches ei­nen Groß­ein­satz ganz of­fi­zi­ell tes­ten. Aus 8000 Me­ter Höhe wur­den 14 000 Kä­fer über der Stadt Spey­er ab­ge­wor­fen. Man woll­te über­prü­fen, ob die Schäd­lin­ge die­sen Sturz über­le­ben konn­ten. Die Ant­wort lau­te­te: ja, al­ler­dings konn­ten am Ende nur 57 Kä­fer am Bo­den ge­fun­den wer­den. Die­se eher kon­ven­tio­nel­le Form ei­ner Bio­waf­fe ent­pupp­te sich also als un­brauch­bar.

Die Tier­sym­bo­lik der Na­zis setz­te Schäd­lin­ge, Rat­ten, Wan­zen oder Läu­se stets mit je­nen Men­schen gleich, die zur Be­dro­hung des Deutsch­tums er­klärt wur­den, Sla­wen etwa und vor al­lem Ju­den. Schon Kin­dern, so zeigt Mohn­haupt in sei­ner Stu­die, wur­den sol­che Ver­glei­che ver­mit­telt. So heißt es in ei­nem po­pu­lä­ren Kin­der­buch die­ser Zeit, »dass es die Ju­den sind, die für die Men­schen die glei­che Ge­fahr be­deu­ten wie die Wan­zen«.

Die Be­trof­fe­nen wa­ren sol­chen De­mü­ti­gun­gen hilf­los aus­ge­lie­fert. Nur ein­mal, so be­rich­te­te der Ausch­witz-Über­le­ben­de Pri­mo Levi, soll es zu ei­ner ku­rio­sen Form von Ge­gen­wehr ge­kom­men sein. Dem­nach sam­mel­ten die Wä­sche­rin­nen ei­nes Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers Läu­se aus den Klei­dern to­ter Häft­lin­ge, um sie dann un­ter die Hemd­kra­gen der frisch ge­wa­sche­nen SS-Uni­for­men zu set­zen – ein ver­zwei­fel­ter Ra­che­akt, der die Schre­ckens­herr­schaft der Na­zis frei­lich auch nicht be­en­den konn­te.

Hitler ist auf den Hund gekommen - Foto WELT | picture alliance / Mary Evans Pi


Das ge­lang al­lein den al­li­ier­ten Trup­pen. Als die So­wjets schon die Au­ßen­be­zir­ke der Reichs­haupt­stadt Ber­lin er­reicht hat­ten, ließ der an­geb­lich so tier­lie­be Hit­ler erst sei­ne Hün­din Blon­di mit Zy­an­ka­li ver­gif­ten und dann de­ren fünf Wel­pen, dar­un­ter den klei­nen Wolf, er­schie­ßen. Am 30. April 1945 tö­te­te er sich selbst. Psy­cho­lo­gen spre­chen hier von ei­nem »er­wei­ter­ten Sui­zid«.
  • Jan Mohn­haupt: »Tie­re im Na­tio­nal­so­zia­lis­mus«. Han­ser; 256 Sei­ten; 22 Euro.
  • Text: Martin Doerry im SPIEGEL 22/2020 v. 23.05.20 - KULTUR / Zeitgeschichte

wenn man genau hinschaut, wirkt oben der herr göring nicht gerade souverän und angstfrei bei seiner begegnung mit dem löwen mucki ...

aber mucki war ja eben auch eine katze, eine wildkatze größeren ausmaßes, und eben die katzen galten ja bei nazi's als tückisch und falsch... 

überhaupt wurden ja damals etwas simple menschliche charakterattribute einfach auf die tierwelt übertragen - aber das gab es ja eben nicht nur vor 80/90 jahren bei den nazis, sondern findet sich ja heute noch hier und da.

zum glück gibt es inzwischen tierpsychologen und talentierte "tierflüsterer", die die reaktionen unserer domestizierten gefährten genau studiert haben - und offensichtlich gar ihre "sprache" sprechen und ihre instinkte analysieren können, in dem sie beispielsweise das beim hund innewohnende rudel-hierarchie-verhalten mit seinen "gesetzen" simultan mitdenken in ihrem umgang mit den vierbeinern.

ansonsten ist das halten von junglöwen in privatwohnungen wie bei herrn göring sicherlich heute nicht mehr gestattet, weil es sicherlich nicht "artgerecht" durchgeführt werden konnte - auch nicht für einen "reichsmarschall", wie damals der militärische rang extra für göring geschaffen wurde. und das ist für beide seiten - mensch & tier - auch sicherlich gut so.

in den hunderttausenden von jahren, die der hund, vom wild- und raubtier wolf abstammend, nun schon insgesamt den menschen begleitet als treuer freund, haben sich beide lebewesen so aneinander gewöhnt, dass man ohne einander in einem haushalt mit tier kaum noch klar kommt - und der hund hat ja schon als rettungs- und spürhund regelrechte jobs übernommen - und ist durch "ki", künstliche intelligenz, darin sicherlich gar nicht zu ersetzen.

er ist ja auch als begleiter von menschen, die blind oder erblindet oder auch anderweitig behindert sind, als helfer und navigator kaum mehr wegzudenken, allerdings kommt es dabei auch darauf an, wie beide partner miteinander harmonieren und sich vertrauen können. 

ob auch bei den begegnungen von "blondi" oder "wolf" mit adolf hitler angestrebt wurde, sich auf dauer quasi "auf augenhöhe" zu begegnen - in gegenseitigem "respekt" und in der akzeptanz der jeweiligen eigenständigkeit und anderartigkeit, sei mal dahingestellt.

die eifersüchteleien von eva braun gegenüber dem tier und ihre fußtritte unter dem tisch und die prompten zurechtweisungen dann durch hitler lassen nicht darauf schließen. man war als pärchen halt auf den hund gekommen - und nur in der verschrobenen logik der allerletzten tage ist dann auch nachzuvollziehen, dass die tiere mit in den tod mussten - und einfach über den haufen geschossen wurden...

Hermann & Mucki - sinedi.mach.@rt

mit verstrickt: die nazis sind wir - nicht "die anderen"

© Can Stock Photo





Großeltern im Zweiten Weltkrieg

Die Nazis, das waren wir

Unser Autor hat seine Großeltern nie nach ihrer Rolle im Krieg gefragt. Jetzt fühlt er sich schuldig. Wie umgehen mit dem deutschen Erbe, wenn alle Zeugen tot sind?

Ein Essay von Hannes Leitlein | ZEIT online

Wenn Oma vom Krieg erzählt hat, saß sie in ihrem Sessel, ich auf dem Sofa. Sie weinte oft, ich kämpfte mit der Müdigkeit in ihrer viel zu warmen Stube. Manchmal lief der Fernseher, Oma schaute gerne Bingo!. Sie erzählte von Bomben, von der Flucht, davon, dass ihr Vater Eisenbahner war und tagelang als vermisst galt und sie schon dachten, er sei tot. Je näher ihr eigener Tod rückte, desto öfter bestimmten diese Erinnerungen unsere Treffen.

Für Oma hat der Zweite Weltkrieg 1944 angefangen. In Crailsheim, der Kleinstadt im Nordosten Baden-Württembergs, in der sie aufgewachsen ist, gab es einen Flugplatz der Luftwaffe und einen wichtigen Bahnhof. Beide wurden ein Jahr vor Kriegsende Ziel alliierter Luftangriffe. Am 20. April 1945, knapp drei Wochen vor der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, wurde Crailsheim durch US-amerikanische Bomber fast komplett zerstört. Oma suchte mit ihren Schwestern Schutz im Keller, dann flohen sie aus der Stadt. Erst versteckte ihr Vater sie im Wald, später kamen sie auf dem Hof von Verwandten unter. Es fiel ihr schwer, über diese Zeit zu sprechen. Meine Eltern sind auf württembergischen Bauernhöfen aufgewachsen. Da wurde überhaupt nicht viel geredet, schon gar nicht über den Krieg, es gab ja immer etwas zu tun.

Meine Oma ist Jahrgang 1936. Als Crailsheim zerstört wurde, war sie gerade mal acht Jahre alt. Sie ist 2015 gestorben. Fragen kann ich sie nicht mehr. Auch meine anderen Großeltern sind tot, auch sie habe ich nie auf ihre Erinnerungen angesprochen, schon gar nicht auf die Verstrickungen unserer Familie in die deutsche Nazigeschichte. Man könnte sagen, das ist nun eben so, Chance verpasst. Doch mich ärgert mein Schweigen, besonders am 8. Mai, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Mein Unterlassen fühlt sich an, als hätte ich nicht genug getan zur Wiedergutmachung und damit die deutsche Schuld fortgeschrieben.

Nur einmal habe ich Oma gefragt, ob sie etwas mehr erzählen mag. Das war einige Zeit nach Opas Tod, als mir klar geworden war, dass ich ihn nicht mehr fragen kann. Doch wieder erzählte sie nur von ihrem Leid der letzten Kriegstage – und ich hatte nicht den Mumm, trotz ihrer Tränen nachzuhaken. Was hat Opa im Krieg gemacht? Wusste dein Vater, mein Uropa, als Eisenbahner nichts von den Deportationen? Crailsheim hatte laut Bundesarchiv mindestens 53 jüdische Einwohnerinnen und Einwohner. Bist du, Oma, womöglich sogar mal den Jüdinnen und Juden in deiner Stadt begegnet? Wärst du gerne zur Hitlerjugend gegangen?

53 Prozent der Bundesbürger wollen 75 Jahre nach Kriegsende lieber einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit ziehen. Das hat kürzlich eine Umfrage der ZEIT ergeben. 53 Prozent Zustimmung auch zu dieser Aussage: "Die Masse der Deutschen hatte keine Schuld, es waren nur einige Verbrecher, die den Krieg angezettelt und die Juden umgebracht haben." Eine deutliche Mehrheit findet, dass das ständige Erinnern "ein gesundes Nationalbewusstsein" verhindert. Was immer das sein soll. Immerhin sprechen sich 77 Prozent der Befragten dennoch für ein Erinnern und Gedenken aus. Aber meinen sie echte Auseinandersetzung mit der eigenen Schuldgeschichte, den Taten und zumindest dem Geschehenlassen der eigenen Familie? Wie ernst ist es uns Nachfahren mit der Aufarbeitung? Und ist mein Unterlassen nicht implizit auch eine Art Schlussstrich? Was unterscheidet mich, der ich meine Großeltern lieber in Ruhe lassen wollte, von jenen, die von der deutschen Geschichte lieber nicht mehr behelligt werden wollen?

Nur ein Überzeugungstäter

Ich könnte von Glück sprechen: Meine Familie ist nicht sonderlich belastet. Alles, was ich bisher in Erfahrung bringen konnte, deutet darauf hin, dass sie alle entweder noch zu jung waren oder als Müller, Bauern und Förster an anderer Stelle dringender gebraucht wurden. Dass allerdings mein Uropa als Eisenbahner nichts mitbekommen hat von den Deportationen der Crailsheimer Jüdinnen und Juden nach Dachau, Auschwitz, Theresienstadt und ins Warschauer Ghetto, ist kaum vorstellbar. Hat er nie davon erzählt?

Mein Opa mütterlicherseits war zwar 1944 in Oberstaufen gewesen, zur Vorbereitung auf den Krieg gegen Russland, da war er 16. Die Front aber blieb ihm (und mir?) erspart. Der Kurier mit dem Stellungsbefehl wurde unterwegs getötet. Ob er Nazideutschland verteidigt hätte, wie er zu Hitler stand — ich weiß es nicht. Ich kann nur hoffen, dass sich meine guten Erinnerungen an ihn decken mit der Wirklichkeit. Oma wäre wohl gerne hingegangen, zur Hitlerjugend, aber sie durfte nicht. Auf dem Hof wurde jede helfende Hand gebraucht. Meine Mutter nennt das: "das Glück, nicht überall dabei gewesen zu sein".

Nur ein Bruder meines Uropas war mit 19 Jahren in die NSDAP eingetreten, seine Ahnentafel dokumentiert das. Dort steht "Tätigkeit im öffentlichen Leben: NSDAP seit 1. Oktober 1931, Zellenleiter". Damit stand er in der Parteistruktur sechs Ränge unter dem Führer, er hatte vier bis acht Blocks zu verwalten und die dazugehörigen Blockwarte unter sich. Ein Bild von Onkel Emil hing, so erzählt es meine Mutter, noch lange im Zimmer der Großmutter, der Stammbaum der Familie war auf der Rückseite versteckt. Emil ist in Russland gefallen. Wie war das, einen überzeugten Nazi zum Onkel zu haben? Und war er der einzige Überzeugungstäter, oder nur der einzige in der Partei?

Väterlicherseits ließ sich noch weniger herausfinden. Hier wurde noch weniger geredet, wobei mir diese Seite der Familie schon als Kind autoritärer und irgendwie verdächtiger vorkam. Die Sprüche bei Geburtstagen waren derber, da wurde auch mal gegen Ausländer gehetzt, auch die familiären Zerwürfnisse liegen offener da. Womöglich deutet das Schweigen über die Nazijahre nur auf größere Schuld hin. Ich werde weiter suchen müssen.

Nazideutschland war nie wirklich weg.

Natürlich habe ich, wie alle Schülerinnen und Schüler in Deutschland, das Standardprogramm antifaschistischer Bildung auf dem Stand der Neunzigerjahre durchlaufen. Ich habe Anne Franks Tagebuch gelesen, American History X gesehen und fand den Film krass. Ich hatte einen engagierten Geschichtslehrer, wir besuchten das ehemalige Konzentrationslager in Dachau. Was ich dort gesehen habe, hat mich betroffen gemacht, erschreckt, und sicher war der Besuch auch Teil meiner politischen Initiation. Aber Dachau hatte nichts mit mir zu tun. Nie in all den Jahren hat mich jemand auf meine Familie angesprochen und ob es da womöglich einen Zusammenhang geben könnte. Erst Jahre nach der Realschulreife fügten sich langsam die Bilder aus dem Geschichtsbuch zusammen mit denen aus unseren Familienfotoalbum. Die Nazis, realisierte ich, das waren wir – und dieses Wir, das sehe ich heute, war nie wirklich weg.

Als Kinder erzählten wir uns sogenannte Judenwitze, die eigentlich antisemitisch waren. Witze, die die Schoah verharmlosten, die Deportationen, die Morde, das millionenfache Leid in den Gaskammern. Wir hatten sie aufgeschnappt am Stammtisch, auf Schützenfesten, bei Familienfeiern. Ich habe diese vermeintlichen Witze noch heute im Kopf. Ich wäre froh, ich könnte sie löschen. Genauso wie den erhobenen rechten Arm eines Schulfreundes mit türkischem Vater, der aus Wut auf Aussiedler, die ihn verprügelt hatten, plötzlich ganz und gar Deutsch sein wollte. Oder die Mottowagen der Jugend im Dorf beim Fasching, die jedes Jahr aufs Neue kreativ Militär und Krieg zu verharmlosen wussten. Auch bei uns gab es sogenannte Neonazis, wobei mir bis heute nicht ganz klar geworden ist, wo da der Bruch mit der ursprünglichen Tradition stattgefunden haben soll, was genau neo an ihrem Hass sein soll. Meistens saßen sie nur zum Saufen in ihren Bauwagen, von denen es am Rand jedes zweiten Dorfes einen gab, geduldet von der Dorfgemeinschaft. Doch immer mal wieder rastete einer von ihnen aus, sie verprügelten, wen sie für einen Ausländer hielten. Ich blieb verschont, ich war ja Deutscher.

Natürlich war ich anders als sie, ich war Schlagzeuger in einer Möchtegern-Punkband. Als Schülersprecher initiierten wir einen Tag gegen Rassismus an der Schule, ermahnten Mitschüler, wenn wir sie der Fremdenfeindlichkeit verdächtigten. Mit den sogenannten Fremden selbst, von denen es im Dorf sowieso nur wenige gab, hatten auch wir kaum zu tun.

Wer bin ich, mich für irgendwie besser zu halten?

Erst mit Anfang Zwanzig fiel mir auf: Jüdinnen und Juden kannte ich nur als Leichenberge auf Schwarzweißfotos. Ich wusste, wo der jüdische Friedhof war, weil er regelmäßig geschändet wurde. Doch ich hatte keine Ahnung, was die Menschen, die dort begraben lagen, glaubten. Wie sie lebten. Ich wusste gar nicht, was Juden sind. Selbst all die Widerstandskämpfer, deren Biografien ich gelesen hatte – Bonhoeffer, die Geschwister Scholl – sie wären unter den Nazis nicht aufgefallen, hätten sie sich nicht für den Widerstand entschieden. Sie hatten einen Ariernachweis und somit eine Wahl. Selbst der Theologe, Journalist und Dichter Jochen Klepper, dessen Frau Jüdin war, hatte eine Wahl. Sie nicht.

Und genau das ist es, was bis heute die Grenze markiert: Es gibt Menschen wie mich, die wählen können, ob sie Fragen stellen, sich einsetzen für andere, und es gibt die anderen, die keine Wahl haben, wenn sie überleben wollen. Ich kann mich mit meiner Geschichte beschäftigen, anderen wurde sie durch Flucht und Vertreibung genommen. Ich kann meine Familie befragen, ihre Hinterlassenschaften oder die Archive, anderen wurde der Stammbaum gefällt.

Meine Vorfahren standen auf der Seite der Täterinnen und Täter, nur mehr oder weniger glückliche Zufälle führten sie nicht tiefer hinein in den Apparat. Sie richteten wahrscheinlich nie eine Waffe auf jemanden, auch waren sie nicht am bürokratischen Teil des Massenmordes beteiligt. Und doch, sie machten mit. Aber wer bin ich, mich davon zu distanzieren oder gar für irgendwie besser zu halten? Würde ich rebellieren und mein Leben aufs Spiel setzen, wenn es ernst wird? Würde ich überhaupt erkennen, dass es ernst geworden ist? Ist es vielleicht schon so weit?

Der einzige Name auf der Liste der Opfer des NSU, den ich ohne nachzugucken schreiben kann, ist Michèle Kiesewetter. Die einzige weiße Deutsche auf der Liste der zehn Toten. Wieder könnte ich mich rausreden: Sie ist nun mal in Heilbronn ermordet worden, wo ich meine erste Ausbildung gemacht habe. Ich war mal in einem Gottesdienst, in dem die Schwester ihres Kollegen, der lebensgefährlich verletzt überlebt hat, gesprochen hat. Doch es wäre eine faule Ausrede. Es fällt mir bis heute oft schwer, mir nicht deutsch klingende Namen zu merken, geschweige denn, sie zu schreiben. Ich muss es mir vornehmen, sowie ich mir immer wieder vornehmen muss, meine Familiengeschichte als Aufgabe zu begreifen.

Es ist gerade mal elf Wochen her, dass ein weißer Rassist neun junge Hanauer in zwei Shishabars tötete. Am 9. Oktober vergangenen Jahres hat ein weißer Antisemit mit vier Schusswaffen und Dutzenden Sprengsätzen versucht, in die jüdische Synagoge in Halle einzudringen. Vier Monate vorher tötete ein Rechtsextremist den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, weil dieser sich für Flüchtlinge einsetzte.

Derzeit wird in deutschen Feuilletons energisch über den schwarzen Theoretiker Achille Mbembe gestritten, ob er denn nun antisemitisch sei, während die weiße Komikerin Lisa Eckhart offen antisemitische Witze im Fernsehen erzählt, die wiederum von derselben Intendanz verteidigt werden, die sich vor Kurzem noch über einen Kinderchor echauffierte, der sich in einem Lied über alte Leute lustig machte. Auch hier war offenbar der Zusammenhalt in der Familie stärker, als die Solidarität. Tom Buhrow entschuldigte sich im Dezember für den Beitrag. Der WDR-Chef sagte, sein Vater habe sein Leben lang gearbeitet und versucht, anständig zu leben, er sei keine Umweltsau. Die Komikerin und ihren Antisemitismus dagegen verteidigt der Sender nun mit Bezug auf die Satirefreiheit. Auch WDR-Intendanten haben die Wahl, womit sie sich gemein machen.

Meine Oma kann ich nicht mehr fragen, ich kann ihr auch kaum einen Vorwurf machen. Sie war mit acht Jahren zu jung, um selbst schuldig zu werden. Sie hat allerdings auch zeitlebens ihr eigenes Leid, ihr eigenes Trauma, nicht eingeordnet in die Geschichte und auch nicht in die Schuldgeschichte unserer Verwandtschaft. Vor allem aber hat sie die Bomben auf Crailsheim nicht in die Leidensgeschichte der Millionen Opfer der Nazis eingeordnet, die auch unsere Familie mindestens gewähren ließ.

Auch ich bin nicht schuld an den Verbrechen der Nationalsozialisten. Und doch, denke ich, bin ich den Opfern und ihren Nachfahren etwas schuldig geblieben, bleibe ihnen immer etwas schuldig. Weil es keine Wiedergutmachung geben kann. Der 8. Mai ist ein guter Anlass, sich diese Niederlage einzugestehen.

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verstrickt

da wird es jetzt landsleute geben, die bei und nach dieser textlektüre denken werden: "nestbeschmutzer!": wie kann man nur so schlecht über die eigene großelternfamilie denken. und das hatte man sich ja so schön sortiert im kopf seit dem geschichts-schulunterricht: die nazis, das war so eine braunbehemdete gang, das waren "die anderen", die da mord & totschlag begingen und einen krieg anzettelten, der erbärmlich endete, und die wie am fließband millionen von jüdischen und angeblich kranken "minderwertigen" mitmenschen umbrachten.


da stellte man sich immer eine bande von brüllenden und zähnefletschenden bestien vor, die in springerstiefeln herumstolzierten und herumschrien. und vielleicht noch schwarzuniformierte ss-kämpfer und geheime gestapo-leute im trenchcoard mit ins gesicht gezogenem hut und hochgeschlagenem kragen. das - diese "anderen" - waren die "nazis" - aber oma doch nicht - oder uropa, bei denen ich als kind auf dem schoß sitzen konnte - und die mir mal nen fünfer zusteckten, wenn's knapp wurde.

der historiker götz aly hat irgendwo die rechnung aufgemacht, dass zur industriell durchorganisierten massentötung allein der ca. 300.000 "euthanasie"-opfer ungefähr jeder 8. erwachsene hier im land lebende mensch mit deutschen wurzeln irgendwie als enkel- oder urenkelgeneration der damaligen aktiven mittäter oder mitläufer oder mitopfer zumindest familiär unbewusst miteingebunden sein müsste. 

hinzu kämen also bei den gräueltaten damals die millionenfachen ermordungen der jüdischen bevölkerung nicht nur im damaligen "deutschen reich", sondern auch in den anfangs okkupierten ländern ringsum.

so kann man mit sicherheit davon ausgehen, dass in jeder "alteingesessenen" familie hier irgendjemand von der (ur-)großelterngeneration die braune oder schwarze uniform angezogen hat, oder am schreibtisch oder am schraubstock oder als lokomotivführer oder ns-krankenschwester mitgemacht hat und mit verstrickt war in diesem wust von nazi-deutschland.

der altbundespräsident heinemann hat ja mal so treffend formuliert: 
"wer mit dem zeigefinger allgemeiner vorwürfe auf den oder die vermeintlichen anstifter oder drahtzieher zeigt, sollte daran denken, daß in der hand mit dem ausgestreckten zeigefinger zugleich drei andere finger auf ihn selbst zurückweisen."
der autor dieses essays hier oben, hannes leitlein, ist also kein "nestbeschmutzer", sondern er bemüht sich lediglich um ehrlichkeit vor sich selbst: ja - die nazis, das waren wir!!!...