Vor 80 Jahren begann mit dem „Euthanasie“-Programm das erste große Vernichtungsprojekt des NS-Staats
Text von Christoph-David Piorkowski | Tagesspiegel, Donnerstag 29. August 2019, Nr. 23929, S. 25 Wissen & Forschen
Elisabeth Willkomm - Foto aus: www.gedenkort-t4.eu |
- Die Brandenburgerin Elisabeth Willkomm leidet seit Beginn der 1930er Jahre an wiederkehrenden Depressionen. Aufgrund einer heftigen Episode wird die 29-Jährige im Oktober 1942 nach kurzem Aufenthalt im Krankenhaus in eine „Heil- und Pflegeanstalt“ überwiesen. Vier Tage später ist sie tot. Die Ärzte erklären eine Herzmuskelschwäche zum Grund ihres plötzlichen Versterbens.
Stolperstein für Elisabeth Willkomm |
sogenannten „wilden Euthanasie“ in den Krankenhäusern Nazideutschlands umgebracht wurden. Denn auch nach dem vermeintlichen „Euthanasie-Stopp“ vom August 1941 wurde die groß angelegte Ermordung von körperlich, geistig und seelisch beeinträchtigten Menschen still und leise weitergeführt.
Bis Kriegsende haben Ärzte und Pflegepersonal mittels Nahrungsentzug und der Überdosierung von Medikamenten Leben, die sie „lebensunwert“ fanden, nach eigenem Ermessen beendet. In Polen und in der Sowjetunion mordeten die Schergen der SS zahllose Heime und Krankenhäuser leer. Die „nationalsozialistischen Krankenmorde“ reichen also bei Weitem über die etwa 70 000 Menschen hinaus, die unter der Ägide der Zentraldienststelle „T4“ in der Berliner Tiergartenstraße in sechs eigens eingerichteten Tötungsfabriken vergast wurden. Nach aktuellen Expertenmeinungen sind im Reichsgebiet und in Osteuropa mehr als 300 000 Personen Opfer der „Euthanasie“ geworden.
In diesen Tagen liegt der Auftakt des Verbrechens 80 Jahre zurück.
In einem auf den 1. September 1939, den Tag des Kriegsbeginns, zurückdatierten Schreiben verfügte Hitler die unter dem Euphemismus des Gnadentods firmierende „Vernichtung unwerten Lebens“. Historiker gehen heute davon aus, dass die Krankenmorde stärker ökonomisch als „rassehygienisch“ motiviert waren.
- „Das maßgebliche Kriterium, das über Leben und Tod entschied, war die Arbeitsfähigkeit“, sagt der Münchner Psychiater und Euthanasie-Forscher Michael von Cranach.
Mit der „Aktion T 4“, der zentral organisierten Ermordung von Kranken mit Kohlenmonoxid, verfolgten die Nazis aber noch andere Ziele. So gilt die Aktion als Testphase für die sich daran anschließende Judenvernichtung. Doch nicht nur die Durchführung der zentralen „Euthanasie“, auch ihr jähes Ende im August 1941, hat unmittelbar mit der Shoah zu tun. Von Cranach sagt, der sogenannte „Euthanasie-Stopp“ sei nur zum Teil mit der Empörung zu erklären, die in Teilen von Kirche und Gesellschaft bestand. Nicht zuletzt sei „T4“ auch deshalb gestoppt worden, weil man das in Organisation und Durchführung von massenhaften Tötungen nunmehr geschulte Personal für den aufwendigeren Holocaust brauchte.
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- Seit fünf Jahren gibt es in der Tiergartenstraße 4 in Berlin-Mitte, am Ort der einstigen Schaltstelle des Verbrechens, den Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde.
Das späte Gedenken an die Euthanasie „hängt sicher auch damit zusammen, dass psychisch kranke Menschen in der Gesellschaft keinen leichten Stand haben“, sagt von Cranach. Der Psychiater hat viel zur Aufarbeitung der NS-Krankenmorde beigetragen. Gemeinsam mit anderen Sozialpsychiatern und Medizinhistorikern sorgte er in den 80er-Jahren dafür, dass die deutsche Psychiatrie sich der Vergangenheit stellt. Denn nach 1945 gab es keine Zäsur. Der Großteil des „Euthanasie“-Personals wurde unbehelligt von jedweder Bestrafung weiter in den Kliniken beschäftigt.
- Von Cranach erklärt, dass nicht nur zentrale Akteure, sondern auch die Narrative der NS-Psychiatrie noch lange unvermindert fortwirkten. Weit stärker als in den USA oder in England habe in den „Anstalten“ bis mindestens Ende der 70er-Jahre ein autoritärer und menschenverachtender Geist geherrscht.
- Aufgrund ihrer Verstrickung ins Verbrechen müsse die Institution der Psychiatrie ganz besonders für die Würde des Einzelnen einstehen. Und nicht nur die Behandlung, auch das Gedenken müsse auf den einzelnen Menschen zugeschnitten sein.
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Mein "Leitbild" vor 30 Jahren zu Beginn meiner Archiv- und Literaturforschungen und Aufarbeitungen war sicherlich getragen von den Leitsätzen und dem Wollen der "68er"-Generation insgesamt, in die ich hineingeboren wurde - und die diese Vorkommnisse in der Nazi-Zeit nicht mehr mit dem Mantel des Verschweigens zudecken wollte (Autoren: Ernst Klee, Götz Aly, Michael Wunder, Heinz Faulstich u.a.) - die die personale Mittäterschaft der Elterngeneration nicht länger infrage stellte.
Ich fand eine allmählich einsetzende - "formal-statistische" - "Sediment-Ablagerung" dieser rund 300.000 "Euthanasie"-Opfer vor - und dieses allgemeine - auch politisch-historisch und institutionelle Ablagern und Totschweigen all dieser Einzelopfer, für die sich zunächst kaum eine "Gedenk- und Erinnerungslobby" stark machte.
In diesen Zusammenhang passt ein nachdenkenswertes Zitat, das sowohl Stalin, Tucholsky aber auch Remarque zugeschrieben wird:
"Der Tod einer Person
ist eine Tragödie,
aber der Tod von 300.000
ist eine Statistik."
Also aus diesem statistisch zahlenmäßig abgehakten Ablagerungs- und Verdrängungs-Sediment will ich mit der Rekonstruktion und Nacherzählung des Leidensporträts meiner Tante Erna Kronshage eben e i n e n winzigkleinen Krumen herauspuhlen und ihm nachgehen - beispielhaft für die anderen 299.999 - von denen vielleicht bis heute insgesamt 400 - 500 Einzelbiografien bekannt und publiziert sind - also gut ein Promille.
ERNA KRONSHAGE - click here |
Es geht bei der Aufarbeitung all dieser Leidensporträts nicht um die unbotmäßige "Kultivierung eines deutschen Schuldkomplexes" (wie die Afd das inzwischen bezeichnet) - sondern immer noch um die notwendigen Freilegungen längst verdrängter Mordtaten an nicht stromlinienförmig zu integrierenden Menschen mitten aus Familie, Verwandtschaft oder Nachbarschaft, die man als "unnütze Esser" ablehnte und vernichtete, weil deren Leistungsfähigkeit nicht den Normen einer selbsternannten politisch-ideologisch extrem verqueren "Elite" entsprachen.
Und deshalb möchte ich auch den mir nachfolgenden Generationen zumindest virtuell den kurzen Lebensweg Erna Kronshages näherbringen als exemplarisches Beispiel dafür, mit wieviel (Mit-)Täterschaft und Verstrickungen letztlich so ein Mord vorsätzlich und doch auch hinter vorgehaltener Hand ganz stickum verübt wurde - nicht von einem Einzeltäter oder irgendwelchen Monstern, sondern kleinteilig fragmentiert - step by step - von einem verirrten Regime mit all seinen tumben Mitläufern, von Menschen wie du und ich: von Verwandten, Nachbarn, Beamten, Ärzten, NSV- und Ordensschwestern und Diakonissen, und dem Pflegepersonal in den Anstalten und Vernichtungskliniken unter Mitwirkung von Busfahrern, Lokomotivführern usw. - und all die Mitläufer und Gaffer, die es damals auch schon gab.
Und erschreckend beispielhaft zeigt diese Ermordung meiner Tante, wie rasch sich das alles - unter ganz anderen Prämissen - wiederholen kann, wenn "Verantwortung" und "Moral" und "Ehrfurcht vor dem Leben" geteilt, zergliedert und fragmentiert wird.
Also lese und sehe -
und erzähle es weiter ... -
damit aus diesen Nacherzählungen
Deine Nacherzählungen werden können...
Sicherlich gibt es dabei neuere Pack-Enden anzufassen, aber wir dürfen all diese Opferschaft nicht einfach zum Sediment herbsinken und versteinern lassen - sondern in fruchtbaren lebendigen Humus umwandeln ...
Da werden dann die unschuldigen Opfer oft im Nachhinein immer noch als ein sorgsam gehütetes "Familiengeheimnis" konsequent abgeschottet, eingeschweißt, abgelegt, abgeheftet und möglichst stickum vertuscht und verleugnet - wodurch jedoch diesen Opfern immer noch keine angemessene Würde und Pietät zugestanden wird ...
Die betroffenen Familien schweigen sich in der Regel aus, spalten ab, verdrängen und vergessen - oder wissen einfach inzwischen von nichts mehr ...
Ein weiteres - vielleicht verwandtes - Phänomen greift immer mehr Platz: Ein Phänomen, das die Psychoanalyse "Transgenerationale Weitergabe" von unverarbeiteten oder ungenügend verarbeiteten Kriegserlebnissen nennt.
Auch die Kinder und die Enkel und Urenkel - also ganz biblisch ausgedrückt: "bis ins 3. und 4. Glied" - "leiden" oft genug noch unbewusst an den oft furchtbaren Traumata-Erlebnissen, die der Bombenkrieg, die Vertreibung, der Nazi-Holocaust oder eben auch die von Nazis und der NS-Psychiatrie zu verantwortende Vernichtung "unwerten Lebens" mit all ihren Gräueltaten mit sich bringen ... Oft sind das Nuancen, ein unbewusstes Schaudern oder eine Unfähigkeit - Ängste, die bei besonderen Situationen plötzlich "wie aus dem Nichts" kommen, eigenartige Traumsequenzen usw. -
"Das Vergessen der Vernichtung
ist Teil
der Vernichtung selbst"
so hat es Harald Welzer in Anlehnung an Jean Baudrillard allerdings erst in unseren Tagen formuliert: Das Vergessen des Grauens ist also von den NS-Tätern, vom damaligen faschistischen System, implizit mitgedacht und haargenau mit geplant und einkalkuliert worden - war quasi Sinn der Vernichtungsaktionen: Vollständige und totale "Ausmerze" und konsequentes restloses "Niederführen" - diese faschistischen Unworte schließen ja eine endgültige "Tilgung" mit ein...
Vergangenes ist ja niemals tatsächlich Aus, Schluss und Vorbei: die Biografie der inzwischen 90-jährigen Schauspielerin Lieselotte Pulver heißt deshalb auch richtigerweise: "Was vergeht ist nicht verloren"... - sicherlich mit einem positiver gemeinten Ansinnen: Vergangenes bleibt und es ist - immer wenn wir es aufsuchen und damit kultivieren und integrieren in unser kollektives Bewusstsein...
Dem gewaltsamen Ableben meiner Tante Erna Kronshage im Februar 1944 werde ich Stück für Stück weiter nachspüren, soweit mir das je "bis zur Wahrheit" gelingen wird - noch "blinde Flecken" werde ich zeit- und forschungsgemäß aktualisieren... Und ich werde mich empören über das von ihr erlittene Unrecht.